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Kategorie: Rezensionen

Giovanni Arrighi: Adam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts. Hamburg 2008. 516 S.

Der am 18. Juni 2009 verstorbene Giovanni Arrighi hat ein Erbe hinterlassen, an dem weder die progressiven Wissenschaftler noch die Aktivisten der Bewegung für eine andere Welt vorbei kommen werden. Ausgehend vom weiten Zeithorizont des Weltsystemansatzes stellt er im vorliegenden, 2007 fertiggestellten Buch, dessen Hauptthese durch die seitherige Finanzkrise bestätigt worden ist, die Frage, wieso »Europas auf Außenhandel basierende Entwicklung und [die] überlegene Militärmacht, mit deren Hilfe Europäer sich mindestens drei Jahrhunderte lang den größten Teil der Gewinne aus der zunehmenden Integration der globalen Ökonomie aneignen konnten« (98), so lange andauern konnten.

Er will zeigen, »dass die Synergie zwischen Kapitalismus, Industrie und Militarismus, angetrieben durch innerstaatliche Konkurrenz, tatsächlich einen positiven Kreislauf der Bereicherung und Ermächtigung für die Völker europäischer Abstammung« – also auch der USA – und »einen entsprechenden Teufelskreis der Verarmung und Entmachtung für die meisten anderen Völker erzeugte« (123). Dieser lang währende Zustand ändert sich gerade. Der Versuch der USA, ihre privilegierte Stellung im kapitalistischen Weltsystem mit Waffengewalt abzusichern, scheiterte zunächst in Vietnam und dann erst recht bei dem Versuch, das Trauma dieser Niederlage durch den Irakkrieg zu überwinden.
Den Niedergang der USA ordnet Verf. in das Muster imperialer Zyklen des Weltkapitalismus ein. Verf. vermeidet dabei den Begriff »Finanzmarktkapitalismus«, der einen anderen Kapitalismus suggeriere, während die besondere Rolle der Finanzmärkte nur auf die Phase des hegemonialen Übergangs hindeute. Nach einer Phase der ›Finanzialisierung‹ (dem »Herbst« eines jeden historischen Akkumulationszyklus), in der das Kapital nach Ausweitung der Akkumulationsfelder strebt, bilde sich jeweils ein neues Zentrum der Weltökonomie heraus: nach Genua zunächst in den Niederlanden, und als das zu klein wird, im britischen Imperium. Nach dem Ersten Weltkrieg sei auch dieser ›Behälter‹ zu klein geworden, und das Zentrum der Akkumulation zu den USA gewandert, deren »Herbst« mit dem Aufblähen der Finanzmärkte und der gigantischen Verschuldung nach innen und außen inzwischen zutage trete. Mit dem Aufstieg der asiatischen Tiger und der nachholenden Entwicklung Chinas biete sich jetzt »den Völkern des Südens eine nie da gewesene Gelegenheit zum Erwerb sozialer und wirtschaftlicher Macht« (124). Wenn die Devisenpolster nicht mehr dem Norden zur Verfügung gestellt, sondern als »Instrumente der Emanzipation des Südens« eingesetzt würden, könne ein »neues Bandung« entstehen, das »den globalen Markt mobilisieren und als Instrument der Angleichung der Süd-Nord-Machtverhältnisse« wirken könnte (476).
In dieser neuen Imperialismustheorie bildet das Aufblähen der finanziellen Sektoren durch die Überakkumulation von Kapital, das die normalen Investitionsmöglichkeiten überschreitet, »eine immer wiederkehrende weltsystemische Tendenz« (291), wobei »sich Epochen der materiellen Expansion (G-W-Phase der Kapitalakkumulation) mit Phasen der finanziellen Expansion (W-G‘-Phasen) abwechseln [...]. Zusammengenommen machen die beiden Epochen das aus, was ich einen systemischen Zyklus der Akkumulation genannt habe (G-W-G‘).« (292)
Die »monetaristische Konterrevolution« der letzten 30 Jahre hatte das Ziel, die Stagnation der kapitalistischen Akkumulation zu überwinden. Indem sie zur »Wiederbelebung der Rentabilität auf Kosten der Arbeiterschaft beitrug, hat sie die Position der USA als finanzielle Clearingstelle der Welt gestärkt und damit eine wachsende Minderheit der us-amerikanischen Bevölkerung in die Lage versetzt, an der Aktivität von Gehirnen und Muskeln anderer Länder teilzuhaben, ohne ihre eigenen Gehirne und Muskeln anstrengen zu müssen« (220). Dieser Trend führte zur beispiellosen Auslandsverschuldung der USA und zum Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der us-amerikanischen Industrie. Der Versuch der Bush-Regierung, den Abstiegstrend durch die einzig verbliebene Trumpfkarte, die militärische Suprematie, im Irak zu stoppen und die »schwindende Hegemonie in eine ausbeuterische Dominanz zu zementieren« (210), scheiterte kläglich.
Die Einschätzung Chinas spielt eine zentrale Rolle für die Beurteilung der globalen Verschiebungen. Einerseits wird Chinas Rückkehr zur Marktwirtschaft als das Ergebnis des Scheiterns der Kulturrevolution interpretiert, ein Ergebnis, das zu extremer Ausbeutung und zu einem enormen Anstieg der Einkommensunterschiede führte. »Im Laufe der Zeit geriet die zunehmende Ungleichheit mit der revolutionären Tradition in Konfl ikt« (465). China hat auch noch keinen ökologisch nachhaltigen Entwicklungspfad erschlossen. Andererseits ist die chinesische Revolution selbst nicht gescheitert und unter der neuen Führung von Hu Jintao und Wen Jiaobao »kommt es anscheinend zu einer Umkehr« (457). Denn alle Reformen stehen im Dialog mit den fortschrittlichen Traditionen und den »außergewöhnlichen sozialen Errungenschaften der Mao-Ära« (458). Das mag auch der Grund sein für die vielfältigen, welthistorisch einmaligen massenhaften Protestaktionen und Streiks, die immerhin zur Einführung eines neuen Arbeitgesetzbuches und zur Umkehr des Ressourcenflusses vom Osten nach Westen, zur Wiederbelebung des Aufbau einer ›neuen sozialistischen Landwirtschaft‹ geführt haben. Verf. will »mit dem Mythos aufräumen, der chinesische Aufstieg sei einem angeblichen Festhalten am neoliberalen Credo zuzuschreiben« (438). Vielmehr ist es in seinem Verständnis das Ergebnis des Anknüpfens an die chinesische Tradition einer marktbasierten »Fleißrevolution«,  was zu einer »Akkumulation ohne Enteignung« geführt habe, in der auch die Wanderarbeiter – ähnlich wie im südlichen Afrika die Minenarbeiter – ihr Familiengrundstück zur Bewirtschaftung behalten haben und in Krisenzeiten darauf zurückgreifen können.
Man kann das Buch auch lesen als ein Plädoyer für die Aufrechterhaltung des Primats der Politik unter Benutzung des Marktes als Instrument der Politik. Der Markt habe sich in China nicht verselbständigt, er agiere unter dem politischen Primat der Gesellschaft. Ende der 1970er Jahre »waren die Voraussetzungen geschaffen für eine pragmatische Nutzung des Marktes als Instrument des Machterwerbs der KP Chinas auf nationaler und der VR China auf internationaler Ebene. Während über den Machterwerb der KPCh das letzte Wort noch nicht gesprochen ist – da noch nicht klar ist, ob ihr Einfl uss auf Staat und Gesellschaft gestärkt oder geschwächt worden ist –, steht bereits fest, dass die Wirtschaftsreformen für den Machterwerb der VRCh ein  durchschlagender Erfolg waren« (462).


Verf. unternimmt den Versuch, ›Marktsozialismus‹ als mit dem Marxismus kompatibles Konzept anzubieten. Seine in diesem Zusammenhang entwickelte Neubewertung der Theorien von Adam Smith verharmlosen jedoch die polarisierenden und Krisen erzeugenden Charakteristika der  Marktmechanismen. Dennoch erweitert das Buch den Horizont marxistischer Debatten. In der Auseinandersetzung mit Robert Brenner z.B. beklagt Verf. dessen ökonomistische Verengung auf die verarbeitende Industrie der Triade, wogegen er selbst vor allem die politische Ebene der Klassenkämpfe und Kriege zur Erklärung wiederkehrender »hegemonialer Übergänge« heranzieht. Das Anschwellen des finanziellen Sektors bezeichne das wiederkehrende Moment imperialer Übergänge. Kurzfristig führe es zwar zur Stabilisierung bestehender Ordnungen, langfristig würden diese jedoch durch wirtschaftliche (mangelnde Nachfrage), politische (Entstehung neuer Machtkonstellationen) und soziale Entwicklungen (Aufstände durch massive Umverteilung)  destabilisiert. Dann schlage die Stunde des subjektiven Faktors, in der die Karten der Weltgeschichte neu gemischt werden.
Peter Strotmann

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 844-846