Luisa Vogt: Regionalentwicklung peripherer Räume mit Tourismus? Eine akteurs- und handlungsorientierte Untersuchung am Beispiel des Trekkingprojekts Grande Traversata delle Alpi. (Erlanger Geographische Arbeiten Sonderb. 38) Erlangen 2008. 412 S.

Diese Publikation hat alles, was eine moderne geographische Arbeit heute bieten soll: Eingebunden in einen anspruchsvollen theoretischen Rahmen, präsentiert Luisa Vogt mit ihrer Erlanger Dissertationsschrift eine methodisch ambitionierte Fallstudienuntersuchung, die zu einem klassischen Thema der geographischen Regionalforschung höchst interessante Einsichten von hohem diskursiven Gehalt eröffnet. Der vergleichsweise nüchterne Titel der Veröffentlichung verrät davon zunächst noch nichts. Tatsächlich geht es der Verfasserin in ihrer Arbeit aber um nicht mehr und nicht weniger als um eine empirische Untersuchung zu der Frage, inwieweit sich der Tourismus als Leitökonomie benachteiligter ländlich-peripherer Räume, die über ein attraktives Landschaftsbild verfügen, eignet.

Diese wiederholt und häufig allzu naiv konstatierte Rolle des Tourismus wird anhand eines Beispiels thematisiert, über dessen aktuelle Bekanntheit in Kreisen der deutschsprachigen Geographie nur gemutmaßt werden kann. Vertraut wird die Grande Traversata delle Alpi (kurz GTA), ein Tourismusprojekt in den pietmontesischen Alpen, mit einiger Sicherheit der Leserschaft von Werner Bätzing sein, der darüber vielfach publiziert hat; gleichwohl ist der mehrere hundert Kilometer lange Trekkingweg auch darüber hinaus wiederholt als Beispiel für einen endogenen Entwicklungsansatz bemüht worden, auf dessen Grundlage Chancen für die Entwicklung einer peripheren Bergregion erwartet wurden. Der Höhepunkt der Debatte um diese Frage liegt jedoch bereits einige Zeit zurück. Es ist das Verdienst der Verfasserin, den Fall noch einmal aufs Neue zu bemühen, um Klarheit hinsichtlich der erhofften oder unterstellten Wirkungen dieses und anderer sanfter Tourismusprojekte für die Regionalentwicklung im Alpenraum (und darüber hinaus) zu gewinnen.
Die von Luisa Vogt entwickelte Argumentationslinie ist ebenso einfach wie anspruchsvoll: Unter dem Vorzeichen einer fortschreitenden Wachstums- und Innovationsorientierung sind strukturschwache ländlich-periphere Räume mehr noch als zuvor darauf angewiesen, sich auf der Basis ihrer eigenen, d.h. endogenen Ressourcen zu entwickeln. Gerade für einen Großteil der alpinen Peripherien stellt sich die Frage, inwieweit der Tourismus diese Rolle tatsächlich übernehmen kann. Globale Konkurrenz, größere Reiseerfahrungen und gewachsene Ansprüche der Urlauber, aber auch veränderte Anforderungen an ein modernes Destinationsmanagement markieren dabei wesentliche Rahmenbedingungen, unter denen sich touristische Entwicklungen heute vollziehen. Hinzu treten die speziellen Marktstrukturen des Wander- und Trekkingtourismus, der eines von mehreren Segmenten des alpinen Sommertourismus darstellt. Inwieweit angesichts dessen ein Tourismusprojekt wie das der GTA die Ansprüche einer Leitökonomie für die Peripherie erfüllen kann und welche Faktoren die Wettbewerbsfähigkeit eines solchen Projektes dabei bestimmen, sind die zentralen Fragestellungen der vorliegenden Arbeit.
Vor diesem knapp skizzierten Problemhintergrund rückt die Verfasserin in besonderer Weise die lokal-regionalen Akteure und deren Handlungsweisen in den Fokus ihrer Betrachtung. Die gewählte Forschungsheuristik orientiert sich dabei am analytischen Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus nach Mayntz und Scharpf, der politische Prozesse über die Interaktionen von Akteuren mit spezifischen Handlungsfähigkeiten und Handlungsorientierungen aufzudecken versucht. Kaum zu übersehen ist die wachsende Konjunktur, die die Adaption dieses akteur- und handlungsorientierten Untersuchungsansatzes aus den Politikwissenschaften während der letzten Jahre in der Humangeographie erfahren hat. Im Gegensatz dazu sind Beispiele gelungener empirischer Untersuchungen, die sich explizit auf diesen Ansatz stützen, nach wie vor vergleichsweise rar. Dies umso mehr für Beispiele ländlicher Räume oder speziell der Peripherie. Mittels mehr als 100 Leitfadeninterviews mit Experten, GTA-Gastwirten und GTA-Urlaubern
sowie einer strukturierten schriftlichen Befragung von rund 300 GTA-Trekkingtouristen hat Luisa Vogt für den ausgewählten südlichen Teil der Trekkingroute die Akteurskonstellationen und Handlungslogiken aller – potenziell – involvierten Akteure in Bezug auf mögliche Wettbewerbsfaktoren der GTA herausgearbeitet, um auf dieser Datenbasis die heutige „Funktionsweise" der GTA zu erschließen und zu erklären. Für die GTA wird dabei insbesondere eine auffällige Absenz relevanter exogener tourismusstrategischer Akteure auf der regionalen Ebene konstatiert, die für den Aufbau eines professionellen Destinationsmanagements fehlen. Als ebenso problematisch erweisen sich die gegenläufigen Handlungspräferenzen der beteiligten Akteure vor Ort, den touristischen Anbietern in Form von Klein- und Kleinst-Gastwirten entlang der Trekkingroute. Diese verfügen über ausgesprochen unterschiedliche individuelle Handlungsressourcen, begegnen dem Projekt der GTA aber auch mit sehr unterschiedlichen Handlungspräferenzen, die sich nach dem Grad der Marktorientierung, vor allem dem Grad des strategischen Denkens, aber auch der Qualität der angebotenen Leistungen und dem Grad des Interesses an der GTA unterscheiden lassen. Ähnliche Unterschiede kann Luisa Vogt auch für die Nachfrageseite konstatieren. Die GTA ist danach Urlaubsziel unterschiedliche Gästetypen, die sich nach ihren Hauptinteressen in Form konsumierter Produkte und Leistungen sowie der Zufriedenheit unterscheiden lassen. Diese ist bei allen Gästegruppen gleichermaßen stark ausgeprägt, was die offensichtliche touristische Attraktivität der GTA für diese Besucher unterstreicht.
Die umfangreichen Untersuchungen zur „Akteurslandschaft" der GTA werden ergänzt durch empirische Untersuchungen zum regionalökonomischen Beitrag der Trekkingroute selbst. Unterschieden werden können hierbei tangible und intangible Effekte. Erstere sind für die einzelnen Betriebe durchaus wichtig, auf einer regionalen Ebene sind sie jedoch irrelevant, was sich allein aus der geringen Zahl von dokumentierten Übernachtungen in den Unterkünften entlang der GTA erklärt. Darüber hinaus wären aber auch intangible Effekte vorstellbar, insbesondere die Imagewirkung der GTA und ihre Rolle für die Identifikation von Anbietern wie Nachfragern. Unbestritten ist die Katalysatorfunktion der GTA, ohne die in den pietmontesischen Alpen vermutlich überhaupt kein Trekkingtourismus entstanden wäre. In Summe präsentiert die vorliegende Arbeit ein ausgesprochen ambivalentes Bild. Wie der Status quo der GTA deutlich werden lässt, so Luisa Vogt, können endogene touristische Potenziale für ländlich-periphere Regionen nur dann erfolgreich in Wert gesetzt werden, wenn exogene Akteure mit ausreichenden Handlungsressourcen und entsprechenden Handlungspräferenzen Steuerungsaufgaben übernehmen. Die Verfasserin verweist hierzu konkret auf die Provinzregierung sowie die regionale Tourismusagentur, deren bisheriges Verhältnis zur GTA sie als ausgesprochen distanziert charakterisiert. Ohne die Hilfestellung solcher wichtigen Institutionen werden regionale Entwicklungsprojekte im Mikromaßstab, wie sie die GTA bis dato
repräsentiert, jedoch keinen langfristigen Beitrag zur Regionalentwicklung leisten können. Dies aber, so resümiert die Verfasserin zutreffender Weise, ist letztlich eine politische Frage. Auch wenn dies womöglich schon vielfach zuvor vermutet wurde, erst mit der vorliegenden Arbeit von LUISA VOGT ist nunmehr auch empirisch belegt, wie schwach sich ein so ambitioniertes Tourismusprojekt wie die GTA nach wie vor ausnimmt. Die Ernüchterung darüber (die die Verfasserin in ihrer freundlichen Zugewandtheit vermieden hat, allzu drastisch zu pointieren) hat zwei Dimensionen: Mit den Ergebnissen ihrer Studie relativiert Luisa Vogt nicht nur die Bedeutung der GTA für die Bemühungen zur Stabilisierung der strukturschwachen alpinen Peripherie im Pietmont, sie wirft damit zugleich auch ein nicht miss zu verstehendes Schlaglicht auf die allgemeine Debatte um die Rolle des Tourismus für die Zukunftsperspektiven ländlicher Peripherien. Für diese erweist sich, so zeigt die Arbeit, ein akteur- und handlungorientierter Forschungsansatz als besonders bereichernd. Ohne den materiellen und zeitlichen Aufwand, der sich mit der vorliegenden Arbeit zweifellos verbindet, übersehen zu wollen, liest sich diese auch als ein Programm für weitere Untersuchungen nach ihrem Vorbild. Sie könnten vergleichende Fallstudien im Alpenraum, aber auch in den europäischen Peripherien insgesamt zum Ziel haben. Voraussetzung dafür wäre allerdings ein theoretisch-methodisches Forschungsdesign, das so konsistent angelegt ist wie das der vorliegenden Arbeit. Und es bräuchte weitere Forscherinnen und Forscher, die so belesen und reflektiert sind und derart systematisch wie sensibel mit ihrem Forschungsgegenstand umzugehen vermögen wie Luisa Vogt.
Ein, wenn auch kleines Defizit vermag der kritische Leser nicht zu übersehen. Mit 412 Seiten hat die vorliegende Dissertationsschrift einen Umfang, der manchem als echte Herausforderung erscheinen wird. Der eiligen Leserschaft kann das Buch somit nur bedingt empfohlen werden. Jedoch stimmen inhaltliche und sprachliche Qualität der Arbeit in so hohem Maße überein, dass ich das Buch ausgesprochen gerne und bis zu Ende ohne jeglichen Motivationsverlust gelesen habe. Für mich besteht danach kein Zweifel: Die vorliegende Arbeit hat Tiefgang, sie eröffnet neue Perspektiven der Diskussion, sie setzt Maßstäbe für die zukünftige Forschung.
Ingo Mose

Quelle: Erdkunde, 64. Jahrgang, 2010, Heft 1, S. 89-91