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Kategorie: Rezensionen

Ilan Kapoor: The Postcolonial Politics of Development. Oxon 2008. 183 S.

Kolonialismus ist ein gegenwärtiges Problem, auch wenn es nur noch wenige faktisch kolonisierte Gebiete gibt. Dies ist eine der Grundannahmen der Postcolonial Studies. So gehen entsprechende Forschungen beispielsweise den Auswirkungen des Kolonialismus (als historischer Phase) auf Ökonomie, Politik und Kultur in den heutigen Gesellschaften in Süd und Nord nach. Die von antikolonialen Bewegungen und poststrukturalistischer sowie marxistischer Theorie beeinflussten Debatten um Postkolonialismus fanden in den 1980er und 1990er Jahren vornehmlich in der Literatur- und Geschichtswissenschaft statt. In letzter Zeit gibt es vermehrt Versuche, die Potenziale postkolonialer Herangehensweisen für andere akademische und gesellschaftliche Bereiche auszuloten.

Ilan Kapoor, der an der Faculty of Environmental Studies der kanadischen York University lehrt und für mehrere Organisationen der internationalen Entwicklungspolitik tätig war, behandelt im vorliegenden Buch zentrale Fragen von Entwicklung und Entwicklungspolitik und wendet sich damit einem grundsätzlich zukunftsgerichteten Politikfeld zu, in dem selten Fragen des kolonialen Erbes diskutiert werden. Es ist der erste Band der neuen Routledge-Reihe „Postcolonial Politics“. Er enthält in acht Kapiteln eine Zusammenstellung von fünf bereits erschienenen und drei neu verfassten Aufsätzen.

Im ersten Kapitel bringt Kapoor die oftmals in der Versenkung verschwundenen Arbeiten der Dependenz-Schule in Dialog mit den postkolonialen Studien von Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi Bhabha. Er zeigt sowohl Gemeinsamkeiten und Unterschiede als auch die Stärken und Schwächen beider Theoriestränge auf. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, postkoloniale Theorie könne die Dependenz-Schule dahingehend modifi zieren, dass letztere der Instabilität von Machtverhältnissen (und damit der Möglichkeit, innerhalb unterdrückender Diskurse und Strukturen zu handeln) und der Problematik eurozentrischer und teleologischer Repräsentation des globalen Südens mehr Bedeutung zumisst. Postkoloniale Studien hingegen müssen nach Kapoor die zentrale Rolle kapitalistischer Globalisierung und die faktische Existenz materieller Bedürfnisse im globalen Süden ernster nehmen.

Zentrale entwicklungspolitische Paradigmen der letzten Jahrzehnte sind das Thema des zweiten Kapitels. Der Autor untersucht sie daraufhin, wie sie Hierarchien produzieren und  institutionelle Macht ausweiten. In den beiden folgenden Kapiteln zeigt Kapoor, wie
akademische und entwicklungspolitische Eliten sich in ihrer Arbeit dadurch der Komplizenschaft mit hegemonialen Interessen schuldig machen, dass sie vorgeben, altruistische und wohlwollende Motive zu haben (49f). Mit Spivak plädiert er dabei in Kapitel drei für eine „hyper-self-reflexivity“ der im globalen Süden Forschenden und Intervenierenden – nicht im Sinne einer Nabelschau, sondern „um den Weg frei zu machen für eine ethische Beziehung mit dem Anderen“ (57). Dabei weist Kapoor jedoch daraufhin, dass es nicht offensichtlich sei, wie dieses mühsame dialogische Unterfangen auf makropolitische Zusammenhänge übertragen werden könne (58). Das vierte Kapitel bringt eine Kritik von entwicklungspolitischen Partizipations-Ansätzen. Die Ambivalenzen der Vergabe von
Entwicklungshilfegeldern sowie deren Bedeutung für die Konstruktion von Herrschaftsbeziehungen zwischen Süden und Norden betrachtet er in Kapitel fünf.

Im Anschluss (Kapitel sechs) stellt Kapoor Jürgen Habermas’ und Chantal Mouffes demokratietheoretische Positionen gegenüber und überprüft deren Relevanz für Politik im globalen Süden. Er kommt zu dem Ergebnis, sie ergänzten sich in dem Sinne, dass in Mouffes „agonistischem Pluralismus“ unterschiedliche Forderungen koexistieren könnten und somit Differenz respektiert werde, während in Habermas’ „deliberativer Demokratie“ kommunikative Mechanismen bereit gestellt würden, mit denen der Wert und die Legitimität differierender Aussagen bestimmt werden könnten. Eine postkoloniale Perspektive zeige aber auf, dass in beiden Ansätzen die Permanenz asymmetrischer Machtbeziehungen zwischen Eliten und Marginalisierten und dem Norden und Süden unterschätzt werde, in denen die Subalternen nur gehört werden könnten, wenn auf der mächtigen Seite Bereitschaft dafür bestehe.

Der Frage, wie innerhalb von anscheinend übermächtigen Diskursen und politisch-ökonomischen Strukturen Handlungsfähigkeit (agency) von Marginalisierten möglich ist, widmet sich der Autor in den beiden abschließenden Kapiteln. Homi Bhabha zeige auf, dass koloniale und postkoloniale Herrschaft fragmentiert und unsicher seien, so dass Marginalisierte immer Einfl uss ausüben könnten – jedoch nicht als autonome Subjekte, sondern immer im Rahmen hegemonialer Strukturen. Im abschließenden Kapitel „Bend it like Bhabha“ biegt Kapoor an Bhabhas Ideen herum: Aus der Möglichkeit von spontaner, unbewusster subversiver „Hybridität“ (dem Offenlegen der Unstetigkeit und Unvollkommenheit kolonialer Macht) und von „Drittem Raum“ (einer kreativen, nicht greifbaren Positionierung Marginalisierter im Feld kolonialer Macht, die kleine Spielräume ausnutzt und widersprüchliche Stoßrichtungen hegemonialer Macht gegeneinander ausspielt) werden so strategische Handlungsoptionen, in denen AkteurInnen
im Wissen um deren Wirkmächtigkeit bewusst Hybridisierungsstrategien zum Erreichen ihrer Ziele einsetzen können. Diese Strategien illustriert Kapoor u.a. an den spektakulären Aktivitäten ökologisch-sozialer Bewegungen in Indien. Das Problem an dieser bewussten Nutzung von Hybridisierungsstrategien ist in seinen Augen, dass ihr Ausgang immer ungewiss ist und auch nichtemanzipatorische Kräfte auf sie zurückgreifen können (144).

Mit seinem Buch verdeutlicht der Verfasser, wie konsequent vermeintlich altruistische Politik auf ihre Motivationen und ihre Verstrickung in Aufrechterhaltung von Privilegien und Herrschaft hinterfragt werden muss. Gleichzeitig kann er die Stärken und Schwächen literaturwissenschaftlich geprägter postkolonialer Theorie herausarbeiten, indem er sie mit Politik konfrontiert: Sie ist einerseits mit ihrem Fokus auf Fragen von Repräsentation, In- und Exklusion und Handlungsfähigkeit höchst machtsensibel und herrschaftskritisch; andererseits sind ihre Handlungsvorschläge schwer auf die Makroebene nationaler und transnationaler Politik zu übertragen. Kapoor nutzt die Erkenntnis dieser Vorteile und Defizite, indem er es immer wieder unternimmt, praktische Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen, um im gleichen Atemzug die eigene Motivation und Verwicklung in  Herrschaftszusammenhängen zu beleuchten. Wie Michel Foucault ist er nicht der Ansicht, dass alles schlecht, sondern vielmehr, dass alles gefährlich sei – was nicht zu Passivität, sondern vielmehr zu einem pessimistischen Aktivismus führen müsse (72f).

Einigen Beiträgen merkt man an, dass sie nicht ursprünglich für das Buch geschrieben, sondern lediglich in diesem zusammengefasst wurden. So ist auch kein roter Faden zu identifizieren: Kapoor verbleibt bei einer Auslotung der Potenziale postkolonialer Perspektiven auf Entwicklungspolitik. Zwar gelingt es ihm, materielle und diskursive Herrschaftsdimensionen von Süd-Nord-Beziehungen und Entwicklungspolitik zusammenzudenken, er kann dies aber nicht tiefergehend ausführen und muss es bei einem Appell für die Integration dieser Aspekte belassen. Dafür liefert dieses Buch aber eine Fülle von Anregungen für zukünftige empirische Arbeiten, die spezifische Bereiche der Entwicklungspolitik mithilfe einer postkolonialen Perspektive analysieren. Zuletzt sei noch angemerkt, dass Kapoors sprachliche Versiertheit das Lesen des Buches zu einer Freude machen, auch weil er es zuweilen etwas derber mag: „They [die sozialen Bewegungen,DB] show power to be, literally and fi guratively, a bastard.“ (139)
Daniel Bendix

Quelle: Peripherie, 30. Jahrgang, 2010, Heft 120, S. 503-505

 

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