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Kategorie: Rezensionen

Harriet Bradley: Gender. Cambridge 2007. 224 S.

Die Monographie „Gender" ist in der Reihe "key concepts" erschienen und wird ihrer Aufgabe, einen Überblick über die sozialwissenschaftliche Relevanz der Kategorie Geschlecht und einen Einblick in die Geschlechterforschung zu vermitteln, in sehr überzeugender Weise gerecht. Im Fokus des Buches steht die Auseinandersetzung mit der Differenzkategorie Geschlecht als zentraler Strukturdimension moderner Gesellschaften. Der Titel verweist auf einen Geschlechterbegriff, der im deutschen mit „soziales Geschlecht" übersetzt wird und die Unterscheidung zum biologischen Geschlecht kennzeichnet. Ausgangspunkt des Buches ist die Feststellung, dass Geschlecht nicht als fixiert zu verstehen ist, sondern als etwas, das sich in Bezug auf Zeit, Ort und Kultur verändert und damit immer gleichzeitig ein materielles wie kulturelles Phänomen ist.

    Diese Feststellung hat weitreichende Folgen für sozialwissenschaftliche Fragestellungen, empirisches Vorgehen oder die Auswertung geschlechtsbezogener statistischer Daten. „Geschlecht" ist eine oft verwendete Variable der Sozialanalyse, die in der wissenschaftlichen Praxis kaum hinsichtlich ihrer Bedeutung hinterfragt wird. Das soziale Geschlecht bekommt jedoch erst eine Bedeutung, wenn Aussagen zum Verhältnis zwischen unterschiedlich definierten Geschlechtern und deren weiteren Beziehungen gemacht werden. Bradley bezeichnet Gender als „schlüpfrigen" Begriff (S. 1), da an ihn so vielfältige Bedeutungen geknüpft sind, die allzu oft in der sozialwissenschaftlichen (und auch geographischen) Analyse nicht explizit gemacht werden.
    Das Buch ist gegliedert in sechs Abschnitte. Im ersten Teil fasst die Autorin die feministische Theoriebildung seit 1960 zusammen, beginnend mit Unterdrückungstheorien, Patriarchatsforschung über Differenz- und Gleichheitstheorien bis zur Poststrukturalismusdebatte und arbeitet dominierende Alltags- und wissenschaftliche Deutungen des Begriffs „Geschlecht" heraus. Danach widmet sie zwei Kapitel dem Stellenwert des sozialen Geschlechts als einer zentralen Differenzkategorie der Moderne und als Identitätskategorie der Postmoderne. Die folgenden drei Kapitel stellen den zentralen Teil des Buches dar. Sie konzentrieren sich auf die gesellschaftsordnende Funktion des sozialen Geschlechts für die Handlungsfelder Produktion, Reproduktion, Freizeit und Konsum und verfolgen die Frage, welchen Stellenwert Geschlechterverhältnisse zur Strukturierung von Arbeit, Familie, Freizeit haben. Das Buch schließt mit einem Kapitel zu politischen und wissenschaftlichen Implikationen der beschriebenen
geschlechtlichen Strukturierungstechniken und der Nutzbarkeit der Machtbegriffe von Foucault, Bourdieu und Giddens für eine Geschlechteranalyse. Es ist ergänzt durch einen nützlichen Index.

    Die Autorin plädiert dafür, Geschlecht in einem politischen Kontext zu betrachten, da Geschlechterverhältnisse immer auch Machtverhältnisse darstellen. Diese Macht kann repressiv oder befähigend sein. Sie beschreibt Geschlecht als verschränkt mit anderen sozialen Kategorien wie z. B. Klasse. Kapitalistische Wirtschaftsstrukturen sind daher immer als verwoben mit einer patriarchalen Gesellschaftsordnung zu begreifen. Dieser Blick auf verschränkte Gesellschaftsmodelle und deren Strukturkategorien schafft Erklärungsansätze für eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Bereich der Produktion und Reproduktion, für eine ungleiche Bezahlung für gleiche Arbeit sowie geschlechtsspezifische Aktionsräume. Bradley leistet hiermit eine exzellente Analyse der Praxis sozialer Ordnung auf der Mikro-, Meso- und Makroebene.

    Als Alltagspraktiken der Stabilisierung der Geschlechterordnung benennt Bradley soziale Kontrolle, männliche Autorität, Hausarbeit, Druck der Mutterschaft, Angst vor sexueller Gewalt, Kleidercodes, Homosozialität am Arbeitsplatz und beschränkten Zugang zum öffentlichen Raum, die die Mehrheit der Frauen als Erfahrungen teilen, egal welcher Klasse, Kultur, Religion, Nationalität sie angehören. Geschlechterforschung aus sozialkonstruktivistischer Perspektive ist keine Frauenforschung, die sich auf die Unterdrückungsstrukturen gegenüber Frauen konzentriert, sondern sich vielmehr für gesellschaftsstrukturierende Geschlechterverhältnisse sowie dominierende und marginalisierte Formen von Weiblichkeit und Männlichkeit interessiert (S. 56).
    Geschlecht ist sozialer Prozess und gelebte Erfahrung. Dies markiert Bradley auch durch ihren Schreibstil. Jedes Kapitel teilt sich in einen „wissenschaftlichen" Abschnitt der Forschungsreflexion und einen „persönlichen" Abschnitt der Erfahrungsreflexion. Damit verweist die Autorin auf den feministischen Anspruch, dass persönliche Erfahrungen und Handlungsweisen als politisch relevant zu verstehen sind und macht gleichzeitig den Standpunkt ihrer Argumentation nachvollziehbar. Mit den aufgeführten Beispielen zentraler Dilemmata von Geschlechterhierarchien schafft sie außerdem eine Praxisreferenz der wissenschaftstheoretischen Geschlechterdebatte und reflektiert den Erklärungswert einer sozialkonstruktivistischen Perspektive auf Geschlechter, Sexualitäten, Identitäten, Körper in der Alltagspraxis.

    Bradley bezeichnet sich selbst als soziale Realistin (S. 4) und hält radikal poststrukturalistische Ansätze für wenig konstruktiv für eine Gesellschaftsanalyse und die geschlechterpolitische Praxis (S. 73). Entsprechend dieser Positionierung fällt die Referenz und Abgrenzung zu den queer studies recht kurz aus. Welchen Standpunkt die Autorin hingegen nicht explizit macht, ist ihr kultureller Fokus. Wenn es um die Praktiken der Gesellschaftsordnung geht, meint die Autorin eine patriarchal-kapitalistische Gesellschaftsordnung. Beispiele für Geschlechterverhältnisse in Entwicklungsländern dienen ihr lediglich als Referenz, wenn die Bedeutung kulturell-religiös verankerter Geschlechternormen hervorgehoben werden soll. Dieser Fokus deckt sich mit einer fast ausschließlichen Rezeption der anglo-amerikanischen Geschlechterforschung.

    Dennoch ein positives Fazit: „key concept gender" ist sehr gut einsetzbar für die Lehre der Sozial- und Wirtschaftsgeographie, da es die Grundlagen zur geschlechtlichen Arbeitsteilung, Reproduktionsstrukturen, Freizeit- und Konsummuster verständlich und fundiert aufbereitet und in einer leicht verständlichen englischen Sprache darstellt. Es ist eine ideale Ergänzung für die beiden jüngst erschienen deutschsprachigen Lehr- und Arbeitsbücher zur geographischen Geschlechterforschung (Wastl-Walter 2010, Bauriedl/Schier/Strüver 2010) und damit auch ein wichtiger Beitrag zur notwendigen Reflexion der Kategorie Geschlecht in der Geographie.

Literatur
Bauriedl, S., Schier, M. und Strüver, A. (Hrsg.) (2010): Geschlechterverhältnisse, Raumstrukturen, Ortsbeziehungen: Erkundungen von Vielfalt und Differenz im spatial turn. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot.
Wastl-Walter, D. (2010): Gender Geographien. Geschlecht und Raum als soziale Konstruktionen. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.

Sybille Bauriedl

Geographische Zeitschrift, 98. Jg., 2010,  Heft 4, S. 237-238

 

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