Wilfried Heller: Gesellschaftliche Entwicklungen im ländlichen Raum Südosteuropas – Erkenntnisse einer Aufsatzsammlung


Anton Sterbling: Entwicklungsverläufe, Lebenswelten und Migrationsprozesse. Studien zu ländlichen Fragen Südosteuropas. Aachen 2010 (= Buchreihe Land-Berichte. Institut für regionale Forschung e.V., Band 5). 213 S.


Das Buch enthält elf Aufsätze des Autors, die innerhalb des Zeitraumes von 2003 bis 2010 erschienen sind, neun davon in der Zeitschrift ‚Land-Berichte. Sozialwissenschaftliches Journal'. Die Aufsätze sind entsprechend den im Titel des Sammelbandes genannten Begriffen nach drei Teilen gegliedert. Während der erste und der dritte Teil mit jeweils drei Beiträgen auf den ländlichen Raum Südosteuropas mit dem Schwerpunkt Rumänien bezogen sind, ist der zweite Teil, der fünf Beiträge umfasst, besonders dem Banat und der deutschen Bevölkerungsgruppe dieser Region, den Banater Schwaben, gewidmet. Alle Beiträge sind mit umfangreichen Literaturhinweisen ausgestattet.


Entwicklungsverläufe in Südosteuropa

Mit den Beiträgen des ersten Teils werden unterschiedliche Aspekte der Entwicklungen in Südosteuropa aufgegriffen. Im ersten Beitrag (zum ersten Mal 2010 erschienen) geht es um sozialmoralische Wertvorstellungen, Verhaltensweisen und Sozialstrukturen südosteuropäischer Gesellschaften. Dabei werden deren partikularistische Orientierungen (im Sinne von Talcott Parsons) herausgearbeitet, die typisch für traditionelle Gesellschaften sind. Im Unterschied zu diesen herrschen in modernen Gesellschaften eher universalistische Normen vor, wie z.B. Chancengleichheit. Wie das Adjektiv ‚partikularistisch' ausdrückt, gelten Orientierungen dieser Art nur für Teile oder Segmente der Bevölkerung oder erscheinen nur für diese als verbindlich. Vielleicht noch wichtiger für eine partikularistische Sichtweise ist, dass Normen und Sanktionen nicht auf alle gleich, sondern nach den verschiedenen Teilen der Bevölkerung unterschiedlich angewendet werden. In diesem Fall wird die Bevölkerung nach „Eigenen" und „Anderen" bzw. nach zur „Wir-Gruppe" gehörenden und „Fremden" differenziert. Bereits dieser Beitrag zeichnet sich durch ein klar systematisches, theoriegeleitetes Vorgehen aus, das für den Autor charakteristisch ist. Denn es werden von ihm auf der Basis grundlegender thematisch einschlägiger Literatur politische, soziale und kulturelle Merkmale sowohl moderner als auch traditioneller Gesellschaften allgemein dargestellt und danach wird von ihm sein besonderer Untersuchungsgegenstand studiert. Auf diese Weise werden die partikularistischen Normen und Weltanschauungen, die traditionelle Gesellschaften kennzeichnen, gut verständlich gemacht. Partikularismus kann sich in vielen Formen artikulieren, z.B. als familiärer, ethnischer, regionaler, landsmannschaftlicher oder religiöser Partikularismus. Der Autor zeigt außerdem, wie in Südosteuropa die partikularistischen Phänomene mit politischen und sozialstrukturellen Merkmalen zusammenhängen. Insgesamt könne in den gegenwärtigen südosteuropäischen Gesellschaften eine Mischung traditioneller und moderner Elemente festgestellt werden. Auf eines der Merkmale geht der Autor besonders ein, nämlich auf das „öffentliche Misstrauen" (unter Bezugnahme auf Christian Giordano). Im ländlichen Raum Südosteuropas herrsche weder ein allgemeines, unpersönliches Vertrauen in andere Menschen, noch – und dies sei für moderne Gesellschaften typisch – ein Vertrauen in öffentliche Einrichtungen, sondern soziales Vertrauen sei vorwiegend an persönliche Beziehungen gebunden. Die historischen Ursachen dafür werden vom Autor überzeugend dargestellt. Zu diesen Ursachen seien auch die Verhältnisse und Entwicklungen der Zeit der kommunistischen Herrschaft trotz ökonomischer Modernisierungen zu rechnen, da in dieser Zeit der Zugang der Bevölkerung zur höheren Bildung und ihr Aufstieg im Beschäftigungssystem im Allgemeinen an ideologische Konformität und persönliche Loyalität gebunden gewesen sei. Die politische Wende habe leider insoweit keinen umfassenden Wandel in Südosteuropa bewirkt, als die alten Eliten der sozialistischen Zeit in der Regel auch die neuen Eliten seien. Insgesamt lehrt dieser Beitrag, dass die in den südosteuropäischen Gesellschaften weiter bestehenden traditionellen Handlungsorientierungen den Schlüssel zum Verständnis der Modernisierungsprobleme Südosteuropas bilden.

Der zweite Aufsatz (zuerst 2003 publiziert) befasst sich mit den Agrarreformen der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, mit der Agrarpolitik zur Zeit des Sozialismus sowie mit den Reprivatisierungs- und Restitutionsprozessen in der Landwirtschaft, die nach der sozialistischen Zeit abliefen. Der Aufsatz ist auf Rumänien konzentriert. Andere südosteuropäische Beispiele werden punktuell zum Vergleich hinzugezogen. Die genannten Reformen und Prozesse werden untersucht im Hinblick auf  erstens die politischen Absichten, die ihnen zugrunde lagen, und zweitens ihre sozialen Folgen, die von den Herrschenden bei ihren Entscheidungen nicht beabsichtigt worden seien. Auch in diesem Beitrag zeigt sich eine mustergültige theoriegeleitete Vorgehensweise des
Autors, da er seinen konkreten Untersuchungsgegenstand in grundsätzliche soziologische Überlegungen zu paradoxen Effekten des sozialen Handelns bzw. politischer Entscheidungen einbettet. Nach dem Ersten Weltkrieg – so beschreibt der Autor – sei die Lösung der Bodenfrage eine sehr wichtige Aufgabe gewesen, weil die Gesellschaften Südosteuropas sozialstrukturell Agrargesellschaften waren. Als Fazit wird vom Autor bezüglich Rumänien festgestellt, dass die dortige Agrar- und Bodenreformpolitik nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur die intendierten Ziele einer umfassenden agrarwirtschaftlichen Modernisierungspolitik, sondern auch die vorgesehenen sozialpolitischen und paradoxerweise sogar auch die nationalistischen Anliegen verfehlt habe. Auch die Agrarpolitik in der Zeit des Sozialismus habe unbeabsichtigte Ergebnisse erzeugt, und zwar insoweit, als die durch diese Politik benachteiligten Angehörigen der deutschen Minderheit sich gezwungenermaßen um Bildung und beruflichen Aufstieg in außerlandwirtschaftlichen Bereichen besonders stark bemüht und sich dadurch mehr als der Bevölkerungsdurchschnitt modernisiert hätten. Nach dem politischen Systemwechsel seien durch die Politik wiederum Ungerechtigkeiten erzeugt worden, die zu Belastungen der interethnischen Beziehungen geführt hätten. Die Ausführungen des Autors über die sozialistische Zeit und den Zeitraum seit der politischen Wende sind vergleichsweise knapp geraten. Ausnahmsweise hätte man sich hier als Leser eine weitergehende Beschäftigung – auch unter Berücksichtigung zusätzlicher Literatur – gewünscht.

Der dritte Aufsatz (2005) behandelt die Merkmale des Zeitverständnisses und des Zeitgefühls, die für viele Menschen auf dem Balkan charakteristisch seien. Damit macht der Autor auf ein bisher allgemein vernachlässigtes Thema aufmerksam, das insofern wichtige Erkenntnisse liefert, als aus dem Studium des Umgangs der Bevölkerung mit der Zeit viel über die gesellschaftliche Situation gelernt werden kann. Auch in diesem Beitrag ist das Vorgehen des Autors von einer klaren Systematik bestimmt: Er behandelt zunächst die Determinanten der Zeitvorstellungen und der Umgangsformen der Menschen mit der Zeit auf grundsätzliche Weise. Danach geht er auf die Veränderungen dieser Vorstellungen und Umgangsformen seit dem 18. Jahrhundert ein. Unter den Bedingungen der Transformations- und Modernisierungsprozesse zeige sich heute in Südosteuropa ein disparates und widersprüchliches Bild, das durch Spannungen zwischen Tradition und Moderne gekennzeichnet sei. Demnach würden also gleichsam verschiedene Zeiten gleichzeitig existieren. Dieser Befund spricht für die komplizierte Umbruchsituation, zu deren Verständnis der Autor einen sehr spannenden Beitrag leistet, der zu weiteren Arbeiten über diese Thematik auch in ganz anderen räumlichen Kontexten anregt.


Das Banat und die Banater Schwaben

Im ersten Aufsatz des zweiten Teils des Buches (2004) wird das Banat als ein Raum vorgestellt, in dem sich verschiedene kulturelle Einflüsse überschneiden und überlagern. Die kulturelle Interferenzialität des Banats sei insbesondere seiner Lage im   Überlappungsbereich verschiedener Kulturkreise geschuldet, d.h. des östlichen und westlichen Christentums sowie – historisch gesehen – des Islams im Osmanischen Reich. Darüber hinaus werde das Banat seit dem 18. Jahrhundert durch zahlreiche Zuwanderungsgruppen unterschiedlicher regionaler und ethnischer Provenienz geprägt: durch Deutsche, Rumänen, Ungarn, Serben, Kroaten, Tschechen und andere Gruppen. Der Autor erarbeitet zunächst in bewährter Weise ein klares begriffliches Instrumentarium, das für die Analyse von Regionalkultur eingesetzt werden kann. Zentral ist dabei die Aussage des Autors, dass Regionalkultur nur als heterogenes und vielschichtiges Phänomen begriffen werden könne. Dies wird am Beispiel des Banats erörtert.

Trotz der politisch-administrativen Aufteilung auf verschiedene Staaten habe das Banat eine spezifische, unverwechselbare Regionalkultur entwickelt. Diese dürfe nicht reduziert werden auf lokale Folklore und auch nicht auf verschiedene kulturelle Elemente und Einflüsse, die hier aufeinander treffen, nebeneinander existieren und kulturelle Spannungen erzeugen können. Wegen der eigenständigen Kultur des Banats seien es keine Zufälle, dass der Aufstand gegen das nationalkommunistisch rumänische Ceausescu-Regime in Temeswar (Timisoara) sowie gegen die nationalistische, serbische Miloševic-Herrschaft in der Voivodina und im serbischen Teil des Banats stattfanden. Trotz der gut nachvollziehbaren Darstellungen des Autors wäre der Leser zusätzlich dankbar, wenn der Autor anhand einiger konkreter Beispiele das „Ineinanderfließen" und „Ineinanderübergehen" (S. 65) der verschiedenen regional-kulturellen Elemente deutlicher als geschehen veranschaulicht hätte. Insgesamt gibt der Aufsatz jedoch sehr hilfreiche Orientierungen bei Untersuchungen verschiedener kultureller Interferenzräume.

Im zweiten Beitrag des zweiten Teils (2007) diskutiert der Autor die Identität und die Ethnizität der Banater Schwaben innerhalb ihrer multikulturellen Region. Dieser Beitrag zählt zu den Höhepunkten des Buches. Zunächst beschäftigt sich der Autor mit dem Begriff der kulturellen Identität. Dabei geht er auf die Wissensbestände und Wertvorstellungen sowie die affektiven Bindungen einer ethnischen Gruppe ein, auf ihr ethnisches Selbstverständnis. Am Beispiel des Banats werden überzeugend allgemeine Reflexionen über das Verhältnis von Demokratie und Multikulturalität entwickelt, die auch für das Verständnis der Situationen in anderen Zuwanderungsräumen genutzt werden können, wie z.B. in Deutschland. Nach Sterbling brauchen funktional integrierte demokratische Gesellschaften für ihren Fortbestand akzeptierte gemeinsame Wertfragen. Multikulturell verfasste demokratische Gesellschaften mit unterschiedlichen Werteorientierungen seien auf Dauer nicht lebensfähig, da sie durch fundamentalistische und autoritäre Tendenzen bedroht würden. Eine gemeinsame kulturelle Identität sei erforderlich. Diese könne sich auch wandeln, ein Sachverhalt, der vom Autor dadurch thematisiert wird, dass er die kulturelle Identität im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne behandelt. Was die Banater Schwaben betrifft, kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass es trotz aller Entwicklungen und Probleme in der Zeit des Sozialismus nicht zu einer rumänisch-sozialistischen Überformung oder Umformung ihrer kulturellen Identität gekommen sei. Jedem, der sich für die Geschichte der Rumäniendeutschen im allgemeinen und der Banater Schwaben im Besonderen interessiert, bringt die Lektüre gerade dieses Aufsatzes viele Einsichten. Aber die Erkenntnisse können auch auf das Verständnis anderer Minderheitengruppen in anderen räumlichen und sozioökonomischen Kontexten angewendet werden.

Der dritte Aufsatz (2008) widmet sich der kollektiven Erinnerung, dem kulturellen Gedächtnis der Banater Schwaben. Die Ausführungen hierzu sind teilweise stark geprägt durch die persönliche Lebensgeschichte des Autors, der aus dem Banat stammt, wenn er beispielsweise über das Bild des Türkenbezwingers Prinz Eugen berichtet, das in den Familien der Banater Schwaben vorherrscht. Er analysiert die Rolle von Ursprungsmythen und historischen Mythen in der kollektiven Erinnerung. Auch dieser Beitrag ist einmal mehr durch gründliches Vorgehen gekennzeichnet. So berichtet der Autor über die Mythenforschung, nach deren Erkenntnissen es zwar keine objektive Geschichtsschreibung gebe, aber wissenschaftliche Standards zu beachten seien. Geschehe dies, dann könnten die sozialen Funktionen der Mythen eingeschätzt werden, nämlich die kollektive Identitätsvergewisserung durch Bezüge auf die Geschichte und die Vorspiegelung wissenschaftlich nachgewiesener Wahrheiten. Gerade Politiker und Intellektuelle auf dem Balkan würden oft Mythen für ihre Zwecke instrumentalisieren.

Im vierten Aufsatz (2010) untersucht der Autor am Beispiel des Banats das Spannungsverhältnis zwischen kommunistischem Herrschaftssystem und Lebenswelten in der sozialistischen Zeit. Unter Lebenswelten werden im Allgemeinen die alltäglichen Routinen verstanden (mit Bezug auf Max Weber und andere; Geographen können sich dabei an den Begriff ‚alltägliche Regionalisierungen' von Benno Werlen erinnern). Die soziale Lage ethnischer Minderheiten wird in diesem Zusammenhang von Sterbling besonders berücksichtigt. Wie in den anderen Beiträgen des Buches werden auch in diesem Beitrag zunächst theoretische Ansatzpunkte für die Behandlung des Themas erarbeitet, dieses Mal aber besonders ausführlich. Der Autor reflektiert über die Leistungsfähigkeit der Totalitarismustheorie und der Systemtheorie. Im Ergebnis seiner Untersuchung präferiert der Autor die Denkfigur der partiellen Modernisierung, die moderne und traditionelle Elemente miteinander verbindet. Diesen Sachverhalt weist er sowohl in den alltäglichen sozialen Wertvorstellungen als auch in den sozialstrukturellen Gegebenheiten nach. Eine besonders wichtige Rolle bei der Wahrung der kollektiven Identität der Banater Schwaben hätten trotz des autoritären Sozialismus die kirchlichen Feiertage gespielt. Diese Bedeutung hätten sie auch heute noch im Auswanderungskontext.

Das Wirken der politischen Staatspolizei und ihre Hinterlassenschaften in den ehemaligen sozialistischen Staaten Europas sind bisher nur wenig wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Der Autor zeigt im fünften Beitrag des zweiten Teils des Buches (2010) am Beispiel der Deutschen in Rumänien in vorbildhafter Weise, wie an dieses Thema herangegangen werden kann und welche Fragen dabei verfolgt werden können. Sehr lebendig und geradezu spannend ist dieser Aufsatz geschrieben, nicht zuletzt wegen der persönlichen Betroffenheit des Autors als Zielperson der Securitate (der rumänischen Staatssicherheitspolizei). So geht der Autor auch auf die Struktur und den Charakter der Securitate-Akten ein. Ein besonderes Anliegen ist ihm, die durch die Securitate-Verfolgung verursachten Traumatisierungen der Opfer zu erörtern und dabei auch die Reaktionen der enttarnten oder vermutlichen Kollaborateure der Securitate sowie der Öffentlichkeit einzubeziehen, die im Sinne der Viktimologie wie eine
„zweite Bestrafung" bewirken können.

 

Migrationsprozesse und soziale Folgen

Der erste Aufsatz des dritten Teils des Buches (2009) beschäftigt sich mit Beispielen von Zwangsmigrationen in Südosteuropa, die im Laufe der letzten drei Jahrhunderte erfolgten und große wirtschaftliche und soziale Auswirkungen einschließlich Folgen für die kollektive Identität hatten. Der Autor beginnt mit den Abwanderungen der Nachkommen der sephardischen Juden im 18. Jahrhundert aus Südosteuropa, die – vertrieben von der iberischen Halbinsel und aus Sizilien – zu Ende des 15. Jahrhunderts im östlichen Mittelmeerraum und auf dem Balkan zugewandert waren. Die weiteren Beispiele betreffen die Wanderungen von Aromunen, Südslawen, Donauschwaben, Emigranten nach Amerika, Türken, Ungarn, Griechen, Juden vor und während des Zweiten Weltkriegs, Deutschen sowie Muslimen und anderen Gruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die wesentlichen Ursachen dieser vielfältigen und komplizierten Vorgänge und Formen von Zwangsmigrationen, die vom Autor übersichtlich zusammengestellt werden, waren imperiale Herrschaftsexpansionen, Kriege und Bürgerkriege, Armut sowie nationalkulturelle Homogenisierungen und interethnische Konflikte.

Der zweite Aufsatz (2006) befasst sich mit Migrationen, die durch die folgenden Prozesse ausgelöst wurden: 1. durch die zunehmende Vergrößerung der ökonomischen und sozialen Ungleichheiten zwischen dem sich modernisierenden Westeuropa und dem zurückbleibenden Südosteuropa, die gleichsam als Faktoren struktureller Gewalt (im Sinne von Johan Galtung) Ost-West- bzw. Süd-Nord-Wanderungen bewirkten, 2. durch die damit einhergehende Verschärfung der sozialen und räumlichen Disparitäten innerhalb der südosteuropäischen Länder, die zu Binnenmigrationen führten, d.h. vor allem zu Wanderungen aus den ländlichen und peripheren Gebieten in die großstädtischen Zentren. Als Beispiele betrachtet der Autor Albanien, Bulgarien und Rumänien, und zwar insbesondere unter dem Aspekt der Auswirkungen und Folgeprobleme. Um diese zu verstehen, sei es notwendig, Sozialstrukturanalysen nicht nur auf der Ebene von Nationalstaaten oder von Vergleichen verschiedener Staaten, sondern auch auf den gesamten europäischen Sozial- und Migrationsraum bezogen durchzuführen, damit die nationalen und transnationalen sozialen Ungleichheiten angemessen verstanden werden können.

Der letzte Beitrag (2009) behandelt Bedürfnisse der Menschen nach sozialer Anerkennung, und zwar unter der Frage, wie diese in der Gegenwartsgesellschaft verändert werden und welche Identitätsprobleme sich für die Menschen daraus ergeben. Diese Veränderungen begreift der Autor als „Deregulierungen", die er als „Gestaltwandel von Vergesellschaftungsformen" bezeichnet. Als wichtigste theoretische Bezugsbasis für diesen Beitrag verwendet der Autor den Aufsatz von Heinrich Popitz über Autoritätsbedürfnisse (Popitz, H. 1987: Autoritätsbedürfnisse. Der Wandel der sozialen Subjektivität. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 39. Jg. S. 633-647). Er greift aber auch auf eigene Forschungen zu diesem Thema zurück. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Grunderkenntnis, dass alle sozialen Beziehungen zumindest ein Minimum wechselseitiger Anerkennung voraussetzen. Die Bedürfnisse nach Anerkennung oder Autorität können aber ganz unterschiedliche Formen annehmen, die der Autor im weiteren Verlauf seines Beitrags betrachtet und hinsichtlich ihrer Bedeutung diskutiert. Mit den zunehmenden Modernisierungen würden auch die sozialen Anerkennungsbedürfnisse komplizierter und variabler, d.h., die Menschen müssten sich immer mehr mit diesen Bedürfnissen und mit den Bestimmungsfaktoren ihrer Identitäten auseinandersetzen. Identitätskrisen nähmen zu, vor allem unter den Migranten, deren besonderes Problem darin bestehe, dass sie von zwei oder mehr Lebenswelten geprägt seien. Diese Sachverhalte werden vom Autor in einem sehr dicht geschriebenen Text dargestellt, der den lernbegierigen Leser zu einer besonders genauen Lektüre herausfordert.

Der reiche Gehalt des Sammelbandes erschließt sich dem Leser nicht durch ein „Überfliegen", sondern nur durch intensive Auseinandersetzung. Die sprachliche Darstellung wirkt zuweilen leider etwas sperrig. Der Autor setzt manchmal die Kenntnis auch selten verwendeter sozialwissenschaftlicher Fachbegriffe voraus. Hier wären kurze Erläuterungen hilfreich gewesen, z.B. zur Theorie des Protochronismus. Aber die Darstellungen sind andererseits an zahlreichen Stellen auch sehr beeindruckend und lebendig, vor allem dann, wenn der Autor nicht distanziert, sondern als persönlich Betroffener die Sachverhalte analysiert. Jedenfalls ist die Lektüre dieses Sammelbandes jedem zu empfehlen, der sich mit der behandelten Thematik befasst, und zwar auch dann, wenn sein Interesse für die Region Südosteuropa nachrangig ist. Denn die systematische, theoriegeleitete Vorgehensweise des Autors und die Erkenntnisse der Beiträge können auch bei der Beschäftigung mit ähnlichen Themen in anderen Regionen genutzt werden.

Quelle: geographische revue, 13. Jahrgang, 2011, Heft 1/2, S. 141-147

 

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