Elmar Kulke (Hg): Wirtschaftsgeographie Deutschlands. Heidelberg 2010. 359 S.

Die länderkundliche Betrachtung gilt als Königsklasse der Disziplin, da sie es erlaubt, das ganzheitliche Potenzial der Geographie auszuspielen und aus einer historisch evolutionären Perspektive die Gegenwart in ihrer räumlichen Entwicklungsdynamik zu erklären und zu verstehen. Die 1998 erschienene Wirtschaftsgeographie Deutschlands war der damals längst überfällige Beitrag der Wirtschaftsgeographie, ihr bis dahin dominant systemisches Wissen in einer „regionalen Gesamtschau“ zu präsentieren. Die erste Auflage war nach dem Prinzip der Wirtschaftsregionen strukturiert und mit der nun vorgelegten zweiten, völlig neu bearbeiteten Auflage hat der Herausgeber eine nicht mehr primär regional, sondern sektoral strukturierte Darstellungsform gewählt.

 

In einem ersten Teil werden zwar drei allgemeine Übersichten zum sektoralen Wandel, zu regionalen Disparitäten und zu regionalen Arbeitsmärkten gegeben, der zweite und eigentliche Hauptteil desWerkes besteht aber aus einer Darstellung von insgesamt elf Sektoren und Branchen der Wirtschaft. Insgesamt ist es dem Herausgeber mit seinen 16 Mitautoren/innen gelungen, ein außerordentlich komplexes, von hoher Informationsdichte gekennzeichnetes Werk vorzulegen, das sicherlich nicht nur innerhalb der eigenen Disziplin Interesse finden wird.

Die Leitidee des Buches, die Darstellung des sektoralen Wandels der Wirtschaft und der damit korrespondierenden Raumstrukturen, wird vom Herausgeber in einem ersten Beitrag skizziert und fokussiert den Wandel von der Agrar- über die Industrie- hin zur Dienstleistungsgesellschaft mit der Herausbildung jeweils spezifischer Siedlungs- und Raumstrukturen. Der nachfolgende Beitrag von Ingo Liefner beschreibt Ursachen und Strukturen sozioökonomischer Disparitäten in Deutschland sowie das
entsprechende Instrumentarium der Raumordnungs- und Regionalpolitik. Der letzte Beitrag im ersten Teil von Lech Suwala setzt sich sehr anregend mit regionalen Arbeitsmärkten in theoretischer, empirischer und regionaler Perspektive auseinander.

Solchermaßen gerüstet, wird im zweiten, dem Sektor- und Branchenteil des Buches, das Kapitel Landwirtschaft und ländliche Räume von Peter Dannenberg sehr kompetent und prägnant abgehandelt. Natürliche Produktionsgrundlagen, theoretische Erklärungsansätze und räumliche Verteilungsmerkmale wesentlicher Produkte werden ebenso einbezogen wie Fragen der Bioenergieproduktion und der Entwicklungsperspektiven ländlicher Räume. Das Münchner Team um Hans-Dieter Haas bearbeitet die Entwicklungen im Bergbau, der Energiewirtschaft und Energieversorgung ebenso kompetent und kenntnisreich wie die rohstofforientierten Industrien. Markus Hassler (Bekleidungsindustrie) und Martina Fuchs (Automobilindustrie) betonen die strukturellen Entwicklungen und die internationale Eingebundenheit bzw. globale Vernetzung ihrer Sektoren. Der Beitrag von Javier Revilla Diez fällt etwas aus der traditionellen sektoralen Nomenklatur heraus, indem er sich mit High-Tech-Industrien sowie der Herausbildung regionaler Innovationssysteme beschäftigt und damit die zentrale Bedeutung von wirtschaftlich verwertbarem neuenWissen (Innovationen) für das regionale wirtschaftliche Wachstum unter anderem an den Beispielregionen München und Dresden unterstreicht. Elmar Kulkes Beitrag zum Strukturwandel im Einzelhandel ist mehr systematischer als regionaler Natur und betont die unterschiedliche Entwicklungsdynamik der Einzelhandelslandschaften in den neuen und alten Bundesländern. In gewohnter Routine und mit hoher Professionalität stellen Markus Hesse und Cordula Neiberger Verkehr und Logistik als wichtige Grundlage der volkswirtschaftlichen Effizienz in den verschiedenen Leistungssegmenten und an ausgewählten regionalen Beispielen vor. Sebastian Kinder
verweist auf die Bedeutung unternehmensorientierter Dienstleistungen und betont dabei die besondere volkswirtschaftliche Bedeutung wissensintensiver Dienstleister, die von ihrer Lokalisationstendenz eher in den metropolitanen Verdichtungsräumen zu finden sind. Das deutsche Banken- und Finanzsystem sieht Britta Klagge im Spannungsfeld von internationalen Finanzmärkten und regionaler Orientierung und verweist auf dessen eher dezentrale Struktur. In einem weiteren Beitrag beschäftigt sich Ivo Mossig mit der Entwicklungsdynamik, den Struktur- und Lokalisationsmerkmalen sowie den korrespondierenden raumwirksamen Implikationen der Medien- und Kulturökonomie, deren besondere, nicht nur ökonomische Bedeutung er hervorhebt. Anschließend stellen Jürgen Schmude und Stefan Heumann die Tourismuswirtschaft in Deutschland vor, womit der Marsch durch die Sektoren und Branchen der deutschen Wirtschaft abgeschlossen wird.

Ob sich nun beim Leser – quasi hinter seinem Rücken – das Mosaikbild einer Wirtschaftsgeographie Deutschlands einstellt, hängt sicherlich vom Einzelfall ab. Insgesamt hinterlässt die Lektüre zunächst eher den Eindruck einer bemerkenswerten Leistungsschau und beeindruckenden Vielfalt der deutschen Wirtschaftsgeographie. Jeder Sektorbeitrag reflektiert spezifische Theorie- oder Erklärungsansätze, zeigt relevante sektorale Merkmale und Strukturen auf und geht auf die rezente Entwicklungsdynamik ein. Der räumliche Bezug ist in unterschiedlicher Weise ausgeprägt, aber stets gegeben. Es ist eine eigentümliche Mischung von Fakten und Information, die in einigen Fällen mehr zum analytischen Niveau sogenannter sektoraler Investmentreports tendiert, sich in anderen Fällen mehr zum sogenannten geographischenWissen hin verdichtet. Es ist auf alle Fälle ein mutiges Buch, das im Gegensatz zur ersten Auflage eineWirtschaftsgeographie Deutschlands in Form additiver Sektorstudien präsentiert, die über die drei Kopfbeiträge des ersten Teils zusammengebunden werden. Diese Orientierung erlaubt eine sektorale Informationsdichte und Qualität, wie sie bei einem mehr länderkundlichen Ansatz nicht möglich gewesen wäre. Darin liegt auch der große Gewinn der neuen Auflage, zu der man Herausgeber und Mitautoren wahrhaft gratulieren kann.
Walter Thomi

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 54 (2010) Heft 3-4, S. 256-258

 

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