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Kategorie: Rezensionen

Saskia Sassen: Das Paradox des Nationalen. Frankfurt/M 2008. 735 S.

Verf. wendet sich gegen die in Zeitdiagnosen verbreitete Dichotomisierung, derzufolge das Nationale zunehmend vom Globalen eingeschränkt werde. Wie der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus sei auch der zum globalen Zeitalter durch Transformation und Kontinuität gleichermaßen gekennzeichnet.

 

Weil das Globale ausgehend von Nationalstaaten konstruiert werde, bezieht sich Verf. auf Entstehung und Transformation national verfasster Staatlichkeit. Am Beispiel der politisch-institutionellen Geschichte der USA seit dem New Deal zeigt sie auf, wie es zu einer Neuverteilung der Macht innerhalb des Staates gekommen ist und wie er seine strategischen Beziehungen zur Wirtschaft verändert hat: »weg von einer Beziehung, die von der Produktion und der materiellen Planung geprägt war, hin zu einer, die über das Finanzsystem vermittelt war« (283). Zwei Entwicklungstrends seien zu beobachten: der Machtzuwachs der Exekutive sowie Funktions- und der Autoritätsverlust des Parlaments. Die Organisationslogik der gegenwärtigen globalen Formation unterscheide sich grundlegend von jener des Bretton-Woods-Systems, das als Geburtshelfer der Globalisierung gilt. Während das internationale System bis in die 1970er Jahre darauf fußte, dass sich die nationalen Ökonomien von externen Kräften abschirmen konnten, ziele das neue globale Steuerungsmodell darauf, »die einzelnen Länder für globale Unternehmen, Märkte, Ströme und Standards aller Art zu öffnen und [...] neuartige  Organisationslogiken zu installieren, die spezifi sche Komponenten der Logik des Staates ersetzen« (654). Die »normative« Kraft, die der internationale Kapitalmarkt in Hinblick auf die Gestaltung der globalen politischen Ökonomie entfalte, verdränge den Einfl uss der Nationalstaaten. Auch die Konfigurationen politischer Zugehörigkeit sieht Verf. einem Wandel ausgesetzt, denn die gewohnt enggestrickte Beziehung von Recht und Nationalstaat verliere an Halt. Dass sich das  Staatsangehörigkeitsrecht teilweise von der Nation zu lösen beginne, sei aber zugleich Ausgangspunkt für »Vorstellungen einer transnationalen Zivilgesellschaft und einer transnationalen Staatsbürgerschaft« (455f).

Die Digitalisierung eines breiten Bereichs politischen und ökonomischen Handelns und dessen Koordinierung in digitalen Netzwerken werfe Fragen bezüglich der Effektivität derzeitiger Rahmenbedingungen staatlicher Autorität und demokratischer Partizipation auf. Es komme zu einer Neudefi nition der Maßstäbe. Die grundlegenden analytischen Kategorien, die »transhistorischen Komponenten« Territorium, Autorität und Rechte, verflechten sich neu, was am Beispiel des Internets und dessen politischer Regulierung diskutiert wird. Politik gerate aufgrund von De- oder Transnationalisierungsprozessen unter verstärkten Einfl uss von »globalen Klassen« (475ff). Unter diese deskriptiv zu verstehende Kategorie subsumiert Verf., neben der schon als Forschungsgegenstand etablierten transnationalen Managerklasse, drei weitere, die mit unterschiedlichen Chancen der politischen Einfl ussnahme ausgestattet sind: die transnationalen Netzwerke von Regierungsbeamten (Politiker, Richter, Beamte der Ausländerbehörden, Polizeibeamte), politische Aktivisten und Teile der globalen Zivilgesellschaft sowie die »dritte neue globale Klasse« (476) der benachteiligten Arbeiter im Niedriglohnsektor, einschließlich der Angehörigen von transnationalen Immigrantengemeinschaften.

Die globalen Transformationen böten neue Möglichkeiten der politischen Partizipation und des Widerstandes. Da mit der Digitalisierung die Möglichkeiten grenzüberschreitender Politik für nichtstaatliche Akteure zunehmen, seien neue Formen transnationaler Gemeinschafts- und Solidaritätsbildung denkbar und realistisch – eine Einschätzung, die hinter der Praxis der globalen sozialen Bewegungen zurückbleibt. Das Bewusstsein, an verschiedenen Orten für die gleiche Sache zu kämpfen, vermag eine neue Effektivität der Politik des Lokalen zu entfachen. Darunter versteht Verf. auch den informellen politischen Aktivismus, der sich jenseits der ausgehöhlten  Partizipationsmöglichkeiten auf nationalstaatlicher Ebene bewegt. Migrantische Kämpfe, in denen eine Aneignung fundamentaler Rechte ihrer juristischen Fixierung vorausgeht, wie auch transnationale NGOs seien hierfür bedeutende Beispiele. Das Lob der informellen Politik gründet jedoch in einem hohlen, abstrakten Kosmopolitismus, der die Schwierigkeiten der transnationalen Artikulation  unterschiedlicher Interessen und Widerstandspotenziale der Subalternen übergeht. Standortpolitisches Co-Management von Gewerkschaften gehört jedoch ebenso zur Realität globaler Kämpfe wie partikularistisch-separatistische Bewegungen und nationalistische Tendenzen. Sie in die Analyse einzubeziehen hätte eine notwendige Erweiterung dargestellt. Verf. beschränkt sich hingegen auf einzelne positive, doch keinesfalls repräsentative Fälle globalen Widerstands. Sie liefert eine komplexe Analyse der Globalisierungsprozesse, ohne dabei in eine vereinfachende Großerzählung abzugleiten. Sie verweist darauf, dass sich trotz der Emergenz und Etablierung neuer Organisationslogiken der Übergang zum globalen Zeitalter nicht entlang einer determinierten Entwicklungslinie gestaltet – dies wird an vielfältigen sozialen Kämpfen und widerständigen Praxen aufgezeigt. Ihre Ausführungen über die globale Ökonomie und Funktionsweise des Finanzmarktkapitalismus sind durch die jüngste Krise keinesfalls obsolet geworden.
Patrick Eser

Quelle: Das Argument, 52. Jahrgang, 2010, S. 279-280

 

vgl. auch die Rezension von Christoph Parnreiter

 

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