Jean-François Bayart: Les Études postcoloniales. Un carnaval académique. Paris 2010. 126 S.

Zwar wurden erst in den letzten Jahren einige der postkolonialen „Theorie-Klassiker“ ins Französische übersetzt – eine zentrale Bedingung, um in der akademischen Debatte in Frankreich wahrgenommen zu werden. Der Bedarf an Polemik scheint hingegen groß zu sein:

Zwei Jahre nachdem der Pariser Anthropologe Jean-Loup Amselle den postkolonialen Studien seinen voluminösen, mit zahlreichen biographischen Ausführungen versehenen Band L’occident décroché. Enquête sur les postcolonialismes entgegengestellt hatte, zieht der auf Afrika spezialisierte Politologe Jean-François Bayart mit einer schmalen Streitschrift nach. In der apodiktischen Bilanz unterscheidet sich das Manifest allerdings kaum von Amselles Urteil: Bei den postkolonialen Studien, wie vielfältig sie auch immer sein mögen, handele es sich um einen akademischen Karneval, der wissenschaftlich nichts zu bieten habe, was verschiedene französische Einzeldisziplinen nicht weit besser könnten. Was die postkolonialen Studien an Epistemologiekritik anwendeten, sei letztlich in den fruchtbaren 1960-70er Jahren der französischen Theorieentwicklung erdacht worden (23). Bayart führt den Erfolg, den die postkolonialen Studien in Frankreich seiner Auffassung nach verzeichnen, auf ihre Denunziationshaltung zurück (18). Diese bestehe darin, den französischen Provinzialismus und Konservatismus sowie den stillen Schulterschluss mit dem rassistischen Imaginären, das der Republik als wesentlich unterstellt werde, zu geißeln. Dabei begingen die postkolonialen Studien aber „ihren Gewohnheiten entsprechend“ den Fehler, „ein Frankreich zu behaupten, das nur in ihrer Vorstellung existiert, und in Hinblick auf welches es angebracht wäre, die Heterogenität und Konflikte in Erinnerung zu rufen, die es durchziehen“ (18). Die Universität werde zu einem monolithischen Gebilde erklärt und dem Vorwurf ausgesetzt, die kolonialen Kontinuitäten auszuklammern oder sich zu weigern, das neue „globale Pidgin“ (19) zu sprechen. Auf diese Weise trügen die frankophonen VertreterInnen der postkolonialen Studien zum Bild eines international marginalisierten Frankreichs bei, „das sich weiterhin in seine ‘kulturelle Ausnahme’-Erzählung verhülle“ (38). Letztlich handele es sich um eine „akademische Nischenstrategie“ (37), die von ihren französischen „Epigonen“ in der Form einer sehr „frankofranzösischen Kritik“ an der Republik in Anschlag gebracht werde (39).

In einem mit „Wir haben unser Schuldigkeit getan“ überschriebenen Kapitel erklärt Bayart, die französische Forschung habe gute Gründe, die postkolonialen Studien zu ignorieren: Zwar gesteht er ein, dass Nicolas Sarkozys karikaturale Rede in Dakar im Juli 2007 – in dieser bediente sich der Staatspräsident eines umfangreichen Arsenals rassistischer Argumentationen des 19. Jahrhunderts: Er richtete sich an die „afrikanische Jugend“ und erklärte, das Problem des Kontinents sei, nicht „genügend in die Geschichte eingetreten zu sein“ – der These der in die Gegenwart reichenden kolonialen Kontinuitäten Recht zu geben scheine (25), relativiert dies aber sofort, indem er darauf hinweist, dass zahlreiche WissenschaftlerInnen seit vielen Jahren unbeachtet von der breiten Öffentlichkeit, die Kolonialgeschichte erforschten. Frankreich verfüge über eine Reihe  postkolonialer Klassiker“ von Césaire bis Sartre (22); auch Glissant und Chamoiseau würden weiterhin gelesen, zahlreiche afrikanische Romanautoren seien in großen Verlagen erschienen (29), und die Elitehochschulen in Paris lüden die VertreterInnen der postkolonialen Theorie seit Jahrzehnten zu Vorträgen ein. Rhetorisch interessant wird Bayarts Ehrenrettung der französischen Universität, als er mahnt, man müsse sehr wohl auf die Warnrufe eines Achille Mbembe hören, nach denen Frankreich sich „wegen seines kulturellen Inseldaseins und des Narzissmus’ seiner Eliten von den neuen Wegen des globalen Denkens abgeschnitten habe“ (35): Anstatt aber nach den Möglichkeiten zu fragen, diese geistige Insularität aufzubrechen, die – wie er selbst anführt – überall im Ausland konstatiert werde, führt Bayart sie auf Gründe zurück, für die die Wissenschaft nicht verantwortlich sei: das Scheitern der afrikanischen Universitäten in französischer Sprache nach den  Strukturanpassungsprogrammen, die Stellenpolitik im öffentlichen Sektor Frankreichs, die die Rekrutierung jeglichen akademischen Nachwuchs verhindere, die Schwächung des Verlags Présence Africaine , die auf eine schlechte Verwaltung zurückzuführen sei, die Visapolitik der Europäischen Union, die akademischen Austausch mit Afrika effektiv verhindere, usw. (35-37).

Nach dem Befund, dass Frankreich keinerlei Bedarf an postkolonialen Studien habe, kommt Bayart zur Kritik der Theorien selbst. Mit einem deutlichen Fokus auf die Geschichtswissenschaft macht er zwei methodische Hauptfehler aus: die Enthistorisierung des Kolonialen und die Enthistorisierung der Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten zum Kolonialismus (45). Grundsätzlich hält er die Theorien für einen Rückschritt, da sie sich vom Kulturalismus der 1980-90er Jahre nicht befreit hätten und die Akteure in „Identitäten einschlössen und die postkoloniale Situation verdinglichten“ (44). In Frankreich trügen sie dazu bei, die soziale und politische Frage der Banlieues zu ethnisieren, und ausschließlich im Licht des Rassismus darzustellen, was ebenso Produkt des „Klassenkampfs“ oder des „Klassismus“ sei. Nicht der abstrakte Gegensatz zwischen Kolonialem und Postkolonialem sei interessant, sondern entscheidend sei die Frage nach dem Übergang von einer Form der Geschichtlichkeit in die nächste (60).

Wenngleich der Autor mit der Gefahr der Enthistorisierung gesellschaftlicher Entwicklungen und der möglichen Beförderung von Identitätspolitiken einen neuralgischen Punkt trifft, gelingt es ihm nicht, überzeugend darzulegen, dass seine Anschuldigungen auf die kritisierten AutorInnen auch zutreffen. In Dipesh Chakrabartys Provincializing Europe erkennt er nur eine statische Gegenüberstellung reifizierter Akteure, die gefangen im Agency-Konzept Edward P.Thompsons die Identitätskategorien und den Nationalismus, in dem die Akteure immer negativ auf den Kolonialismus verwiesen blieben, ad infi nitum reproduzieren. Ebenso wenig nimmt er eine historische Methode in Arjun Appadurais Modernity at large wahr; Gayatri Spivaks Kritik der indischen Eliten erwähnt er erst gar nicht. Da er Cultural Studies für zwangsläufi g kulturalistisch hält, entgeht ihm, dass diese ihre oft mikropolitischen Zugänge, welche soziale Praxen und gesellschaftliche Bedeutungsproduktion in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen, nicht nur den Rational-Choice-Theorien entgegensetzen, sondern auch über institutionen- und strukturreduktionistische Ansätze hinausweisen.

Bayart entlässt die Leserin mit einer Road-Map für künftige Studien, die er anstelle der  postkolonialen Theorien vorschlägt: Das Kapitel durchziehen Aufzählungen der Qualitäten aller möglichen Disziplinen der Sozialwissenschaften: Dabei weist er wiederholt auf Max Weber hin, ohne dessen Modernisierungsbegriff zu problematisieren, der Weber in einem klaren Gegensatz zu den meisten postkolonialen Theorieansätzenstellt.

Nach der Lektüre hinterlässt der Band den Eindruck, gegen imaginierte Windmühlen zu kämpfen: Bayart zeichnet eine Karikatur der postkolonialen Studien, um diese dann mit einem Arsenal an sozialwissenschaftlichen Ansätzen des 20. Jahrhunderts zu konfrontieren. Bezeichnend daran ist die Abwehrhaltung: Er fährt ein über 100 Seiten umfassendes Pamphlet auf, um die postkolonialen Theorien der Überflüssigkeit zu bezichtigen und dem Vorwurf der nationalen Scheuklappen zu widersprechen. Dabei interessiert er sich nicht für eine Ergänzung der in Frankreich vorherrschenden Klassensoziologie durch die Frage des Rassismus, sieht in den Untersuchungen des Republikanismus auf seine Unfähigkeit, bestimmte Ungleichheiten zu beschreiben, eine unzulässige Politisierung der Wissenschaft und weigert sich anzuerkennen, dass es gerade AutorInnen wie die der Vereinigung ACHAC (Association pour la Connaissance de l’Histoire de l’Afrique Contemporaine) waren, die in den vergangenen Jahren die Konfl ikte der französischen Gegenwart in Hinblick auf ihre koloniale Geschichte und die Kontinuitäten in den Diskriminationen untersucht haben (http://www.achac.com/) – nicht zufällig haben zahlreiche dieser AutorInnen keine Stellen an französischen Universitäten. Bayart hingegen vertritt gerade jene franko-französische „so-wie-wir-es-schon-immer-gemachthaben-ist-es-am-besten“-Haltung, von der frei zu sein er vorgibt, und stützt sich dabei auf einen wohlbekannten Antiamerikanismus, in dem er die postkolonialen Studien als „Avatare des Atlantismus“ (34) charakterisiert. Er vergisst zu erwähnen, dass einer von deren theoretischen Pfeilern, die französische poststrukturalistische Philosophie, in den letzten 20 Jahren an den französischen Universitäten einen schweren Stand hatte und daher, wie François Cusset in seiner Publikation French Theory. Foucault, Derrida, Deleuze et Cie et les mutations de la vie intellectuelle aux Etats-Unis akribisch nachgezeichnet hat, den Umweg über die USA nehmen musste, um in Frankreich zur Geltung zu kommen.
Lotte Arndt

Quelle: Peripherie, 30. Jahrgang, 2010, Heft 120, S. 513-516

 

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