Diercke-Wörterbuch GeographieLeser, Hartmut (Hg.): Diercke-Wörterbuch Geographie. Braunschweig 2011. 15., völlig überarb. Aufl., 1132 S.

Mischlinge und Mehrzweckfrachter - Das neue "Wörterbuch Geographie" des Westermann-Verlags

Der Westermann-Verlag wirbt derzeit offensiv für sein neues Diercke-Wörterbuch Geographie (im folgenden DWG). Das rund 1100 Seiten starke, dabei aber durchaus noch handliche Nachschlagewerk wurde für die 15. Auflage, so verspricht der Verlag, "komplett überarbeitet" und wird als "Das Standardwerk für Schüler, Studenten, Lehrer und Dozenten" empfohlen.

Lehrende konnten das Buch für einen symbolischen Preis von fünf Euro beziehen, aber auch im Buchhandel ist das DWG mit 21,95 € nicht allzu teuer. Vorfreude und Erwartung sind groß, denn an knappen Zusammenfassungen zentraler Begriffe der Geographie herrscht wahrlich kein Überangebot. Das erste Durchblättern weckt Neugier und Erinnerungen an das eigene Studium, auch wenn in der Vielzahl der Begriffe bisweilen amüsante Kuriosa auftauchen, die man dort nicht unbedingt in dieser Ausführlichkeit erwartet hätte: "Mehrzweckfrachter" oder "Hakenhof" spielen in der Alltagssprache der Geographie heute bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Verbindet man das kursorische Blättern mit einer gezielten Suche nach aktuellen Begriffen, zeigt sich leider aus humangeographischer Perspektive insgesamt eine gewisse Schieflage in der Schwerpunktsetzung. Zwar schafft es die "Neue Kulturgeographie" in das neue DWG; viele Begriffe, die mit postkolonialen, diskursanalytischen und konstruktivistischen Perspektiven nun bereits seit mehr als zehn Jahren auch im deutschsprachigen Kontext Einzug in den geographischen Wortschatz erhalten haben, fehlen jedoch oder entgingen einer dringend notwendigen Revision. Demgegenüber wuchern andere Wortfelder förmlich, so finden sich beispielsweise acht Komposita zu "Garten", darunter "Gartenbau", "Gartendenkmalpflege" und "Gartenkunst". Etwas Beschnitt hier und dort zu Gunsten einer Aufnahme von Begriffen wie "Kultur" oder "Identität" wäre aus unserer Sicht für ein Wörterbuch, das sich als "Standardwerk" verkaufen möchte, durchaus vertretbar gewesen.

Über Schwerpunkte kann man streiten. Beim Blick auf einige große Teilgebiete der Geographie fragt man sich jedoch, was Herausgeber und Autoren unter einer kompletten Überarbeitung verstehen. Selbstverständlich kann ein Wörterbuch in der gebotenen Kürze nicht alle Facetten (und Moden) wirtschafts-, sozial- oder politisch-geographischer Forschung abbilden. Allerdings bedarf es schon einer gewissen Standfestigkeit, in der Definition von "Sozialgeographie" zu behaupten, im deutschsprachigen Raum sei "heute [sic!] die Auffassung am verbreitetsten, dass die [Sozialgeographie] als Wissenschaft von räumlichen Organisationsformen und raumbildenden Prozessen der Grunddaseinsfunktionen" zu verstehen sei und die Prägung der "Kulturlandschaft [...] durch das Agieren von Gruppen im Raum (sozialgeographische Gruppen)" untersucht (S. 866) - ohne dabei bspw. die Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen von Benno Werlen oder die in Weichharts "Entwicklungslinien der Sozialgeographie" (2008) dargestellten neueren Ansätze auch nur mit einem Wort zu erwähnen.

Einigen GeographInnen, die der deutschsprachigen Politischen Geographie in den letzten zwanzig Jahren wieder (konstruktivistisches und kritisches) Leben eingehaucht haben, dürfte es zudem die Nackenhaare aufstellen, wenn Studierende selbstbewusst und in Übereinstimmung mit dem DWG über die "auf die Kulturlandschaft einwirkenden und sie prägenden politischen Kräfte" und die "raumwirksame Tätigkeit des Staates" (S. 700) als Hauptinhalte der Politischen Geographie referieren. Verweise auf die umfang- und einflussreichen Arbeiten der deutschsprachigen Politischen Geographie, etwa in den Bereichen der geographischen Konfliktforschung, der polit-ökonomischen oder postkolonialen Arbeiten oder im Bereich poststrukturalistischer Ansätze bleiben unerwähnt. Kurz: Unser Eindruck ist, dass bei der Überarbeitung zentrale Entwicklungen in unterschiedlichen humangeographischen Teilbereichen (neben den genannten Beispielen auch in Definitionen zu "Wirtschaftsgeographie" oder "Anthropogeographie") von grob zwanzig Jahren schlicht ignoriert wurden. Eine Vielzahl von Einträgen ist (fast) wortgleich in der ersten Fassung von 1984 zu finden, was vor dem Hintergrund, dass es sich immerhin um die dritte Auflage handelt, die als "völlige Überarbeitung" angepriesen wird (vorherige Neubearbeitungen erschienen 1997 und 2005) doch etwas überrascht.

Schon die oben angesprochenen unzureichenden Kurz-Charakteristika zentraler geographischer Teilgebiete reichen wohl aus, um Studierenden von dem DWG als Nachschlagewerk abzuraten. Aus Sicht des Selbstbildes unserer Disziplin kaum zu ertragen ist jedoch der Umgang mit kolonialen und rassistischen Begriffen, die das DWG seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren mit sich herumschleppt. Dass das Werk Negride ("Wichtigstes Kennzeichen der N. sind dunkelbraune bis schwarze Hautpigmentierung, Kraushaarigkeit, breite Nase und wulstige Lippen", S. 614), Mongolide ("geringe Körperbehaarung, flaches Gesicht und die sog. Mongolenfalte", S. 580) und Mischlinge ("Personen, deren Eltern unterschiedlicher ethnischer Herkunft sind" inkl. "z. T. nur regional gebrauchte[r] Bezeichnungen, z.B. ? Ladino, ? Mestize, Mulatte, Zambo", S. 570 f.) zum Fachwortschatz der Geographie erklärt, ist für sich genommen schon skandalös. Unbegreiflich ist jedoch, dass diese Einträge in der Neuauflage zwar einer Bearbeitung unterzogen wurden, dadurch das Problem jedoch eher verschlimmert wurde. Anstatt die Begriffe in den Kontext einer Kritik von Rassismus zu stellen - oder sie wenigstens zu streichen - wurden dem Kerntext (der ebenfalls seit 1984 unberührt blieb) einige halbherzige Relativierungen zur Seite gestellt. So heißt es im Schlusssatz zu Negride, "die Differenzierung geographischer Großrassen [gilt] angesichts neuer Erkenntnisse der Genforschung heute als obsolet" (S. 614). Die zu Grunde liegende Problematik einer Einteilung von Menschen anhand äußerlicher oder genetischer Merkmale und ihrer räumlichen Verbreitung - deren Kritik innerhalb der Politischen Geographie und Neuen Kulturgeographie heute zum Standard gehört - ist den Autoren offenbar entgangen. Ähnlich wurde mit dem Eintrag Rassenkunde verfahren: Zwar hält das DWG fest, die Rassenkunde "wurde in der Vergangenheit häufig als Pseudowissenschaft zur Unterbauung von Theorien des Rassismus betrieben", trotzdem darf der Leser die Erkenntnis mitnehmen, es handele sich um jenen "Teil der Anthropologie und der Physischen Anthropogeographie, der sich mit den Menschenrassen und ihren Unterschieden befasst" (S. 739).

Die in weiten Teilen mangelnde Sensibilität für die politischen Implikationen und die gesellschaftliche Brisanz vieler Begriffe, die gerade vor dem Hintergrund der historischen Verstrickungen der deutschsprachigen Geographie in die Politik des Dritten Reiches heute eigentlich eine Selbstverständlichkeit darstellen sollte, kennzeichnet auch den Umgang mit inhaltlich mehrdeutigen Begriffen, die wie z.B. "Migration" in unterschiedlichen geographischen Teilbereichen eine Rolle spielen. Hier wäre es mindestens wünschenswert gewesen, die unterschiedlichen angeführten Definitionen den jeweiligen Entstehungskontexten zuzuordnen  - in der Schwerpunktsetzung des Eintrags zu "Migration" scheint dieser Entstehungskontext in erster Linie die Zoogeographie zu sein. Dieser Hinweis fehlt jedoch. Dadurch bleibt für die LeserInnen die Frage offen, wie die DWG-Charakterisierung, Migration beschreibe "die Entstehung einer neuen geographischen Rasse durch Abspalten einer sich vom ursprünglichen Verbreitungsgebiet der Art aktiv oder passiv ausbreitenden Population." (S. 564) einzuordnen sei. Vor dem Hintergrund der weitläufigen rassistischen und kolonialistischen Reminiszenzen und der andernorts erfolgten präzisen Definition von Rasse als "Kurzform für Menschenrasse" (S. 739) bleibt hier ein schaler Beigeschmack. Auch die folgenden vier Definitionsangebote, von denen nur eine einen humangeographischen Bezug aufweist und keine die aktuellen Forschungsbezüge der humangeographischen Migrationsforschung berücksichtigt, helfen nur wenig weiter.

Insgesamt können wir festhalten, dass insbesondere aus der Perspektive einer politisch engagierten (oder auch nur politisch sensiblen) Humangeographie das Wörterbuch dem selbst gesteckten Anspruch nicht gerecht wird. Wir hoffen, der Westermann-Verlag nimmt diese Kritik zum Anlass, beim nächsten Mal über eine grundlegende Neukonzeption des Werks nachzudenken, für die insbesondere die Einbindung von HumangeographInnen, die den aktuellen Forschungsstand in so zentralen Teilbereichen wie der Sozialgeographie, der Politischen Geographie, der Wirtschaftsgeographie oder der Neuen Kulturgeographie vertreten, sicherlich von Nutzen wäre. Bis dahin werden wir in Seminaren und Lehrveranstaltungen den Studierenden explizit von einem Gebrauch - geschweige denn Kauf - des Werks abraten.

Diana Griesinger, Annika Mattissek, Thilo Wiertz,

Geographische Zeitschrift, 100. Jg. 2012 · Heft 2· Seite 51-52

 

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