Werner Bätzing: Orte guten Lebens. Die Alpen jenseits von Übernutzung und Idyll, mit einem Geleitwort von Reinhold Messner. Zürich 2009. 360 S. + 20 S.

Wer umfassend über die Kulturlandschaft Alpen informiert werden will, nimmt das Standardwerk des Erlanger Kulturgeographen Bätzing zur Hand (3.A., 2005). Es gibt nicht nur Auskunft über deren Geschichte sowie kulturellen, ökologischen und sozialen Wandel, sondern handelt auch von Zukunftsentwürfen für diese Region. Der vorliegende Band mit 24 Arbeiten Bätzings aus den Jahren 1978 bis 2008 - von seiner Frau herausgegeben mit einem bloß Werbezwecken dienenden Vorwort Reinhold Messners - verdeutlicht überdies die Haltung dieses überdisziplinären Wissenschaftlers: er lebt und arbeitet zeitweise dort, worüber er forscht, und lässt die unterschiedlichen Standpunkte zu ihrem Recht kommen.

Er kann daher im besten Sinne als eingreifender Forscher im brechtschen Sinne gelten. So ist sein Aufsatz über die "nachhaltige Entwicklung des alpinen Tourismus" am Beispiel des Gasteiner Tals (278ff) nicht nur eine analytisch feine Tourismuskritik, sondern auch eine an den Problemen und Widersprüchen ansetzende Handlungsempfehlung für Bürger und Politiker der beschriebenen Region. Bätzing verbindet Erscheinungen an der Oberfläche (geographische Verhältnisse, scheinbare Naturkatastrophen, ökonomische Interessenlagen usw.) mit historischen und sozial-kulturellen Erkenntnissen derart, dass die widersprüchlichen Zukunftsoptionen für die nachhaltige bzw. (in diesem Fall) zerstörende Entwicklung einer Alpenregion auf der Hand liegen. Im Falle des Gasteiner Tals führten Bätzings Arbeiten in Verbindung mit der Beteiligung der dort Lebenden zu einem Tourismuskonzept, das bis heute das Etikett "nachhaltig" verdient. Verf. verwendet den Nachhaltigkeitsbegriff restriktiv und historisch ›korrekt‹: dieser "stammt aus der Forstwirtschaft und bezeichnet dort eine Nutzungsform, die dem Wald nur so viel Holz entnimmt wie nachwächst" (164), wie es bereits 1993 in seinem Habilitationsvortrag "Nachhaltigkeit aufgrund sozialer Verantwortung" heißt. Anhand eines Vergleichs des bäuerlichen Umgangs mit der Natur in zwei Alpentälern (basierend auf notwendigen Prinzipien wie Akzeptanz der Nutzungsgrenzen, Vermeidung von Über- und Unternutzung natürlicher Ressourcen, Planung von Pflege- und Reparaturarbeit zur Stabilisierung der Kulturflächen usw.) zeigt er, dass die "kommunal" organisierte Kontrolle der nachhaltigen Naturnutzung im piemontesischen Valle Stura (verbunden mit dem römischen Rechtssystem der Realteilung) zum vollständigen Zusammenbruch wirtschaftlicher und kultureller Strukturen führte, während im Gasteiner Tal die "Wirtschaftseinheit Bauernhof" für die Naturnutzung verantwortlich war (nach germanischem Recht), wodurch traditionelle und moderne Lebens- und Produktionsweisen langfristig kombinierbar blieben, was zum ökonomischen Überleben der Bevölkerung beitrug.

Bätzing greift selten explizit auf die marxsche Gesellschaftsanalyse zurück; implizit wird jedoch deutlich, dass Kategorien der marxschen Warenanalyse ebenso zu seinem Repertoire zählen wie historisch-materialistisches Denken. Jeder Aufsatz - egal ob er vom Lawinenwinter 1999 handelt oder vom Weitwanderweg Grande Traversata delle Alpi in den Westalpen - enthält eine geschichtliche Einleitung, die gleichzeitig die strukturellen Rahmenbedingungen für eine ökologische, soziale und kulturelle Darstellungs- und Entwicklungsperspektive des jeweiligen Gegenstands aufzeigt. So wartet Verf. in "Die Schweiz und Österreich als ›Alpenländer‹?" mit profundem historisch-sozialökonomischem Wissen auf und kann damit erklären, warum die Schweiz als typisches Alpenland mit Bergbauernförderung eine aktive Alpenpolitik eher vermeiden will, während Österreich die Alpen inzwischen als "integralen Wirtschaftsraum" betrachtet und folglich eine führende Rolle bei der Umsetzung der "Alpen-Konvention" auf europäischer Ebene einnimmt.

Im eigens für den Band verfassten Beitrag nimmt Bätzing - dem für sein literarisches und alpenpolitisches Engagement italienische, deutsche und englische Auszeichnungen verliehen wurden - kein Blatt vor den Mund, wenn er die Auswirkungen neoliberalen Wirtschaftens auf die Kulturlandschaft Alpen skizziert: "Mit der Entwertung der direkten Ressourcen der Alpen, der Aufwertung der indirekten Ressourcen (Tourismus) und der Ausbreitung ubiquitärer Standorte werden die Alpen wirtschaftlich zur Peripherie gemacht, die [...] vollständig von außen dominiert und beherrscht wird. [...] Das moderne Wirtschaften ist nicht mehr langfristig [...], sondern kurzfristig (Abschreibungszeiträume) ausgerichtet und minimiert aus Kostengründen seine Produktionsaufwendungen, sodass die ökologische Reproduktion der menschlich genutzten und veränderten Natur nicht mehr gegeben ist" (337). Angesichts der Vorherrschaft der alpennahen europäischen Metropolregionen (Wien, München, Genf usw.), die die Alpen lediglich als Naherholungsraum (hin-und-weg) zur Steigerung ihres Marktwerts gebrauchen, warnt Bätzing vor einer Zukunft, in der "völlig neue Landschaftsstrukturen entstehen, die entweder rein sachlich-funktionell geprägt sind (als [...] ortlose Strukturen), oder bei denen aus städtisch-nostalgischen Gründen traditionelle Strukturen museal erhalten oder als fingierte Vergangenheit neu erfunden und neu inszeniert werden (›Heidiland‹ auch dort, wo es nie einen Bezug zu ›Heidi‹ gab)" (343). Die Alpen sind für ihn ein Warnsystem, in dem sich alle problematischen Entwicklungen einer kapitalistischen Gesellschaft früher und drastischer zeigen. Gleichzeitig sind sie eine Region, in der es gelingen kann, "ökologische Stabilität mit kultureller Lebendigkeit zu verbinden" (350), wenn die utopische Dimension der Überwindung der vorgefundenen Gesellschaftsform mitgedacht wird.
Klaus Weber

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 151-153