Andreas Wehr: GriechenlandAndreas Wehr: Griechenland, die Krise und der Euro. Köln 2010. 179 S.

Das Buch ist eine politische Streitschrift und zielt auf aufklärende Intervention; es bleibt daher um polemische Zuspitzungen gegen die Verursacher der kritisierten Zustände nicht verlegen. Verf. hatte sich bereits mit ähnlich angelegten Schriften zum Verfassungsprozess der Europäischen Union (2004) oder der im Anschluss an die Ablehnung der Verfassung in mehreren Referenden ausgebrochenen Krise der EU (2006) auseinandergesetzt. Im aktuellen Kontext kritisiert er einerseits konsequent die aggressive exportorientierte deutsche Wirtschaftspolitik, die er für zentrale Probleme der EU-Peripherie(n) verantwortlich macht, andererseits bestreitet er, dass von der liberalen Binnenmarktpolitik nennenswerte Wohlfahrtsgewinne für die randständigen EU-Staaten ausgingen (173f). Interessant ist, dass er einen Großteil der Quellen dem Wirtschaftsteil der FAZ und der Financial Times entnimmt, so dass - wie schon bei Marx - die Darstellungen der bürgerlichen Tagespresse zum Material für pointierte Gesellschaftskritik werden.

 

Die Krise und der befürchtete Staatsbankrott Griechenlands bilden Angelpunkte der Analyse, die aber darüber hinausgehende Schlussfolgerungen zieht und daher als Diagnose des gesamten polit-ökonomischen Integrationsprozesses gelesen werden kann. Die Exportstrategie Deutschlands und die dominante Stellung "kern-europäischer" Banken habe die geographische Randzone auch zur ökonomischen Peripherie der EU gemacht (21). Die vermachteten wirtschaftlichen Strukturen interpretiert er im Anschluss an Lenin und Hilferding (23ff) als aktuelle Variante eines staatsmonopolistischen Kapitalismus (SMK). Dem stark essayistischen, um zusammengetragene Fakten verdichteten Text ist es geschuldet, dass ein theoretisches Gerüst nur sparsam entfaltet wird. Verf. beschreibt etwa für die BRD den anhaltenden Einfluss der Banken "über den gesamten wirtschaftlichen Prozess", der trotz Abtretung zahlreicher Industriebeteiligungen nicht geringer geworden sei. Er stellt sich somit gegen Thesen von der "Entflechtung der Deutschland AG" oder deren Erosion, ohne sie wirklich zu diskutieren. Machtausübung der Banken erfolge heute "in erster Linie über die Besetzung von Aufsichtsräten, über unzählige, auf persönliche Beziehungen gegründete Verbindungen und über schwer zu durchschauende informelle Kontakte" (27). Mit dieser Hervorhebung personeller Verschmelzungen gesellschaftlicher Funktionseliten legt er wenig Gewicht auf strukturelle Abhängigkeiten des Staates von der Kapitalakkumulation.

Begrüßenswert ist, dass Verf. den ›Fall Griechenland‹ analytisch in andere ökonomische Krisen einbettet. Anhand von Fallstudien zu Lettland, Irland und Spanien wird der Prozess des "Absturzes der Peripherie" in Europa beschrieben. Für die postsowjetischen Länder diagnostiziert er als Ursache für ihren subalternen Status, "dass sie seit 1989/91 über so gut wie keine eigenen Bankensysteme mehr verfügen" (35). Als mit dem Ausbruch der Krise 2008ff die kerneuropäischen Banken Kapital aus den peripheren Regionen abzogen, wurde durch Geldknappheit die Krise importiert. Lettland habe sich als Paradebeispiel für die neoliberale Umstrukturierung nach 1989 erwiesen, indem es den Großteil seines öffentlichen Eigentums privatisierte, Gewinneinkünfte steuerlich privilegierte und unzählige Einwohner ans Ausland verloren hatte. Nachdem die Wirtschaft des Landes zusammenbrach, wurde von IWF und EU-Kommission als Bedingung für Zahlungshilfen eine Verschärfung des neoliberalen Kurses oktroyiert (43f). Ähnlich ergeht es gegenwärtig Spanien. Der grundlegende Konstruktionsfehler des europäischen Stabilitätspakts sei, dass er allein öffentliche Verschuldung sanktioniere, "nicht aber die der Banken, Unternehmen und Privatpersonen" (54), die in Spanien viel gravierender ausfalle.

Im titelgebenden Fall Griechenland argumentiert Verf. gegen die These eines überdimensionierten öffentlichen Dienstes, eines zu großzügigen Rentensystems und ›laxer Arbeitsmoral‹ (67f). Er identifiziert die Schuldenstruktur als ursächlich für die Bereitstellung von finanzieller Hilfe im April 2010: Auch in Griechenland waren es vornehmlich Banken aus den kerneuropäischen Ländern Frankreich und Deutschland, denen bei Zahlungsunfähigkeit Griechenlands hohe Abschreibungen drohten (64). Ausführlich stellt er die wirtschafts- und sozialpolitischen Auflagen dar, die Griechenland zur Gewährung von bis zu 110 Mrd Euro Anleihen erfüllen muss. Obwohl der Katalog auch fortschrittliche Elemente wie bspw. die Einführung eines progressiven Steuertarifs auf alle Einkommensquellen oder Krisenabgaben auf hochprofitable Unternehmen enthalte (76f), bedeute das von der Regierung Papandreou beschlossene Kürzungsprogramm einen politischen Souveränitätsverlust.

Verf. kritisiert die durch Auflagenpolitik durchgesetzten Entmachtungsprozesse von Regierungen auch in anderen EU-Staaten (102, 175f) auf der Folie nationalstaatlicher Souveränität. Der Nationalstaat "als Hort der Demokratie" müsse verteidigt werden (176) - eine These, die zumindest innerhalb der politischen Linken kontrovers diskutiert wird. Die Ereignisse seit der Veröffentlichung bestätigen aber die Ansicht von Verf., dass die europäische Krisenpolitik Entdemokratisierung befördere. So wurden im Herbst 2010 die Ergebnisse bei den griechischen Kommunalwahlen unverhohlen danach beurteilt, ob sie die Fortsetzung von Papandreous radikalem Umbauprogramm ermöglichen.

Konstitution und Rettungspakte des Euro als Gemeinschaftswährung interpretiert Verf. klassenpolitisch (88). Inzwischen lasse sich die Fiktion nicht mehr aufrechterhalten, man habe mit dem Euro ein "unpolitisches Geld" geschaffen (96f). Besitzer/innen von staatlichen Schuldtiteln werde im Projekt der ›Rettung des Euro‹ ihr "free lunch" abgesichert (92). Dafür würden inzwischen sogar die Grundlagen des Lissabon-Vertrags umgangen (115). Verf. sieht hierdurch die SMK-Theorie bestätigt, da die Staaten sich allein als Agenten ihrer jeweiligen Finanzkapitale betätigten. In einiger Spannung zu dieser Deutung steht die Aussage, Staatsinterventionen unterlägen "dem Einfluss gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse " und seien daher beeinflussbar (125). Sowohl für Griechenland als auch für die Europäische Union zieht Verf. ein ernüchterndes Fazit. Obwohl ein "bedingungsloses Ja zu Europa nicht länger Staatsräson" innerhalb der BRD sei (173) und die lange bekämpfte "Transferunion" nun Wirklichkeit geworden sei, sieht er zugleich die Möglichkeit, dass sich imperialistisch motivierte EU-Aufspaltungsszenarien unter deutscher Schirmherrschaft konkretisieren (178f). In jedem Fall seien in allen EU-Ländern soziale Rechte bedroht; der beschworene Niedergang des Neoliberalismus finde nicht statt. Im Gegenteil, zeitdiagnostisch zutreffend beobachtet Verf. (177): "Es ist ein kaum beachteter Nebenaspekt der europäischen Krise, dass in ihr die letzten Bastionen der europäischen Sozialdemokratie abgeräumt werden. Dort, wo sie noch an der Regierung sind, dürfen die Sozialdemokraten lediglich die Drecksarbeit für die Kapitalmärkte verrichten, bevor sie auch dort verschwinden. Europa rückt in der Krise nach rechts!"
Alban Werner (Aachen)

 

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 144-145

weitere Besprechungen zum Thema:

Elmar Altvater: Der große Krach oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur. Münster 2010.

Werner Plumpe, unter Mitarbeit von Eva J. Dubisch: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart. München 2010.

BEIGEWUM & Attac: Mythen der Krise. Einsprüche gegen falsche Lehren aus dem großen Crash. Hamburg 2010.

Carmen M. Reinhart, Kenneth S. Rogoff: This time is different. Eight centuries of financial folly. Princeton 2009.

Norman Backhaus: Globalisierung. Braunschweig (Das Geographische Seminar) 2009.

Joseph Vogel: Das Gespenst des Kapitals. Zürich 2010.

Gordon L. Clark, Adam D. Dixon, Ashby H. B. Monk (Eds): Managing financial risks: From global to local. Oxford 2009. 

 

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