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Kategorie: Rezensionen

Alex Callinicos: Imperialism and Global Political Economy. Cambridge u.a. 2009. 288 S.

"Den Imperialismus zu bekämpfen bedeutet ihn zu kennen." (227) Mit diesem Anspruch rekapituliert Verf. alte und beteiligt sich an den neuesten Diskussionen zu diesem weit ausgreifenden Thema.

 

Schon zu Beginn definiert er die zentrale theoretische Frage als jene nach der Beziehung zwischen den "zwei Formen der Konkurrenz, nämlich der ökonomischen und der geopolitischen" (15), deren Zusammenfallen er für das konstituierende Merkmal des kapitalistischen Imperialismus hält. Diese Einschätzung stellt er dar, als stamme sie von David Harvey und ihm selbst. Allerdings müsste man sie vielmehr als eine Fortsetzung eines von vielen geteilten gemeinsamen klassischen Erbes betrachten. In der zentralen Frage der zwischenimperialistischen Konkurrenz unterscheidet Verf. drei sich gegenwärtig auf den Marxismus berufende Positionen: eine behauptet, der heutige Kapitalismus sei transbzw. supranational, weshalb sich geopolitische Konflikte zwischen den kapitalistischen Mächten erübrigen würden; die zweite glaubt, dass die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten das System zusammenhalte und dadurch geopolitische Konflikte verhindere - was zu ähnlichen Schlussfolgerungen führt; die dritte Position schließlich, die Verf. teilt, deckt sich im Grunde mit Lenins klassischer Analyse (obschon er dessen theoretische und empirische Mängel kritisiert), wonach der unterschiedliche Entwicklungsstand der führenden kapitalistischen Staaten "wahrscheinlich im Kontext eines ›lange anhaltenden Abschwungs‹ zu geopolitischen Auseinandersetzungen führen wird" (17).

Das Buch besteht aus zwei Teilen: der eine widmet sich der theoretischen Erörterung des Imperialismus, der zweite einer empirischen Einschätzung seiner historischen Entwicklung bis heute. Teil I untersucht das "klassische Erbe" ausgehend von Marx bis zu denjenigen, die sich in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts mit dieser Frage beschäftigten (Luxemburg, Lenin, Bucharin u.a.). Danach widmet sich Verf. den aktuellen Diskussionen über Wesen und Gestalt des globalen Staatensystems, wie sie vor allem unter Marxisten stattfinden, aber auch allgemeiner im Fachbereich Internationale Beziehungen. In Teil II erörtert Verf. mit bemerkenswerter Wissenstiefe, was uns die langfristige historische Perspektive (Braudels "longue durée") über den seines Erachtens entscheidenden Punkt sagen kann, nämlich über das "symbiotische Verhältnis [...] zwischen Staatsbildung und geopolitischer Expansion einerseits und kapitalistischer ökonomischer Entwicklung andererseits" (136).

Von den vielen Thesen, die zu hinterfragen und zu erörtern wären, lassen sich zwei herausgreifen: die erste bezieht sich auf das Verhältnis zwischen ökonomischer und geopolitischer Rivalität; die zweite auf das Wesen der Konfrontation zwischen den beiden Supermächten im Kalten Krieg. Das "Ökonomische" nimmt Verf. immer noch zu wörtlich, statt es, wie es oft der Fall ist, als die "letzte Instanz" zu begreifen, die durch nichtökonomische Kategorien hindurch scheint. Die seine Imperialismusauffassung prägende Dichotomie zwischen dem "Ökonomischen" und dem "Geopolitischen" wirkt zu starr, wenn nicht die prinzipielle Identität dieser zwei Kategorien unterstrichen wird. Lenin brachte es auf den Punkt, als er davon sprach, dass Politik "konzentrierte Ökonomie" sei. Deshalb ist das Streben der USA nach geopolitischer, d.h. politisch-militärischer Vormachtstellung kein Ziel an und für sich, sondern ein Ausdruck des dem Kapitalismus innewohnenden Strebens nach Profit (eines Merkmals, das ihn von allen anderen Produktionsweisen unterscheidet).

Umgekehrt ist die Auffassung, wonach die Sowjetunion, die Verf. entsprechend seiner politischen Herkunft unter den Begriff "Staatskapitalismus" einreiht, einem ähnlichen Prinzip gefolgt sei, nicht haltbar. Womit man die ehemalige Sowjetunion auch immer vergleichen mag, die Behauptung, sie habe zur selben Kategorie gehört wie das von damaligen Marxisten als "Staatskapitalismus" bezeichnete wilhelminische Deutschland ist alles andere als stichhaltig. Die treibende Kraft des deutschen wie des britischen Imperialismus - ungeachtet ihrer jeweils spezifischen Form - war im Wesentlichen die gleiche: das nackte kapitalistische Verwertungsinteresse. Verf. versäumt es, die notwendige Unterscheidung zu treffen zwischen intrasystemischer Konkurrenz (wie vor 1914 oder innerhalb des westlichen Systems nach 1945) und intersystemischer, das heißt zwischen verschiedenen Systemen, oder zwischen systemischen und kontrasystemischen Kräften (1933-1945 tripolar, im Kalten Krieg 1945-1991 bipolar). Das bedeutet natürlich auch, dass die Aufstellung der Weltmächte nach 1945 nicht von derselben Art war wie diejenige vor 1914, und dass weder Multipolarität im einen noch Bipolarität im anderen Fall das einzige Unterscheidungsmerkmal war. Genauso wenig spielte Großbritannien im kapitalistischen Weltsystem vor 1914 dieselbe Rolle wie die Vereinigten Staaten innerhalb des westlichen Weltsystems nach 1945, wie Verf. zu glauben scheint (142). Im Konzert der europäischen Mächte nach 1815 war Großbritannien nicht mehr als ein primus inter pares, der unter gleichrangigen Rivalen eine ausgleichende Rolle spielte, die zudem mehr Angst voreinander als vor Großbritannien hatten, und sei es auch nur wegen dessen Insellage. Die Vereinigten Staaten hingegen waren im westlichen System nach 1945 das bei weitem mächtigste Land, um das sich die anderen scharten, aus Furcht vor der kontrasystemischen Kraft, wie sie die Sowjetunion repräsentierte und anführte (der Furcht vor dem ›Kommunismus‹).

Hier stoßen wir auf ein weiteres theoretisches Problem: das Problem der Anwendung des Imperialismusbegriffs. Bleiben wir bei der marxistischen Definition, wonach der "Imperialismus" im Grunde nichts anderes ist als die kapitalistische Ausbeutung der Welt - eine Definition, die über den rein politisch-militärischen Begriff "Imperium" hinausgeht, der aus der Zeit vom Anfang der Zivilisation stammt -, dann wird es schon schwierig, das heutige Russland als voll entwickelte imperialistische Macht zu bezeichnen (wenn auch nicht völlig unmöglich, zieht man seinen "inneren Imperialismus" in Betracht). Noch weitaus schwieriger ist es, China als eine solche Macht zu begreifen. Tatsächlich befinden sich beide Länder "im Übergang", wie es der Internationale Währungsfonds (IWF) im Rückgriff auf eine alte marxistische Bezeichnung des ›Ostblocks‹ nennt. Dieser Übergang verläuft allerdings in umgekehrter Richtung hin zum Marktkapitalismus und Imperialismus (im Sinne einer "kombinierten Entwicklung", bei der die wirtschaftliche Macht über die Landesgrenzen ausgedehnt wird). Dabei ist Russland in jenem und China in diesem weiter fortgeschritten. - Dennoch schmälert dies nicht die Bedeutung und den anregenden Charakter des Buches, da Verf. selbst meisterhaft jene "analytische Kraft" demonstriert, die die "marxistische Gesellschaftstheorie auch im 21. Jahrhundert nach wie vor hat" (227).
Gilbert Achcar (aus dem Englischen von Markus Weidmann)

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 142-144

 

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