Martina Sproll: High Tech für Niedriglohn. Neotayloristische Produktionsregimes in der IT-Industrie in Brasilien und Mexiko. Münster 2010. 395 S.

Verf. analysiert in ihrer qualitativen Untersuchung in Brasilien und Mexiko "Kontraktfertigungen  " von Hardware für "Markenhersteller" wie IBM (26) mittels des von Michael  Burawoy geprägten Begriffs des Produktionsregimes (17). Sie knüpft dabei an ihre mit  Boy Lüthje am Institut für Sozialforschung (Frankfurt/M) durchgeführte Forschung an.

  Während Burawoy Produktionsregimes auf der Ebene der historisch variablen Beziehung  zwischen Produktions- und Staatsapparaten ansiedelt (19, 131-36), rekonstruiert Verf.  anhand ihrer Empirie (v.a. 143 Interviews in 19 Betrieben: 13 Kontraktfertiger und 6  Markenhersteller) neotayloristische "Produktionsregimes, die einerseits eine tayloristische  Linienorganisation mit hierarchischen Kontrollinstrumenten aufweisen, diese jedoch  andererseits mit Elementen von neuen Managementstrategien wie Schlanke Produktion,  Just-in-Time oder Qualitätssicherungsstrategien sowie mit einer dezidierten Niedriglohnstrategie  kombinieren" (20, 360f).

Charakteristisch für diesen Neotaylorismus sei "eine verstärkte Polarisierung der Qualifikationsstrukturen  " (301, 362). Sie gründe sich auf anhaltender Fließbandproduktion, "auf  standardisierte und kurzgetaktete Arbeitsschritte zur Erhöhung der Produktivität" (299),  Taylorismus also (jedoch kombiniert mit Rotation und Multiskilling, 271, 274), wie auf  gestiegene Qualifikationsanforderungen etwa bei den zunehmenden Ingenieurarbeiten und  der Materialsteuerung (176, 262, 301). Verf. konstatiert flachere Hierarchien als in traditionellen  tayloristischen Betrieben; Leistungen würden jedoch streng überwacht, regelmäßig  individuell beurteilt, Produktionsziele und deren Einhaltung sichtbar gemacht. Techniken  der "Selbstkontrolle" würden in die hierarchische Kontrolle sehr eingeschränkt integriert  (304f, 362). "Die Produktionsgruppen bleiben der Ingenieursabteilung unterstellt", auf  denen ein hohes Maß verantwortlicher Eigeninitiative und rigide Zeit- sowie Produktanforderungen  lasten (305).
  Während laut Burawoy das Konzept der Klassen gegenwärtige Gesellschaften besser  als das der "racial and gender domination" erkläre (315), formuliert Verf. die These, dass  dem Geschlecht "als einem grundlegenden sozialen Verhältnis eine entscheidende strukturierende  Rolle für Arbeitsorganisation und betriebliche Herrschaft" (19) zukomme. Die  geschlechtliche Strukturierung des Arbeitsprozesses sei aber nicht nur für neotayloristische  Produktionsregimes konstitutiv (362). Sie zeige sich an der geschlechtshierarchischen  Arbeitsteilung. Frauen würden auf niedrig qualifizierte und bezahlte Arbeitsplätze  verwiesen (273, 362). Verf. konstatiert eine Zunahme der Erwerbsarbeit von Frauen und  einen hohen Frauenanteil bei den Kontraktfertigern (209, 218, 307). Aber wachsende  Konkurrenz auch aufgrund technischer Entwicklung etabliere einen Trend zulasten von  Frauenarbeitsplätzen (215, 262).

Als weiteres konstituierendes Moment für neotaylorische Produktionsregimes identifiziert  Verf. transnationale Produktionsnetzwerke, die sich durch asymmetrische Machtbeziehungen  auszeichnen. "Den Hintergrund dafür bilden die ökonomische und politische Geschichte und  die industriepolitische Orientierung der jeweiligen Länder sowie die Art der Einbindung in  den Weltmarkt." (364) In der von Verf. ausgeführten politökonomischen Geschichte Lateinamerikas  wird trotz detailreicher Kenntnisse unzulässig verallgemeinert, dass die "letzten  zwanzig Jahre [...] unter der Maxime neoliberaler Politik" standen (36). Sie unterschlägt die  Linksregierungen in bspw. Venezuela und Bolivien sowie alternative Formen regionaler Integration,  wie die von Hugo Chávez 2001 initiierte Wirtschaftsgemeinschaft ALBA. Für diese  gilt nicht der Schluss, dass sich "die Einbindung in regionale Wirtschaftsverbünde wie das  NAFTA [...] am Beispiel Mexikos eher als Katalysator für soziale Polarisierung als für eine  nachhaltige Entwicklungsstrategie" (365) erwies.

"Kontraktfertigung ist Niedriglohnarbeit - weltweit." (328) Der von Verf. konstatierte  Zusammenhang von Niedriglohn und neotayloristischer Arbeitsorganisation überzeugt  jedoch nicht (329). Denn erstens gilt das zur Begründung herangezogene Babbage-Prinzip  der Ausdifferenzierung von Qualifikationen und Löhnen generell für kapitalistisch-industrielle  Organisation. Zweitens ist Taylorismus etwa in den Industrieländern nicht unbedingt  ein Grund für Niedriglohn. Drittens erkennt Verf. selbst den maßgeblichen Einfluss des  globalen Abbaus sozialer Rechte und der Schwächung der Gewerkschaften auf die  Lohnhöhe (233, 333f). Betriebliche Einbindungsstrategien können jedoch angesichts von  Niedriglohnpolitik und daraus resultierender "Ambivalenz und Beschränktheit auch leicht  in das Gegenteil umschlagen und zur Formierung von Widerstand führen" (344, Fn. 27).  Taylorismus und eine in weiten Teilen repressive Personalpolitik geraten in Widerspruch  zu den Qualitätsanforderungen der flexiblen Produktion (182, 271).

Verf. fordert abschließend "überregionale Formen der Regulation von Arbeit" (357) und  "die Weiterentwicklung eines [...] transnationalen Verständnisses von Kooperation und Solidarität  " (367). Indem sie sich nur auf die "weniger privilegierten Beschäftigungssegmente"  und "einen eher traditionellen Bereich der betrieblichen Produktion bezieht" (366), werden  jedoch neue dominante Herrschaftsformen (sowie Emanzipationsmöglichkeiten) weitgehend ausgeblendet. Zu solchen Formen gehört bspw. die Strategie der nicht neotayloristisch  organisierten Markenhersteller, den Kontraktfertigern "den Zuschlag für höherqualifizierte  Entwicklungsprozesse" nicht zu erteilen (354), um so die (technologische) Vormacht innerhalb  der transnationalen Produktionsnetzwerke aufrechtzuerhalten. Trotzdem stellt Verf.  in Mexiko einen Trend zur Höherentwicklung fest (ebd.). Die Analyse derart widersprüchlicher  Entwicklungen, die das spannungsreiche Verhältnis von neuen Produktivkräften und  Produktionsverhältnissen aufzeigt, ist für erfolgreiche transnationale und demokratische  Widerstandsstrategien zwingend. Jedoch deklariert Verf. im Anschluss an Burawoy, der den  Begriff der Produktivkräfte durch Produktionsbeziehungen ersetzt (125f), die Unabhängigkeit  von Technik und Arbeitsorganisation (280f). Dies führt zu begrifflichen Unklarheiten,  und die teilweise gegenläufigen empirischen Ergebnisse werden nicht in letzter Konsequenz  in eine konsistente Darstellung und (Widerspruchs-)Analyse umgearbeitet. Nichtsdestotrotz  ist die Studie vor allem aufgrund ihrer empirischen Resultate für das Verständnis heutiger  globaler Arbeitsverhältnisse überaus bedeutsam.
Nadine Müller

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 307-309

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