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Kategorie: Rezensionen

Gareth Stansfield: Iraq: people, history, politics. Cambridge 2007. 280 S.

In der Reihe "Hot Spots in Global Politics" erscheint im Jahr 2007 eine Studie mit dem Titel "IRAQ: people, history, politics". Der Autor Gareth Stansfield, Associate Professor für "Middle East Politics" am Institut für "Arab and Islamic Studies" der University of Exeter, verspricht in der Einleitung seines Buches dem Leser, dass er "an objective reading of Iraq's history and political development" anstrebt. Das anspruchsvolle Ziel will er methodisch und strategisch mit einer "'thematic' political history of Iraq" schaffen.

Die grundlegende Idee der Studie ist die Schilderung der Entstehung und Entwicklung des Irak in differenzierten Diskursen, die als theoretische Analyseraster dienen, welche die Themenfelder Geschichte, Gesellschaft und Politik sowie Zukunft des Landes und der Nation Irak umfassen. Der Verfasser identifiziert für seine historische Analyse vier grundlegende Debatten bzw. Diskurse: (1) "artificiality debate"; (2) "identity debate"; (3) "dictator debate" und (4) "state-building and democratization debate". Die Studie ist strikt linear historisch aufgebaut. Die vier Basisdiskurse durchziehen und konstituieren die historische Schilderung. Damit hat G. Stansfield in genialer Weise grundlegende Aspekte isoliert, welche die Studie und damit die komplexen Verhältnisse der Politik und der Gesellschaft des Irak für den Leser verständlich machen.

Im ersten Kapitel wird die ältere Geschichte als "Wurzel" des modernen Iraks vorgestellt. Dies sind die unterschiedlich starken Einflüsse der alten Zivilisationen Mesopotamiens, der arabisch-islamischen Eroberungen und des Osmanischen Reiches. Im folgenden Kapitel stehen die Jahre 1918 bis 1932 im Fokus. Der Autor erläutert das Erbe des Osmanischen Reiches und formuliert die Argumente der "artificality debate". Ist der Irak ein künstlich geschaffener Staat? Diese Frage ist in der wissenschaftlichen Literatur umstritten. Stansfield verdeutlicht, dass der Irak oftmals als ein "zusammengeschustertes Etwas" beschrieben wird: "Iraq is often described as an artifical state, one cobbles together, by imperial powers" (S. 28). Er analysiert etappenweise die erste Aufbauphase des modernen Staates. Dabei setzt er sich mit folgenden Fragen auseinander: Warum wird der Staat in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gegründet? Wie wurden die territorialen Parameter festgelegt und inwiefern determinierte die Politik Großbritanniens die Konstruktion des Staates Irak. Die Rolle der Briten bei der Konstruktion des politischen Irak wird vom Autor kontrovers und ausführlich diskutiert. Danach befasst sich Stansfield mit der Selbstidentifikation der Iraker und mit den Fremdzuschreibungen. Zudem isoliert Stansfield drei wesentliche Punkte, die seiner Meinung nach das politische Leben im Irak steuern: Nationalismus, religiöse Identitäten und ethnische Gruppen. Die Identitätsdebatte befasst sich mit der Frage, wie die politische Mobilisierung der Bevölkerung des Irak in der westlichen wissenschaftlichen Literatur dargestellt wurde und wird. Dabei nennt Stansfield einige Punkte, die ausschlaggebend für die Entstehung der aufgehetzten Stimmung der schiitischen Gemeinschaft im Irak waren. Als problematisch gelten die politische Unterdrückung, die wirtschaftlichen Missstände sowie die kulturellen Eingriffe des laizistisch-arabischen Nationalismus, der den Islam als säkulare Gewalt ersetzte. Des Weiteren sind das Zusammenspiel zwischen dem irakischen und arabischen Nationalismus, das Aufkommen des kurdischen Nationalismus und die Situation von assyrischen und turkmenischen Gemeinschaften Thema des dritten Kapitels. Außerdem stellt der Autor die ethnischen Gruppen des Irak, Araber, Kurden, Turkmenen und Assyrer vor. Das Entstehen des autoritären Staates und die Entwicklung zu einem totalitären Staat zwischen den Jahren 1958 bis 1979, sowie die damit verknüpfte "dictator debate" ist Gegenstand des vierten Kapitels. Die "dictator debate" setzt sich mit der Einbindung des Militärs in das politische Leben auseinander und sucht nach Gründen für den Aufstieg einer autoritären Regierung, die schließlich im totalitären baathistischen Regime von Saddam Hussein gipfelte. Das Kapitel schließt mit der Auffassung des Autors, dass sowohl die steigende Bedeutung der Einnahmequelle Öl als auch der Aufstieg der Ba'th Partei wichtige Einflussfaktoren für die Entwicklung des Irak von einem autoritären zu einem totalitären Staat waren. Im fünften Kapitel werden die Rolle des Iraks in den Kriegen der Jahre 1979 bis 1989 und die Rolle der Person Saddam Hussein thematisiert. Das Eindringen der Iraker in den Iran im Jahr 1980 und den Überfall auf Kuwait im Jahr 1990 hält Stansfield für einen entscheidenden Faktor in der Analyse der gegenwärtigen Situation des Irak. Stansfield betont, dass der Iran-Krieg zu bedeutenden wirtschaftlichen Problemen führte und Anlass zum Angriff auf Kuwait war. Danach wendet sich der Verfasser im sechsten Kapitel den Entwicklungen der Jahre von 1989 bis 2003 zu, die er unter dem Titel "The Pariah State" zusammenfasst. Er erläutert die Erfolgslosigkeit des Aufstands von 1991. Im Folgenden erwähnt Stansfield den Einfluss der brutalen, flächendeckenden, von der UN auferlegten Sanktionen gegenüber dem Irak. Abschließend setzt sich der Autor mit der Invasion der US-Amerikaner im Jahr 2003 auseinander. Im abschließenden Kapitel wird die politische Entwicklung des Iraks nach dem Sturz des Regimes Saddam Husseins beschrieben. Stansfield thematisiert anhand der "state-building and democratization debate", wie Politologen und andere Wissenschaftler die Chancen einer erfolgreichen Demokratisierung nach Saddam Husseins Niedergang sehen. Der Autor geht dabei der Frage nach, wie ein Staat in eine (demokratische) Gesellschaft umgestaltet werden kann, wenn er zuvor autoritär regiert wurde. Um die moderne Geschichte des Iraks zu verstehen, so der Verfasser, müsse man beginnen, die "Altlasten" und die Vergangenheit des Landes anzuerkennen.

Im Fazit zieht G. Stansfield Folgerungen aus seinen Analysen der vier bereits genannten Schlüssel-Debatten. Dabei geht er auf die Schwierigkeit ein, inwiefern die von ihm beschriebenen, teilweise historisch verankerten Einflüsse sich auf das "post-transition environment" auswirken und inwiefern der Irak in Zukunft als Staat überlebensfähig ist. Aufmerksamkeit schenkt er insbesondere der Rolle der Regierung um Premier Nouri al-Maliki und beschreibt mögliche zukünftige Dynamiken in der Weiterentwicklung des Staates Irak. Es sei gleichgültig, ob das Land nun föderal oder unitär strukturiert werden würde, die gegenwärtige Lage sei zu einer "no win" Situation geworden. Man könnte Stansfield vorwerfen die Schlüsse, die er aus der intensiven Auseinandersetzung mit dem Schicksal des Iraks zieht, seien nicht weitsichtig genug. Laut ihm ist der Irak etwas künstlich Geschaffenes und die Intervention von 2003 entfesselte die örtlichen Mächte, welche einst den Irak an den Rand eines zivilen Krieges brachten. Darüber hinaus argumentiert Stansfield, dass die Demokratisierung in einem Land wie dem Irak prinzipiell schwierig, fast unmöglich sei. Stansfield gelingt es aber, ein Werk zu schaffen, das einen guten, zusammenfassenden und informationsreichen Überblick über die Geschichte und Entwicklung des Irak gibt. Ihm gelingt es, ein weites Spektrum an Themen auf wenigen Seiten anzureißen. Auffällig ist, dass Stansfield stets die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit der Historie des Landes betont, jedoch gegen Ende seiner Darstellung die Frage aufwirft, ob historische Belange und Bezüge verantwortlich sein können für all das, was geschehen ist. Dieser Punkt sollte kritisch reflektiert werden, da er damit seine eigenen Aussagen wieder relativiert.

G. Stansfield arbeitet in seiner Analyse von Gesellschaft und Politik des Irak nicht nur die Konstruktion des Staates heraus, sondern er bezieht ebenso die Beweggründe des irakischen Volkes in seine Beschreibungen mit ein. Es gelingt ihm, mit der Identifikation von vier Schlüsseldebatten (artificiality debate, identity debate, dictator debate, state-building and democratization debate), welche für den Autor den Irak seit seiner Gründung als Nationalstaat definieren und dynamisieren, dem Leser einen brauchbaren Überblick und eine strukturierte Analyse über den Staat Irak zu liefern. Das Buch ist allen an der arabischen Welt Interessierten zur Lektüre dringend zu empfehlen, da die vorgestellte Analyse auf ein theoretisches Diskurskonzept zurückgreift, das heute auch für andere arabische Nationen der Region zutreffen dürfte.
Anton Escher, Mainz

Geographische Zeitschrift, 100. Jg. 2012 · Heft 2· Seite 55-57