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Kategorie: Rezensionen

Bernd Jürgen Warneken: Populare Kultur. Gehen - Protestieren - Erzählen - Imaginieren. Hgg. v. Thomas Fliege u.a. Köln, Weimar, Wien 2010. 286 S.

Diese Sammlung von zwischen 1984 und 2003 erschienenen Aufsätzen vereinigt einige der anregendsten Forschungsbeiträge des Autors zur empirischen Kulturwissenschaft. Sie verbindet Grundlagentexte kulturwissenschaftlicher Methodik mit exemplarischen Analysen, die um eine Ethnographie popularer Kultur bemüht sind. Dabei werden Fragestellungen des volkskundlichen "Primitivismus" aufgenommen, um "nach dem Stellenwert vormoderner und nichtmoderner (einschließlich biologischer) Faktoren im gegenwärtigen Alltagsdenken und -handeln zu fragen" (46).

In 13 mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Miniaturen wendet sich Verf. der Körperlichkeit alltäglicher Praxen, Gangarten, Symbolen, Erzählungen, Protest- und Redeformen unterer Sozial- und Bildungsschichten zu. Das Untersuchungsspektrum reicht von weiblicher Gehkultur in der Spätaufklärung bis zum Bedeutungswandel sozialistischer Symbolik der untergehenden DDR; von tübinger ›Gôgenwitzen‹ bis zu Imaginationen des "schönen Augenblicks".

Das Erkenntnisprogramm knüpft an den von der traditionellen Volkskunde überlieferten "weiten Kulturbegriff" an: "In der Gegenwart überlebt das Interesse an einer [...] als eigendynamisch gedachten Volkskultur zum einen in der Zuwendung zu den kulturellen Praxen unterer und marginalisierter Sozialgruppen, zum anderen zu populären Formen der Alltagsästhetik und der massenmedialen Unterhaltung" (10). Um die Gesellschaft nicht in der Kultur verschwinden zu lassen, verlangt Verf., die Einsicht in die "Kulturdurchwirktheit aller Handlungsebenen und Handlungssysteme" (ebd.) mit den "prägenden ökonomischen, technischen, politischen und sozialen Entwicklungen" (28) zu vermitteln. In Aneignung des volkskundlichen Erbes unterscheidet er zwei Linien der "Primitivismusforschung", die in das "Programm eines kritischen Postprimitivismus" (46) überführt werden: ein "evolutionärer Primitivismus", in dem das Primitive "als Keimform oder als noch präsenter Elementarbestandteil moderner Kultur betrachtet" wird, und ein "re-volutionärer Primitivismus", der "in modernekritischer Absicht [...] auf kulturelle Potentiale als vorzivilisiert beurteilter Gesellschaftsformen aufmerksam machen, ja womöglich zurückgreifen will" (34).

Das Hauptinteresse der anschließenden Miniaturen gilt subalternen Formen von Weltaneignung und deren emanzipatorischen Potenzialen. So werden Gehkulturen des aufstrebenden Bürgertums im 18. Jh. als Teil einer widerständigen Alltagskultur vorgestellt, der "die Fußreise statt der Kutschfahrt [...] nicht mehr als Armutszeugnis, sondern als Beweis bürgerlicher Autonomie " (72) gilt, mit der sich u.a. eine "Kritik am bewegungshinderlichen Korsett sowie an hochhackigen, zu engen und nicht wetterfesten Frauenschuhen" (73) verband. Oder es wird die Widersprüchlichkeit eines Bedeutungswechsels wie jener der Metapher vom "aufrechten Gang" in der DDR vorgeführt: verknüpfte diese anfänglich "geistigen Aufstand und körperliches Aufstehen" und verwies auf den "ruhigen und selbstsicheren Schritt friedlicher Straßendemonstranten" (129), erfährt sie bald eine ernüchternde Wende: "›Aufrechten Gangs kann ich nun in die Arbeitslosigkeit gehen‹, schreibt eine Frau aus der Ex-DDR im Herbst 1990" (136). In einer Analyse zur "popularen Apokalyptik der Gegenwart", die Einsendungen eines 1995 im Stern veröffentlichten Schreibaufrufs zum Thema "Weltuntergang" auswertet, wird eine spannungsreiche Beziehung zwischen Eliten- bzw. Gebildetendiskurs und dem Populardiskurs skizziert. Während für Einsender mit Abiturabschluss vor allem "die ›Dummheit der Massen‹" die Apokalypse heraufbeschwört, bewertet die Gruppe mit Volks- und Realschulabschluss den befürchteten Menschheitsuntergang "als Desavouierung des Führungsanspruchs der Eliten" (232). In beiden Gruppen allerdings dominiert der "argumentative Bezug auf wissenschaftliches oder populärwissenschaftliches Wissen" (240). Diese zunehmende "soziale Diffundierung wissenschaftlichen Denkens" lässt Verf. von einer "popularen Wissenschaftlichkeit" (ebd.) sprechen. Obschon die "popularen Selbstbehauptungsstrategien - das Rekurrieren auf Glaubenskraft, auf Tatkraft, auf Lebenserfahrung" - ohnehin nicht dominant sind (ebd.), zeigt sich selbst dort, "wo die populare Apokalyptik sich dem gesellschaftspolitischen Inhalt nach oppositionell gibt, [...] ein unübersehbares Moment von kultureller Subalternität" (244). Die Einsendungen geben Beispiele einer kulturellen Praxis, die Verf. "populare Philosophie" (227) nennt. Sie bilden "Zeugnisse einer Popularkultur der verwissenschaftlichten Welt, die von dieser jedoch in teilweise spezifischer, von sozialen und kulturellen Hierarchien mitgeprägter Weise Gebrauch macht" (245).

Alle Arbeiten lassen eine Sorgfalt erkennen, die sich ins Material einfühlt, ohne Romantizismen auf den Leim zu gehen. Verf. bemerkt zu Recht, dass sich die Renommeeanstrengungen seines Fachgebietes mitunter in Gratwanderungen ausdrücken können, "bei denen der Versuch, zu Unrecht Unterschätztes endlich ins rechte Licht zu rücken, in halsbrecherische Liftungs-Aktionen hinübergleiten kann, in eine volkskundliche Alchemie, die aus dem, was die Elitekultur als Dreck betrachtet, partout Gold zu machen sucht" (29). Umso schätzbarer sind Warnekens Arbeiten, die sich auch im Wissen darum, dass eine "›authentische‹ Volkskultur [...] jenseits der Welt der Massenmedien" (245) nicht existiert, dem Widerspruchsfeld subalterner Alltagskultur zuwenden.
Jan Loheit (Berlin)

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 449-459

 

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