Ulrich Ermann: Regionalprodukte. Vernetzungen und Grenzziehungen bei der Regionalisierung von Nahrungsmitteln. Stuttgart 2005 (Sozialgeographische Bibliothek 3). 320 S.

Die Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln ist in den vergangenen Jahrzehnten einem tief greifenden Wandel unterlegen, der oft plakativ mit dem Stichwort der Industrialisierung der Agrarwirtschaft gekennzeichnet wird. Dazu hat nicht nur die Mechanisierung der agrarischen Produktion und die Zurichtung der Kulturlandschaft nach den Maßstäben des rationalisierten Anbaus beigetragen, sondern auch die Herstellung eines globalen Marktes für landwirtschaftliche Produkte und ihr weltweiter Vertrieb über ausgefeilte, nach Preis, Qualität, Frische etc. optimierte Lieferketten.

Die Nachteile dieses industrialisierten Versorgungssystems haben sich in Problemen der Produktqualität sowie negativen Begleiterscheinungen in den Agrarregionen gezeigt. Die öffentliche Wahrnehmung dieser Probleme unterliegt zudem in regelmäßigen Abständen einer medialen Skandalisierung. Als Reaktion auf dieses Versorgungssystem sind in den Industrieländern, spätestens seit den 1970er Jahren wahrnehmbar, alternative Modi der Nahrungsmittelerzeugung und -vermarktung entstanden. Neben Produktqualität und Produktionsweise, die z.B. als organisch-biologisch oder ökologisch gekennzeichnet ist, wird dabei zunehmend auch eine räumliche Dimension thematisiert. "Produkte aus der Region" sind populär geworden, auch als Resonanz auf großräumige, abstrakte Märkte, deren Qualitätsprobleme u.a. mit dieser Reichweite und Anonymität assoziiert werden. Solche "Regionalprodukte" stehen im Mittelpunkt der Arbeit von Ulrich Ermann, die als Dissertation am Institut für Geographie der Universität Erlangen entstanden ist. Allerdings geht es dabei nicht um die empirische Beweisführung, auf welche Weise die großräumigen Marktlogiken durchbrochen und durch regionale Kreisläufe ersetzt werden können, welche Effekte dies zur Folge hätte etc. Die Arbeit widmet sich diesem Gegenstand vielmehr aus einer kulturalistischen Perspektive und fragt danach, "wie sich Herkunft zur Ware entwickelt und wie Regionalität und regionalbewusste Produzenten und Konsumenten ‚gemacht' werden". Nicht zufällig steht dieser Untersuchungsansatz im engen Zusammenhang zum Begriff des "Geographiemachens", der eine zentrale Bedeutung in Werlens Konzept der Geographien des Handelns bzw. der alltäglichen Regionalisierung einnimmt. Der Markt für Lebensmittel wird als Akteur- Netzwerk begriffen, dessen einzelne Elemente (Produzenten, Konsumenten, Produktketten und -netzwerke) systematisch als Subjekte und Objekte wirtschaftlichen Handelns untersucht werden. Anschließend werden sie im Kontext des Regionalisierungsansatzes mit der räumlichen Dimension konfrontiert. Methodisch lässt sich der Autor von einem qualitativen Untersuchungsansatz leiten. Die verfolgte geographische Produktkettenanalyse aus Akteur-Netzwerk-Perspektive hat sich erst im Zuge einer längeren Auseinandersetzung mit dem Thema entwickelt. Ausgehend von den in den 1990er Jahren zeitweise populär gewordenen Analysen zur geographischen Reichweite von Lebensmitteln wird hier aber keine vergleichende tonnenkilometrische Bilanzierung von Produkten vorgenommen. Der Autor fragt vielmehr, wie sich das Theorem des Regionalen, das sich in Sätzen wie "Landschaft schmeckt!" oder "Bier braucht Heimat" manifestiert, durchsetzen konnte, auf welche Assoziationsmuster dabei zurückgegriffen wird und, vor allem, wie mit dieser Kategorie überhaupt wissenschaftlich umzugehen ist. Der Autor widmet sich vertiefend insbesondere der Frage der "Grenzziehung": er versucht den hybriden Charakter solcher Metaphern, der zwischen wissenschaftlich und alltagssprachlich verortet ist, zu respektieren. Sein zentraler Ausgangspunkt ist, Produkte als "heterogene" Assoziationen zu betrachten, die zugleich "Aktanten" (Handelnde im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie) und Netzwerke sind. Empirisch erfolgt die Suche nach "Regionalität", die sowohl formal die Herkunft von Produkten meint als auch inhaltlich die komplexen Produktionszusammenhänge, die "dahinter" stehen, anhand von nicht-standardisierten Interviews mit Vertretern ernährungswirtschaftlicher Betriebe in der Region Nürnberg sowie mit Angehörigen von Interessengruppen und Berufsverbänden. Diese Interviews wurden ergänzt durch "Alltagsgespräche" mit Verkäuferinnen im Lebensmittelhandel. Parallel wurde eine schriftliche Befragung von Unternehmen in derselben Region durchgeführt. Produktketten und -netzwerke werden auf diese Weise als Spiegelbild arbeitsteiliger Märkte gesehen. Regionalprodukte sind danach Ergebnisse von individuellen und kollektiven Konstruktionsleistungen und nicht objektiv definierbar, ihre Regionalität kann gleichwohl eine nachvollziehbare Substanz besitzen. Dies wird u. a. am Beispiel vom Markenschutz der Nürnberger Bratwurst oder von regional beworbenen Brotsorten ("Kreislaiberl", Neumarkt/Oberpfalz) exemplarisch dargestellt. Abschließend macht der Autor Vorschläge zum Umgang mit Regionalität von Nahrungsmitteln, die durch immer wiederkehrende Qualitätsprobleme des Massenmarktes eine stabile Konjunktur zu besitzen scheinen. Nahrungsmittel werden in dieser Arbeit aus einer neuen Perspektive betrachtet, die die herrschende Trennung zwischen objektiven Produktwelten und subjektiven Konsumwelten überwindet und unter dieser Oberfläche weit verzweigte, sowohl subjektiv als auch objektiv verortete Produktions- und Konsumtionszusammenhänge aufdeckt. In der Überwindung dieser Dichotomie und der Konzeptualisierung von Regionalität als Nähe und Kontext liegt ein wichtiger Ertrag dieser Arbeit. Sie erzeugt eine Offenheit für konkurrierende Bewertungen, die sehr viel weiter führt als simple Gegenüberstellungen von "industriell" und "regional". Der Autor greift auch die Tatsache auf, dass regionale Diskurse in hohem Maße normativ geleitete Diskurse sind und eigentlich nur unter dieser Perspektive richtig eingeschätzt werden können. Sie haben gerade auch als normative Position einen Wert, der im Schlusskapitel noch einmal aufgegriffen wird. Dort wird Regionalisierung als mögliche Strategie für eine nachhaltige regionale Wirtschaftsweise thematisiert, in der Regionalität Gegenstand der Etablierung von Produktionsnetzwerken, der Durchsetzung von Interessen, der intersubjektiven Wissensproduktion und des moralischen Wirtschaftens sein kann. Insgesamt wird das Thema Regionalprodukte auf eine theoretisch anregende und empirisch versierte Art behandelt. Auf diese Weise werden sowohl Beiträge zu einer zeitgemäßen Problemsicht als auch zur richtigen Einordnung von Diskursen und Assoziationen geleistet, bei denen die unterschiedlichsten Verständnisse von Raum und Region eine zentrale Rolle spielen. Welche Disziplin, wenn nicht die Humangeographie, wäre hierfür prädestiniert? Der besondere Beitrag dieser Arbeit für den disziplinären Diskurs besteht darin, zum einen die vielfältige wissenschaftliche Literatur und Diskurslage zum Themenfeld der agrarischen Lieferketten (commodity chains) aufzuarbeiten und zugänglich zu machen. Als sehr anregend ist auch sein Versuch zu werten,die Akteur-Netzwerk-Theorie unter verschiedenen Konzepten und Verständnissen von Raum zu diskutieren, wobei erwartungsgemäß nicht einem euklidischen ("realen") Raumkonzept gefolgt wird, sondern dem kulturtheoretisch konstruierten Netzwerkraum.

Autor: Markus Hesse

Quelle: Die Erde, 137. Jahrgang, 2006, Heft 1-2, S. 52-54