Stefan Thomas: Exklusion und Selbstbehauptung. Wie junge Menschen Armut erleben. Frankfurt/M 2010. 447 S.

Empirischer Kern ist eine "ethnographische" Feldstudie, bei der Verf. ein Jahr lang in der Rolle eines "Forschungshospitanten" (33) der Sozialarbeit in teilnehmender Beobachtung (die Interviews einschloss) mit jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren, "Bahnhofsgängern" des Bahnhofs Zoo, in Berlin verbrachte. Jede Mystifikation und Schauerromantik, die sich seit "Christiane F." mit dem Bahnhof Zoo, der "größten und bekanntesten Straßenszene in Deutschland" (41) verbinden (11ff), will er vermeiden. Ziel ist, "die elementaren Gestaltungsformen von Armut und Exklusion ... anhand einer Extremgruppierung der Armutspopulation" zu erforschen und dabei einen "Bogen zwischen Soziologie und Psychologie zu schlagen" (35).

 

Theoretisch soll dem ein "Subjekt-Integrations-Modell" Rechnung tragen, in dem Lebenswelt, deren subjektive Repräsentation und Handlungen aufeinander bezogen werden. Dem zentralen Begriff der "Integrationals zentraler gesellschaftlicher Bedingung individueller Handlungsfähigkeit" bzw. "notwendiger Voraussetzung zur Realisierung und Entfaltung von Subjektivität" (24f) ist der der "Exklusion" gegenüber gestellt, von der die Untersuchten betroffen sind. Damit ist schon auf der theoretischenEbene die Kategorie "Widerstand" ausgeschlossen. So auch durch einen positiven Begriff der "Identität", der als Anpassungsbegriff gedacht ist und mit dem ein - den Bahnhofsgängern eben verweigerter - "Platz in der Gesellschaft" zu fassen sein soll (226). Das Leben der "Bahnhofsgänger" wird eindrucksvoll geschildert; auch wie in ihrer desolaten Situation subversive und widerständige Impulse und Handlungspläne (363ff) immer wieder im Keim erstickt werden. Soweit Beschreibungen und Überlegungen in die Richtung eines Aufbegehrens gehen (367ff), transzendieren sie diesen theoretischen Rahmen.

Die den Band um das Konzept der Exklusion strukturierenden Dimensionen sind Lebenswelt, Sinn und Handlung, die jeweils in zahlreiche Unterkonzepte ausdifferenziert werden. Die Datenbezüge sind unterschiedlich. Sie reichen von beeindruckenden Deskriptionen der "Szene" über Veranschaulichungen bzw. Konkretisierungen von Lebensproblemen und Handlungsstrategien bis zu Subsumtionen von Passagen aus Interviews und Stegreiferzählungen unter Theorien und Konzepte aus Soziologie und Psychologie. Hier erscheinen (mir) die Bahnhofsgänger wie Negativfolien zu allem Möglichen, was Soziologie und Psychologie an Kriterien gelungenen Lebens zu bieten haben. So fungieren z.B. "drei zentrale Dimensionen" der Anerkennungstheorie Honneths ("Liebe und emotionale Zuwendung", "Recht und Achtung" und "Person und soziale Wertschätzung", 250) als "Leitfaden", an dem die "Anerkennungsproblematik der jungen Bahnhofsgänger untersucht werden soll" (249). Aus der Psychologie werden u.a. die Bindungs- und die Erwartungs-mal-Wert-Theorie bemüht (254ff, 299ff). Inwieweit die zitierten (biographischen) Passagen die jeweiligen theoretischen Deutungen tragen, ist offen - zumal an anderen Stellen dieselben Probleme - etwa mangelndes Selbstwertgefühl - mit anderen als frühen biographischen Erfahrungen, etwa denen mit Ämtern, in Verbindung gebracht werden.

Je enger theoretische Überlegungen mit dem vom Autor so sorgfältig analysierten Leben der Bahnhofsgänger verbunden sind, desto aufschlussreicher sind sie: Dass bspw. die Zyklizität des Alltags, das darin beschlossenen "immer-so-weiter" bei den Bahnhofsgängern nicht die Entlastungsfunktion der Routine hat, die Holzkamp darin sieht (335), sondern zum Verzweifeln ist (das zeigt nebenbei auch den Mittelschicht-Bias der gängigen Zyklizitätsinterpretation).

Bedeutsamer sind die vielfältigen empirischen Daten und sensiblen Beschreibungen der Szene und ihrer Akteure, die das Buch seiner Länge und der Redundanzen, die sich aus den Überschneidungen der Dimensionen ergeben,zum Trotz lesenswert machen.Die vom Verf. erhobenen Daten ermöglichen einen differenzierten Einblick in die Lebensgeschichte(n) und perennierenden Probleme der Bahnhofsgänger. Angesichts der Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten der Bewältigungsstrategien wie Niedergeschlagenheiten der teilnahmsvoll Beobachteten und Befragten (etwa des völlig verwahrlosten "Udo", 354ff), verlieren theoretische Modelle und Interpretationen an Eindeutigkeit:TrotzderÄhnlichkeit ihrer Situation zeigen die Bahnhofsgänger z.T. gegensätzliche Interpretationen ihrer Lebenslagen und eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten (etwa, was Attributionsstile angeht, 344f).

Verf. resümiert als "Kernkonzept" seiner "integrativen Theorie der Armut" (399ff) eine "Exklusions-Desintegrations-Dynamik", mit der, vermittelt vor allem über Arbeitslosigkeit, i.w.S. soziale Exklusion lebensgeschichtlich ein Ausmaß annimmt, das von den Einzelnen kaum noch konstruktiv zu bewältigen ist. Psychische Desintegration ist damit das Grundkonzept, mit dem die "psychischen Subjektantworten" auf Exklusion bezüglich der Dimensionen Integration, Orientierung, Identität/Selbstwert und Handlung verallgemeinerbar fassbar werden sollen. Gleichwohl hat das Buch nicht den Titel "Exklusion und Desintegration", sondern "Exklusion und Selbstbehauptung". Verf. sieht, dass die Überwindung von Armut keine Frage bloß einzelner Maßnahmen ist, worüber "im besten Falle ... ein gesellschaftlicher Konsens", die "Entfesselung der Systemkräfte" an "Ansprüche der Lebenswelt" rückzubinden, anzustreben sei. Ich fürchte, das wird nicht ohne Klassenkämpfe abgehen.
Morus Markard (Berlin)

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 941-942

 

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