David Harvey: Spaces of Neoliberalization: Towards a Theory of Uneven Geographical Development. Hettner-Lecture 2004 with David Harvey. Stuttgart 2005 (Hettner Lectures 8). 132 S.

David Harvey kann zweifellos als eine besonders bedeutsame Ikone der neueren Geographiegeschichte angesehen werden. Mit seinem Buch "Explanation in Geography" (1969), das als gradus ad parnassum des raumwissenschaftlichen Paradigmas gilt, hatte er sich bereits vor vier Jahrzehnten einen international viel beachteten Namen gemacht. Mit seiner "Konvertierung" zum Paradigma einer marxistisch orientierten gesellschafts- und kapitalismuskritischen Geographie ist er zu einer zentralen Leitfigur dieser Arbeitsrichtung geworden und hat für diesen Ansatz mehrere Schlüsselpublikationen vorgelegt.

In diese Kategorie ist auch der vorliegende Band einzuordnen, der aus zwei öffentlichen Vorträgen hervorging, die David Harvey im Rahmen der Hettner-Lecture 2004 in Heidelberg präsentiert hat. Erweitert wird der Band durch einen Essay über "Space as a Key Word", einen kurzen Bericht über die Klaus Tschira Foundation gGmbH sowie eine Photodokumentation der Veranstaltung. Im ersten Beitrag mit dem Titel "Neo-Liberalism and the Restoration of Class Power" vertritt der Autor die gleiche These wie in seinem Buch "A Brief History of Neoliberalism" (2005): Die Doktrin des Neoliberalismus und ihre politische Instrumentalisierung hätten den Zweck und das Ziel, die Macht der herrschenden Klasse wiederherzustellen und aufrecht zu erhalten. Und er besteht darauf, dass etwas, das wie Klassenkampf aussieht und sich wie Klassenkrieg darstellt, auch ohne falsche Scham als Klassenkampf bezeichnet werden müsse (S. 49). Am Beispiel des Irak-Krieges und der Begründungs- und Rechtfertigungsrhetorik der Bush-Administration zeigt David Harvey im Vergleich mit der konkreten Handlungspraxis die Diskrepanzen zwischen den Freiheitspostulaten einer neoliberalen Politik und den Konsequenzen ihrer Umsetzung auf. Die Handlungspraxis wird exemplarisch etwa in den Bremer-Dekreten der von den Besatzern eingerichteten provisorischen Regierung des Irak erkennbar: "What the US evidently seeks to impose by main force on Iraq is a full-fledged neoliberal state apparatus whose fundamental mission is to facilitate conditions for profitable capital accumulation" (S. 8). Der Autor verweist mit diesem Beispiel auf eine für den Neoliberalismus charakteristische Denkfigur: "The conflation of political freedom with freedom of the market and of trade ..." (S. 8). In den folgenden Abschnitten rekonstruiert der Autor jene Mechanismen und Strukturprinzipien des Neoliberalismus, die dazu führen, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer stärker öffnet. Als entscheidender Impuls wird die Emanzipation der Geldwirtschaft von der Realökonomie angesehen: "Neo-liberalism meant, in short, the financialization of everything and the relocation of the power center of capital accumulation to owners and their financial institutions at the expense of other fractions of capital. For this reason, the support of the financial institutions and the integrity of the financial system became the central concern of the collectivity of neo-liberal states ... that increasingly dominated global politics" (S. 18). Ausdrücklich verweist David Harvey auf die Rolle des Staates, der im Neoliberalismus keineswegs irrelevant werde, wie manche Autoren behaupten, sondern dem sogar eine besonders wichtige Funktion für die Legitimierung und Implementierung der neoliberalen Doktrin zukomme. Als entscheidende Konsequenz des Neoliberalismus sieht Harvey die Umverteilung von Einkommen und Reichtum "... either from the mass of the population towards the upper classes or from vulnerable to richer countries ..." (S. 32) an. Diesen Prozess bezeichnet er als "accumulation by dispossession". Er sei durch vier Hauptelemente der Instrumentalisierung gekennzeichnet, nämlich Privatisierung, Finanzialisierung, das Management und die Manipulation von Krisen sowie die Umverteilungspolitik des Staates. Der zweite Beitrag hat den Titel "Notes Towards a Theory of Uneven Geographical Development". Er bietet eine vertiefende Darstellung von marxistisch fundierten Überlegungen zu verschiedenen Prozessen und Entwicklungslinien der kapitalistischen Marktwirtschaft. Die Quintessenz dieser Überlegungen ließe sich in der Behauptung zusammenfassen, dass Kapitalismus und (sozial)räumliche Disparitäten einander wechselseitig bedingen. Im dritten Essay stellt der Autor Reflexionen über den Schlüsselbegriff "Raum" an und präsentiert eine marxistische Interpretation der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Raumdiskurse. Der Band bietet eine überaus anregende Deutung aktueller sozioökonomischer Entwicklungstendenzen und kann vor allem in den Diagnoseteilen überzeugen. Für jemanden, der außerhalb des Paradigmas einer marxistischen Geographie steht, dürfte es allerdings nicht ganz einfach sein, die zentrale These des Autors nachzuvollziehen, dass die globale Entwicklungsdynamik von Wirtschaft und Politik als absichtsvoll und intentional geführter Klassenkampf von oben zu erklären sei.

Autor: Peter Weichhart

Quelle: Die Erde, 137. Jahrgang, 2006, Heft 4, S. 378-379