Drucken
Kategorie: Rezensionen

Benno Werlen: Gesellschaftliche Räumlichkeit 1. Orte der Geographie. Stuttgart 2010.
334 S.
Benno Werlen: Gesellschaftliche Räumlichkeit 2. Konstruktion geographischer Wirklichkeiten. Stuttgart 2010. 362 S.

Benno Werlen stellt mit dem Werk "Gesellschaftliche Räumlichkeit" einen beträchtlichen Teil seines theoriezentrierten Oeuvres neu zusammen, der in Fachzeitschriften und Sammelwerken erschienen ist. Es ist so umfangreich, dass es auf zwei Bände verteilt ist: Band 1 heißt: "Orte der Geographie" und Band 2:"Konstruktion geographischer Wirklichkeiten". Es handelt sich somit nicht um das Opus magnum der Sozialgeographie, sondern um eine persönliche Anthologie aus fast dreißig Jahren Ringen Werlens um die richtige Sozialgeographie.

Eine solche Anthologie ist in der Geographie nicht sehr häufig, aber bei Philosophen und Gesellschaftstheoretikern, insbesondere solchen, die bei Suhrkamp veröffentlichen, recht verbreitet. Insofern Benno Werlen in der Disziplin Geographie ein herausragender Philosoph und Gesellschaftstheoretiker und der Steiner-Verlag gleichsam der Suhrkamp für die Geographie ist, passt diese Konstellation in die disziplinäre Landschaft oder - näher beim Titel - ist der Steiner-Verlag der richtige Ort für ein solches Unternehmen.

"Orte der Geographie", erklärt Benno Werlen gleich auf der ersten Seite des Vorwortes des ersten Bandes, ist nicht konventionell als Geographie des Wo (der Orte) zu verstehen, sondern als Orts- oder Positionsbestimmungen der modernen Sozialgeographie. Ob die Titelgebung also nur im herkömmlichen Sinne metaphorisch gemeint ist oder ob damit gleichzeitig eine konstruktivistische "Realität" gemeint ist, kann ich nicht abschließend beurteilen, dem Epilog nach, auf den noch einzugehen sein wird, aber eher nicht.

Im Band 1 werden in vier Kapiteln Aufsätze Werlens zur Entwicklung der (Sozial-)Geographie vorgestellt. Im ersten Kapitel geht es um "wissenschaftshistorische und disziplinäre Kontexte", im zweiten um "Ontologie und Methodologie". Im dritten schließlich um "theoretische Perspektiven". Verständlicherweise sind diese Rubriken nicht sehr trennscharf, weil die Texte ja für sehr unterschiedliche Kontexte verfasst wurden, aber doch ein wenig hilfreich für eine erste Einordnung. Im Band 2 werden Segmente präsentiert wie "räumliche Verhältnisse" (hier geht es vor allem um den Raumbegriff), "kulturtheoretische Wende" (hier geht es vor allem um Identität und Körper), "Territorialisierung und Globalisierung" (Regionen und Regionalismus), das alltägliche Geographiemachen in der Praxis sowie die Schnittstellenfunktion der Geographie im ökologischen Kontext.

Sicher ist es verdienstvoll, die verstreuten Publikationen Benno Werlens zusammen zu tragen und redaktionell zu überarbeiten. Denn wie die Analyse von M. Steinbrink et al. gezeigt hat (Steinbrink et al. 2010) gehört Benno Werlen zu den wichtigsten lebenden Humangeographen deutscher Zunge. Für alle kommenden disziplinären "Nabelschauer" (was nicht abwertend gemeint ist, schließlich zählt sich der Rezensent auch dazu) ist die Zusammenstellung sicher hilfreich, auch wenn man philologisch korrekt besser mit den Originalquellen arbeiten sollte. Insofern ist der Neuigkeitswert dieser Zusammenstellung gering.

Wie kann man ein solches Werk rezensieren? Man könnte auf die konkreten dargestellten Inhalte eingehen, aber zu einem nicht unerheblichen Teil ist darüber einfach die Zeit hinweg gegangen, es hat Diskussionen darüber an anderen Orten gegeben und Benno Werlen selbst hat sich natürlich weiter entwickelt. So hat es wenig Sinn, alte Schlachten nochmals zu schlagen. Ohne konkreten Anlass zu einer intensiven Beschäftigung mit der Geschichte der Sozialgeographie und den Positionen Benno Werlens hierzu hat man wenig Anlass, das Buch von vorne bis hinten durchzulesen, zu sehr sind die Publikationen ihren originären Entstehungszusammenhängen verbunden. Das eine Mal ist dies die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Anthony Giddens, das andere Mal ein Kolloquium zum Gedenken an Wolfgang Hartke oder eine Tagung über den Raumbegriff. Deswegen - es sei offen eingestanden - hat auch der Rezensent das Buch nicht von vorne bis hinten durchgelesen.

Neben seiner Funktion als Nachschlagewerk sagen jedoch die Überarbeitungen, die Überleitungen und die konkrete Zusammenstellung aber natürlich schon einiges über die Sicht Benno Werlens auf die Humangeographie aus. Nicht ohne Grund gibt es in dem Werk in jedem Band ein Vorwort, dann folgt eine Einleitung und schließlich gibt es zu jedem Kapitel nochmals eine Einführung. Im ersten Band ist auch noch ein Prolog dazwischen. Auf diese Weise wird dem Leser also eine Hilfe für die Einordnung der - mehr oder weniger originär wieder abgedruckten - Texte gegeben.

Ganz am Ende des zweiten Bandes gibt es zwar keine Synthese oder eine Conclusio, aber doch einen "Epilog". Obwohl dieser Epilog mit sechzehn Seiten nicht sehr umfangreich ist, so ist er doch sehr lesenswert. In diesem extra für die beiden Bände geschriebenen Schlusswort manifestiert sich schon so etwas wie das Vermächtnis des Benno Werlen. Dieser Originalbeitrag kreist sehr stark um den Leitbegriff "Gesellschaftliche Raumverhältnisse". Die Trias von Handeln und Struktur, Handeln und Körper sowie Körper und Raum-Räumlichkeit sind erweiterte Relationierungen der "gesellschaftlichen Raumverhältnisse" mit dem Fokus auf Macht. Allerdings lässt die Fixierung auf die letztlich doch individualistische Handlungstheorie eine strukturelle Macht - etwa im Foucaultschen Sinne - nicht ernsthaft zu. Unverrückbarer Ausgangspunkt bleibt nämlich die Handlungstheorie von Giddens. Der Wechsel von Raum zu Handlung bzw. Handeln wird als "kategoriale Wende" bezeichnet. M. E. ist es allerdings nicht ein Wechsel der Kategorie, sondern eher der Perspektivenwechsel gemeint, und dass Werlen mit seiner Betonung des Primates des Handelns gegenüber dem (Container-)Raum die Geographie von den Füßen auf den Kopf gestellt hat. Dieses Bild taucht beim Rezensenten in Abwandlung des Diktums von Karl Marx auf, der von sich sagte, er habe Hegel vom Kopf (des Idealismus) auf die Füße (des Materialismus) gestellt.

Obwohl viel von der gesellschaftlichen Konstruktion des Raumes usw. die Rede ist, hat es den Anschein als hätten die neueren Debatten, zum Beispiel aus der Systemtheorie oder der Actor Network Theorie, und generell der gesamte (De-)Konstruktivismus bei Benno Werlen wenig Spuren hinterlassen. Die Kritik am Biologismus bzw. Naturalismus (Lebensraumkonzept) und an der Geopolitik bzw. dem methodologischen Nationalismus, mit der der Epilog endet, erfasst die modernen Diskurse nur ansatzweise.

Es bleibt Benno Werlen Dank zu sagen, dass er sich die Mühe gemacht hat, seine verstreuten Beiträge zur Position und Weiterentwicklung der Sozialgeographie hier zusammen getragen zu haben. Damit ist ein Hort geschaffen, auf den diejenigen, die sich weiterhin mit der Geschichte und dem Wesen der Sozialgeographie abmühen wollen und sicher nicht an Benno Werlens Argumenten vorbei kommen, zugreifen können.
Jürgen Pohl


Steinbrinck M.; Zigmann, F.; Schmidt, J.-B.; Westholt, F.; Schehka, P.; Stockmann, A. und Ehebrecht, A. (2010): http://www.raumnachrichten.de/diskussionen/1162-humangeographie

Quelle: Erdkunde, 65. Jahrgang, 2011, Heft 4, S. 423-424