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Kategorie: Rezensionen

Winfried Schenk: Historische Geographie. Darmstadt 2011. 134 S.

Seit vielen Jahrzehnten ist im deutschsprachigen Raum kein neues Lehrbuch der historischen Geographie mehr erschienen, sieht man einmal von entsprechenden Kapiteln in zusammenfassenden Werken wie der von SCHENK und SCHLIEPHAKE (2005) herausgegebenen Anthropogeographie oder dem Lehrbuch Geographie (Hrsg. von GEBHARDT et al., 2007) einmal ab. Insofern ist es höchst begrüßenswert, dass der Lehrstuhlinhaber für Historische Geographie an der Universität Bonn sich der Mühe unterzogen hat, ein Bändchen von rund 125 Seiten zu diesem Teilgebiet der Humangeographie zu verfassen.

Winfried Schenk und Andreas Dix in Bamberg haben wohl die einzig noch verbliebenen, dezidiert diesem Teilgebiet der Geographie gewidmeten Professuren in Deutschland inne, einem vor 1970 relativ breit aufgestellten und durchaus zum „Markenkern“ der Geographie gehörenden Forschungsgebiet, das im Kontext raumwissenschaftlicher und sozialgeographischer, später handlungs- und akteursorientierter bzw. poststrukturalistischer Ansätze massiv an Bedeutung verloren hat. Diese Wende hin zu einer stärker aktualistischen, gegenwartsbezogenen Betrachtungsweise in der Geographie war um 1970 zweifellos überfällig, aber in den Jahrzehnten seitdem wurde in mancherlei Hinsicht das Kind mit dem Bad ausgeschüttet und historisch-geographische Forschungsarbeiten verlagerten sich fast völlig weg von der Humangeographie hin zur Siedlungs- und Landschaftsarchäologie oder zur Siedlungs- und Umweltgeschichte.

Das Buch umfasst sieben unterschiedlich umfangreiche Kapitel. Relativ kurz gefasst, aber aussagekräftig ist das einleitende Kapitel über „Historische Geographie in der Binnensicht und im historischen Umfeld“, in dem Schenk durchaus kritisch die Krise der historischen Geographie um 1970 und deren Ursachen beleuchtet. Leider sehr kurz geraten sind die beiden Abschnitte über historische Geographie außerhalb Deutschlands und historische Geographie im Verhältnis zu Nachbardisziplinen, da aus einem solchen Vergleich der spezifische deutsche Weg noch verständlicher geworden wäre. Kap. 2 gibt eine ebenfalls ganz knapp gehaltene Darstellung der wichtigsten Analysemethoden, angefangen von schriftlich-archivalischen Quellen über die Auswertung von bildlichen Darstellungen bis hin zur Karteninterpretation und Erstellung von historischen Karten. Der Einschub zur Orts- und Flurnamenanalyse mag vor allem den an Karteninterpretation Interessierten nützlich sein. Die folgenden Abschnitte in Kap. 3 bringen den „Grundwortschatz“ dessen, was bis um 1970 als Themenfeld der historischen Geographie oder besser der geographisch-siedlungsgenetischen Forschung eine Rolle spielte (Haus-, Dorf- und Flurformen, historische Bodennutzungsformen, Wüstungsforschung etc.), aber auch einige interessante Gedanken zu Energiesystemen und Kulturlandschaftswandel (hier hätte man auch noch gut die Überlegungen von BRÜCHER, 2009, zu vorindustriellen, industriellen und postindustriellen Nutzungsformen – energy from space vs. energy for space- einbauen können). Auch in Kap. 4 und 5 tauchen mit den Stufenmodellen gesellschaftlicher Raumaneignung oder den vor- und frühgeschichtlichen Ausprägungen von Kulturlandschaft, dem hoch-mittelalterlichen Landesausbau etc. auf relativ viel Raum Themen auf, welche schon für Geographen meines Jahrgangs zu den gut abgehangenen Traditionsbeständen der geographischen Landeskunde gehörten. Daneben stehen – leider nur relativ kurz – solche, bei denen das nicht der Fall ist (historische Geographie und politische Geographie). Für die angewandte Kulturlandschafts- und Denkmalpflege hilfreich und lesenswert sind die Ausführungen in Kap. 6, welche neben der Behandlung von planungsbezogenen Aspekten auf das Thema Kulturlandschaftspflege und dabei auch kritisch auf den normativen Charakter von Kulturlandschaftsverständnissen eingehen.

Die Aufgabe, auf so knappem Raum sowohl einen Überblick über das breite, vorwiegend vor 1970 erarbeitete Wissen der historischen Geographie wie auch über aktuelle Perspektiven zu geben, war gewiss nicht einfach und hätte eigentlich nach einem breiteren Umfang des Bändchens gerufen. Andererseits wird in dieser Knappheit deutlich, welche Perspektiven der historischen Geographie innerhalb der heutigen Humangeographie besser und welche weniger anschlussfähig sind. Für gegenwartsbezogene Geographen sicher spannender als Wildbeuter und Wölbäcker sind beispielsweise die Passagen über historischen Klimawandel und gesellschaftlichen Umgang mit Naturkatastrophen im Wandel der Zeiten. Die traditionell starke Fixierung der deutschen historischen Geographie und siedlungsgenetischen Forschung auf Deutschland durchzieht auch das vorliegende Bändchen; hier über Mitteleuropa hinauszublicken hätte aber wohl den möglichen Umfang gesprengt.
 
Einzelne Passagen des Buches betonen auch immer einmal wieder die Notwendigkeit einer konstruktivistischen Perspektive in der historischen Geographie; zum Kernanliegen des Verfassers gehört diese jedoch nicht. Ihm geht es erkennbar um eine objektorientierte Kulturlandschaftsforschung und eine auch im Hinblick auf Denkmalpflege anschlussfähige historische Geographie. Das ist eine mögliche, aber sicher nicht einzige Perspektive. Die Fokussierung auf historische „Einschreibungen“ in Landschaften blendet die vielfältigen „Einschreibungen“ in den Köpfen vergangener Gesellschaften ebenso wie eine historische politische Geographie weitgehend aus.
 
Es ist das Verdienst des Bändchens von Winfried SCHENK, den Forschungsstand, den die historische Geographie einmal erreicht hatte, kurz zusammengefasst zu haben und zugleich Perspektiven für eine interdisziplinär ausgerichtete Kulturlandschaftsforschung und -pflege zu eröffnen. Denn ein reines „Erinnerungsbuch“, ein „memento mori“ eines früher recht zentralen Bereichs der Humangeographie will und soll der Band ja nicht sein. Ein „Lehr- und Arbeitsbuch“ kann das Bändchen aufgrund seines schmalen Umfangs jedoch auch nicht sein; aus dem kurzen Kapitel über Quellen und Analysemethoden können heutige gegenwartsbezogen sozialisierte Geographen/innen kaum die nötigen Forschungs- und Analysemethoden lernen. So verstehe ich das Buch vor allem als „Einladungsbuch“ an die heutige jüngere Geographengeneration, einmal über den Tellerrand der derzeit gängigen Forschungsparadigmen hinauszusehen und die historische Perspektive und den „Entwicklungspfad“ ihrer Themenstellungen zu bedenken.
Hans Gebhardt, Heidelberg

Berichte zur deutschen Landeskunde, Bd. 85, H.2, 2011, S. 221-222