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Kategorie: Rezensionen

Bryan S. Turner (Hg.): The Routledge International Handbook of Globalization Studies. Oxon u.a.: Routledge 2010, 702 S. 

Das Nachschlagewerk ist in vier Sektionen unterteilt: "Theorien und Definitionen" (Kap. 1-7), "Themenfelder" (Kap. 8-19), "Neue Institutionen und Kulturen" (Kap. 20-28) und schließlich "Kritische Lösungen" (Kap. 29-34). Das Spektrum umfasst u.a. ökonomische und andere Theorien der Globalisierung, Internet, Raum, globale Eliten, Film, Migration und Grenzen, muslimischer Kosmopolitismus, Nahrung sowie Reflexionen zur sozialwissenschaftlichen Globalisierungsforschung.

Die Zuordnung zu den Sektionen ist allerdings nicht immer überzeugend. Warum etwa findet sich "Internet and Globalization" (Kap. 4) von Lior Gelernter & Motti Regev in der Theoriesektion, obgleich keinerlei Theorieangebote zur Relevanz des Internet für die Globalisierung vorgestellt werden? Das gleiche gilt für "Anti-Globalization Movements" (Kap. 5) von Tom Mertes. Dieser Beitrag beinhaltet zwar einen soliden Überblick über die Stationen globalisierungkritischer Bewegungen, aber weder eine theoriegeleitete Einschätzung der Bewegungen noch Aussagen zu (widerstreitenden) Globalisierungstheorien innerhalb der Bewegungen selber (bspw. Imperialismustheorien, Deglobalisierung).


Bryan S. Turner gibt im ersten Kapiteleinen theoretischen Überblick, in dem er drei Stadien der Globalisierungstheorie identifiziert: die frühe Konzentration auf das ökonomische System wurde abgelöst durch die Betonung kultureller Dimensionen und seit Mitte der 1990er Jahre die Hervorhebung der politischen Implikationen (4). Dabei verzichtet der Autor darauf, Globalisierung klar zu definieren, und bietet stattdessen einen Minimalkonsens der meisten WissenschaftlerInnen: die Verdichtung von Zeit und Raum, die erhöhte Mobilität von Gütern, Ideen und Personen sowie die Herausbildung von verschiedenen Formen globalen Bewusstseins (5). Nachfolgend benennt er viel zitierte AutorInnen und Werke, auf die in den übrigen Beiträgen immer wieder Bezug genommen wird.

Die meisten Artikel sind fundierte, einführende Texte, die Grundfragen des jeweiligen Themas stellen und Diskussionen nachzeichnen. So argumentiert Adam McKeown in "All that is molten freezes again: migration history, globalization, and the politics of newness" (Kap. 9) gegen den Eindruck, dass Migration ein qualitativ und quantitativ neues Phänomen der Globalisierung sei. Habibul Khondker fragt in "Globalization, disasters, and disaster response" (Kap. 12), wie natürlich Naturkatastrophen sind. In "Globalization of Crime" (Kap. 13) betrachten Robert Winslow & Virginia Winslow nicht nur die sonst im Kontext von Globalisierung bemühte "Organisierte Kriminalität", sondern auch das Phänomen der "Globalisierung der Straßenkriminalität" (249-259). So ist die u.a. durch den Kolonialismus hervorgerufene extreme soziale Ungleichheit charakteristisch für Länder mit einer hohen Rate an (Straßen-)Kriminalität wie Südafrika. Zentralamerikanische Gangs sind über Migrations- und vermeintliche Kriminalitätsbekämpfungsprogramme eng mit US-amerikanischen verflochten. Die thematischen Beiträge sind allesamt informativ, allerdings stehen sie unverbunden nebeneinander und lassen eine gemeinsame Struktur vermissen. Ein Beispiel für einen gelungenen - und für die Lehre und für die eigene Orientierung nützlichen - Aufbau ist "Global elites" von Jan Pakulski (Kap. 17). Der Aufsatz stellt drei konkurrierende theoretische Perspektiven auf Eliten dar und zeichnet deren Argumentationen nach. Anschließend führt er aus, warum alle drei Ansätze problematisch sind, illustriert dies durch Beispiele und kontrastiert die Ansätze miteinander.  

Es ist jedoch nicht nur die fehlende didaktische Aufbereitung, die die Zusammenstellung der Beiträge tendenziell willkürlich erscheinen lassen; vielmehr tragen dazu auch die Auslassungen bei. Trotz seines Umfangs enthält das Handbuch nur einen einzigen, spezialisierten und im Teil zu "Kultur" platzierten Beitrag zu Gender ("Pluralism, globalization, and the 'modernisation' of gender and sexual relations in Asia" von Michael G. Peletz, Kap.24), und selbst der detaillierte Index listet den Begriff "gender" nur fünf Mal, den Begriff "woman" sogar nur ein einziges Mal auf. Kaum ein Beitrag integriert feministische Perspektiven, ausgenommen "Limiting Theory" von Smitha Radhakrishnan (Kap. 2) zu postkolonialen und poststrukturalistischen Theorien. Sind zwei Jahrzehnte Forschung und Theoretisierung zu Gender und Globalisierung am Herausgeber fast unbemerkt vorbeigezogen? Etwas resigniert resümiert Radhakrishnan denn auch, es sei "weithin akzeptiert, dass in den Sozialwissenschaften, und insbesondere in der Soziologie, feministisches Denken an den Rändern von Globalisierungstheorien verblieben ist" (37). Als indirekte Kritik am gesamten Handbuch führt sie daher schlagwortartig die wichtigsten Innovationen feministischer Forschung für Globalisierungstheorien auf: Kontexte aufzuzeigen, Verknüpfungen sichtbar zu machen und Binaritäten zu hinterfragen, die Unterordnung von Differenzen unter das Allgemeine abzulehnen (38). Wenn der Mainstream der Globalisierungsforschung diese Lek tionen lerne, blieben uns einige der immer noch verbreiteten essentialistischen und kulturalistischen Fehlschlüsse erspart.

Die letzte Sektion des Buches ist betitelt mit "Critical solutions" und enthält ebenfalls informative Beiträge zur Internationalen Arbeitsorganisation (Anthony Woodiwiss: "Globalization and labour: putting the ILO in its place", Kap. 29), zur Globalisierung von Menschenrechten (Thomas Cushman: "The globalization of human rights", Kap. 30), zum Weltsozialforum (Kadambari Anantram u.a.: "Global civil society and the World Social Forum", Kap. 31), zum muslimischem (Humeira Iqtidar: "Muslim cosmopolitanism: contemporary practice and social theory") bzw. zum sozialwissenschaftlichen Kosmopolitismus (Ulrich Beck & Natan Sznaider: "New cosmopolitanism in the social sciences", Kap. 33). Aber auch in diesem Teil bleibt unklar, inwiefern und wofür die Artikel "kritische Lösungen" aufzeigen. Im abschließenden, resümierenden Beitrag "Globalization and its possible futures" (Kap. 34) stellt der Herausgeber elf Thesen über die Globalisierung zur Diskussion. Hatten viele Beiträge gemahnt, Fragen zum Thema nicht binär zu formulieren, so steigt Turner genau so in seinen Beitrag ein: "Die Hauptfrage, die sich aus dieser Textsammlung ergibt, ist, ob Globalisierung Kulturen und Gemeinschaften erodieren lässt oder ob sie weiter bestehen bleiben und sich die Demokratie ausweiten wird." (653) Seine elf Thesen - Globalisierung des Terrorismus, zunehmende (ethnische) Konflikte, Alterung der Bevölkerung im Globalen Norden, Ausbreitung von HIV/AIDS und anderen Krankheiten usw. (654-658) - nehmen vorwiegend problematische Entwicklungen in den Blick. Turners Messlatte für ein positiveres Saldo ist Kosmopolitismus und die Globalisierung von Demokratie. Diese allerdings würden beeinträchtigt von der wachsenden Nachfrage nach "Sicherheit" (659, 663). Als neues Paradigma der Globalisierungsforschung sieht er daher die Betonung der "ungleichen Natur der Globalisierung" und von Fragilitäten (666).

Nicht nur wegen des "gender gap", sondern auch vor dem Hintergrund des resümierenden Beitrags wird das Handbuch dem vom Herausgeber formulierten Anspruch, "einen Überblick und eine kritische Bewertung von Globalisierung als Forschungsfeld innerhalb der Sozialwissenschaften zu geben" (3), nicht gerecht. Auch der Verzicht auf Querverweise oder auf die Vorgabe einer einheitlicheren Beitragsstruktur schmälern den Beitrag, den das Handbuch zur Orientierung bieten kann.
Helen Schwenken

PERIPHERIE Nr. 124, 31. Jg. 2011, S. 521-523

 

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