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Kategorie: Rezensionen

Felicitas Hillmann: Migration als räumliche Definitionsmacht? Beiträge zu einer neuen Geographie der Migration in Europa. Stuttgart 2007. 320 S.

Das Fragezeichen im Titel ist rhetorisch gemeint, der Begriff "räumliche Definitionsmacht" ist der konzeptuelle rote Faden, der die unterschiedlichen in diesem Buch vereinten Studien zusammenhält. Die Autorin geht davon aus, dass mit der Globalisierung seit Beginn der 1990er Jahre die Migration von Arbeitskräften einen qualitativen Wandel durchmachte. Dagegen ist wenig einzuwenden, denn es ist nicht nur die Anzahl von MigrantInnen gestiegen. Vielmehr hat sich auch die Art der Migration verändert. Sie findet immer weniger statt als ein linearer Prozess mit einem in Raum, Zeit und Bewusstsein abgesteckten Start- und Zielpunkt. Dies zeigt sich z.B. daran, wie wichtig in Europa die zeitlich begrenzte, zirkuläre Migration geworden ist, oder an den Kontakten, die MigrantInnen mit dem Herkunftsland unterhalten. Durch diesen Wandel stehen auch die alten theoretischen Modelle zur Diskussion.

 

Das Buch beschäftigt sich mit dem Zusammenhang dieser qualitativen Veränderungen und räumlichen Prozessen. Arbeitsmigration spielt sich auf verschiedenen Niveaus, von lokal bis global, in konkreten Räumen ab. Es geht Felicitas Hillmann um die sich wandelnde soziale Organisation der MigrantInnen im Raum. Als Einstieg dient ihr deren Zugang zu lokalen, regionalen und globalen Arbeitsmärkten. Das erkenntnisleitende Konzept räumlicher Definitionsmacht wurde im Kontext feministischer Stadt- und Regionalforschung entwickelt, um deutlich zu machen, dass Frauen, bewusst oder unbewusst die Räume, in denen sie leben und arbeiten, sozial (mit-)konstruieren. Das gilt auch für MigrantInnen, wobei die Autorin sich auf die konkrete Dimension konzentriert, dabei aber die Bedeutungen und Symbole der sich wandelnden Migra tionsräume vernachlässigt. Das Konzept stellt die Frage "... nach dem Gestaltungspotential, das Migrationsprozesse auf den verschiedenen gesellschaftlichen und räumlichen Ebenen zu entfalten in der Lage sind" (24).

Im Buch werden vier Bereiche von Migration unterschieden, in denen sich die sozial-räumlich strukturierende Wirkung von Migration besonders deutlich zeigt. Vom globalen zum lokalen Niveau sind dies: -internationale Migration im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse; -Migration als gesellschaftliche Kraft mit raumstrukurierender Wirkung; Vorbilder sind die Umwandlung des europäischen Wanderungsraumes in den 1990er Jahren sowie Italien; -Migration und Gender auf nationalem Niveau in Deutschland und im Großstadtmilieu Berlins; -Migration als Agent in lokalen ökonomischen Strukturen, d.h. die Frage danach, ob sie dem Arbeitsmarkt nicht nur folgt, sondern ihn auch (mit-)formt.

Auf dem weltweiten Niveau verursachen Veränderungen in den politischen und ökonomischen Strukturen nationaler Räume neue, internationale Migrationsströme. Man denke an die Manager aus dem Westen, die nach Osteuropa gingen, als dort Marktökonomien und demokratische Strukturen installiert wurden, oder an ostasiatische und indische Informatik-Techniker, die in die USA ziehen. Die Migration hochqualifizierter Personen aus armen in reiche Länder ruft die Frage nach dem brain drain, dem brain gain und der brain circulation auf, die seit dem UN-Bericht der Global Commission for International Migration (2005) nachdrücklich als Ergebnis zeitlich begrenzter Re-Migration die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.

Auf dem Niveau (West-)Europas registriert Hillmann eine Abnahme legaler Arbeitsmigration und eine Zunahme der Migration aus Gründen der Familienzusammenführung sowie der illegalen Zuwanderung. Sie verweist ebenso auf Veränderungen in den Herkunftsländern: eine Feminisierung der Migration und politische Reaktionen auf Immigration und Migrationsstrategien. Unter anderem hierauf stützt sie sich bei der Unterscheidung von drei Migrations(sub)systemen: eines in Nordwest-Europa, eines in Zentral-Europa und eines in Süd-Europa. Skandinavien stellt in ihren Augen wiederum einen Sonderfall dar, da die Immigration hier vor allem Flüchtlinge betreffe. Diese Einteilung beruht auf der Herkunft der MigrantInnen in der Vergangenheit und heute sowie auf unterschiedlichen Typen von Migrationspolitik. Die Kennzeichen der letzteren sind wegen der Veränderungen der letzten Jahre inzwischen überholt, und auch die politischen Antworten in Europa beginnen zu konvergieren. Trotzdem behalten die Systeme eine Kontinuität, die zu unterschiedlichen transnationalen Netzwerken führt, welche ihrerseits wiederum unterschiedliche transnationale soziale Räume hervorbringen. Übrigens ist die Autorin die erste, die erkennt, dass das Konzept des transnationalen Raumes in der Sozialgeographie noch wesentlicher Ausarbeitung bedarf (130).

Auf der Ebene der transnationalen Räume geht Hillmann auf die Verbindung von Migration und Gender ein. Wer frühere Arbeiten von ihr kennt (z.B. Jenseits der Kontinente. Migrationsstrategien von Frauen nach Europa, Centaurus 1996), wird davon nicht erstaunt sein. Mit der fortschreitenden Feminisierung der internationalen Migration hat es noch nichts an Aktualität eingebüßt. Faszinierend in diesem Kapitel ist der Teil über türkische Unternehmerinnen und Beschäftigte in Berlin, ein Thema, das international noch unterbelichtet ist. Es geht der Autorin um die Arbeitsmarktintegration, doch öffnet derartige Forschung auch den Blick für relevante interdisziplinäre Fragen: Wer sind die Frauen, die als selbständige Unternehmerinnen arbeiten? In welchen Sektoren sind sie tätig? Welche Unterschiede bestehen zwischen verschiedenen MigrantInnengruppen und zwischen den Generationen? Kann in diesem Zusammenhang etwas über das Maß an Integration ausgesagt werden, und welche Bedeutung hat dies für die Verhältnisse auf der Ebene des Haushaltes?

Anschließend analysiert die Autorin die Arbeitsmarktintegration auf der Ebene des Stadtviertels und gibt eine Übersicht über die US-amerikanische Debatte um ethnisch strukturierte Arbeitsmärkte. Am Beispiel türkischer UnternehmerInnen in Berlin illustriert sie die Bedeutung "ethnischer Ökonomie". Allgemein ausgedrücktsieht sie ethnische Ökonomie als Vorbild eines Agens für lokale, ökonomische Entwicklung. In der abschließenden Zusammenfassung greift Hillmann auf das zentrale Konzept der Migration als einer räumlichen Definitionsmacht zurück. Dass MigrantInnen die Agency besitzen, auf neue sozial-räumliche Entwicklungen zu reagieren und sie mitzugestalten, ist schließlich das Leitmotiv des Buches.

Die Autorin hat sich mit einer Vielzahl von Themen in der Migrationsgeographie beschäftigt. So stehen auch in diesem Buch die Migration von Hochqualifizierten, Italien als das europäische "Ellis Island", türkische UnternehmerInnen in Berlin und die Genese von und Standpunkte in der USamerikanischen Debatte über ethnisch strukturierte Arbeitsmärkte schwesterlich nebeneinander. Diese Vielseitigkeit hat den Nachteil, dass manchmal die Kohärenz verloren geht. Leider wird auch eine so wichtige Problematik wie die von Grenzen nicht behandelt. Das Buch ist zwar schon vor einigen Jahren erschienen und vielleicht ist einiges empirisches Material veraltet, doch ist das nicht der Kern der Sache. Es geht um eine geographische Sicht auf Migration, die in meinen Augen reich an verschiedenen Schattierungen ist und neue Wege für Forschung sichtbar macht. Die Charakterisierung von Migrationssystemen innerhalb Europas, verglichen mit anderen weltweit, und die Auffassung von Migration als räumliche Definitionsmacht in europäischen Städten sind wichtige Wegmarken.

Ton van Naerssen Aus dem Niederländischen übersetzt von Detlev Haude

PERIPHERIE Nr. 124, 31. Jg. 2011, S. 531-533

 

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