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Kategorie: Rezensionen

Peter Faulstich: Aufklärung, Wissenschaft und lebensentfaltende Bildung. Geschichte und Gegenwart einer großen Hoffnung der Moderne. Bielefeld 2011. 193 S.

Die Problemstellung des Buches: »Wie kann Wissenschaft als Prozess in Öffentlichkeit wirksam werden?« (8) wird zwar immer wieder angerissen – etwa in der Orientierung auf die »gesellschaftliche Produktion von Wissen und dessen Aneignung« (15) –, aber nirgendwo präziser bestimmt oder aber der Bedingungs- und Aktivitätsreichtum entwickelt, den dieses Konzept erfordert.

Angedeutet wird ein Bedingungsverhältnis: indem Vernunft, Kritik und Wissen verlebendigt werden, entsteht der Bedarf nach »öffentlicher Wissenschaft«, und indem die Wissenschaft sich deutlicher der Öffentlichkeit vermittelt, entsteht/wächst der Bedarf nach Vernunft, Kritik und Wissen. Der eher paraphrasierende Umgang mit Begriffen mag sich auch aus dem Umstand ergeben, dass Verf. ihre strategischen Positionen schon in seinen früheren Büchern beschrieben hatte, aber eben deshalb auch knapp hätten eingeführt werden können.

›Aufklärung‹ wird als Epoche, als Prinzip und als Perspektive entwickelt. Überwiegend – von Abstechern unterbrochen – wird die deutsche Aufklärung thematisiert, immer wieder von Kant ausgehend und auf ihn zurückkommend. Der aufklärerische Gehalt seiner Philosophie (»Verbindung von Wahrnehmung und Denken«, 47), sowie deren Folgen (z.B. im Menschenbild, im Recht) werden zusammengefasst. K.P. Moritz, J.H. Campe, Forster, Lessing, wir finden sie alle wieder in Berichten über ihre Lebenswege und ihre Bemühungen um die Durchsetzung von aufgeklärten, aufklärerischen und manchmal republikanischen Prinzipien, Lebensorganisationen und Politik. Das ist interessant erzählt, geht aber nicht über das Bekannte hinaus, und es ist nicht immer nachvollziehbar, warum jetzt diese und keine andere Biographie zusammengefasst wird. Vielleicht will Verf. daran ›erinnern‹, was diese Männer der Nachwelt gaben und offenbar dem Vergessen ausgesetzt ist. Dieses in Bildungsinstitutionen offenbar betriebene ›Vergessen-Machen‹ dieser Aufklärer wäre ein interessanter aufzunehmender Faden, wenn er gleichzeitig Auskunft darüber gäbe, was genau erinnert werden soll.

Der Begriff »Lebensentfaltende Bildung« im Titel, das ist leicht erschließbar, wendet sich gegen ›lifelong learning‹ und bleibt – trotz seines offenbar zentralen Stellenwertes – blass und unterbestimmt. »›Lifelong learning‹ hat aber in der deutschen Fassung als ›lebenslanges Lernen‹ einen negativen Mitklang – von ›Lebenslänglichkeit‹, aus der man nie entfliehen kann, und auf Anpassungstendenzen an eine unbegriffene Wandeldynamik. Und der Begriff Lernen bleibt inhaltsleer, wenn er sich der Tradition und Perspektive von ›Bildung‹ verweigert. ›Lebensbegleitend‹ klingt zu nebensächlich und könnte ›sterbebegleitend‹ werden; ›lebensumspannend‹ oder ›lebensumfassend‹, die ebenfalls als Stichwörter der Debatte auftauchen, haben fast totalitäre Konnotationen. Demgegenüber ist ›lebensentfaltend‹ verbunden mit aktiver Gestaltung und Erweiterung eigener Horizonte und Handlungsmöglichkeiten. Vorzüge haben deshalb zum einen – weil aktiv – ›lebensentfaltend‹, zum anderen der zugegebenermaßen stark aufgeladene Begriff Bildung. [...] Der Begriff ›lebensentfaltende Bildung‹ liegt quer zum hegemonialen wissenschaftlichen und politischen Diskurs, in dem ›Bildung‹ sowieso schlechte Karten hat und als überholtes und überzogenes Konzept dargestellt wird.« (149) Hier werden recht willkürlich Behauptungen von Konnotationen und Bedeutungsaufladungen gesetzt, aber auch die Defensive, aus der heraus der – immerhin neue – Begriff gebildet wird, ist befremdlich. Dieses Abgleiten in eine alltagsweltliche Sprache, die ungenau bleibt und nicht sagt, woher diese Einschätzung kommt und welche Analyse ihr zugrunde liegt, findet sich immer dann, wenn ›Kritik‹ an den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen geübt wird. Insgesamt bleibt der Eindruck, dass ein problemloser Anschluss an Kritik- und Vernunftverhältnisse der ›Epoche der Aufklärung‹ möglich sei, ohne dass dies ausgeführt wird. Die bildungstheoretischen Arbeiten, die sich – z.B. im Anschluss an Heydorn – um die Reformulierung eines wirklichkeitskritischen Bildungsbegriffs bemühen, die konkret aufzeigen, wie die Restbestände eines – sehr unvollkommenen und klassenbezogenen – bürgerlichen Bildungsbegriffs in den Curricula von Schulen und Universitäten zersetzt werden, ja die ›Allgemeinbildung‹, von der Klafki einmal sagte, sie sei die Bildung zum Allgemeinen, sogar ganz aus den ›Bildungsinstitutionen‹ verschwindet, bleiben unerwähnt. Die Kritik an den Verhältnissen ist immer hilflos, was dem Umstand geschuldet ist, dass sie nicht vorkommen und über sie nur etwas – zumeist Negatives – behauptet wird. Damit werden Aufklärung, Bildung, Lernen etc. auf eine Zukunftsleinwand gemalt, von der aus das Bestehende, das nicht gezeigt wird, ›abfallen‹ muss.

Die Besonderheiten der deutschen Aufklärung, die die Kämpfe und Rückschläge in ihr und um sie begreifbarer machen würden, werden nicht herausgearbeitet: dass die ›gute Herrschaft‹ (oder ›vernünftige Herrschaft‹ bei Kant) sich in Deutschland durch Erziehungs- und Beratungsdiskurse legitimierte, die dann den darin enthaltenen besonderen Paternalismus in den diversen ›Reformpädagogiken‹ unterlegten; dass die Biographien der deutschen Aufklärer häufig Hofmeister- und Hauslehrer-Positionen aufzuweisen hatten, also Erzieher, Gesellschafter und Diener waren; dass aus der gesellschaftlichen Position des Bürgertums erklärbar ist, was die deutsche Aufklärung der europäischen als eigenständige Dimension ›schenkte‹: sie entwickelte einen Begriff von Kritik, der am besten mit Reflexivität zu übersetzen ist. Der leider in diesem Jahr verstorbene kritische Theoretiker Heinz Steinert ist eine Fundgrube für derartige Er-/Kenntnisse. Das Bildungsbürgertum, in Abhängigkeit – oder in Diensten – der Aristokratie, forderte Anerkennung (und verhöhnte nicht die Aristokratie, wie dies in Frankreich der Fall war) und konstituierte sich durch eine Selbst-Hinwendung als Variante einer so verstandenen Reflexivität. Diesen Begriff von ›Reflexivität‹, der zugleich immer auch Aufforderung, Selbstverpflichtung und Aufgabe geblieben ist (vor allem in der Erziehungswissenschaft), in seiner deutschen Variante historisch zu verfolgen in seinen Veränderungen über Kant, Hegel, Marx, Adorno, hätte die Spezifik dieser Aufklärungslinie wahrscheinlich freilegen können. Aber Hegel und Marx fehlen ganz und gar.

Obwohl Verf. Experte in Fragen von Weiterbildung innerhalb und außerhalb von Institutionen ist, bleibt die Frage, wie Aufklärung lebensgestaltend und orientierend wirksam werden kann, unbeantwortet. Dass die Vernunft nach 1945 immer Träger fand, die Ideen, Konzepte und organisatorische Phantasie produzierten, wird exemplarisch wiederum an einigen Biographien verdeutlicht (u.a. Götze, Strzelewicz, Meissner, Negt). Es ist ein Lesebuch, in dem interessante Geschichten erzählt werden – aber es ist (noch?) kein Buch über einen bildungstheoretischen Zusammenhang von Aufklärung und lebensentfaltendem Lernen.
Kornelia Hauser (Innsbruck)

Quelle: Das Argument, 54. Jahrgang, 2012, S. 280-281

 

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