Jürgen Hasse, Robert Josef Kozljanič: Gelebter, erfahrener und erinnerter Raum. München 2010. 298 S.

Dass lebensphilosophische Ansätze kein Anachronismus sind, beweisen die Jahrbücher für Lebensphilosophie, die dank des engagierten Arbeitens des Philosophen Robert Josef Kozljanič seit 2005 in seinem Verlag erscheinen. Zur Beschäftigung mit dem gelebten, erfahrenen und erinnerten Raum hat er für dieses offene lebensphilosophische Forum den Geographen Jürgen Hasse als Mitherausgeber gewinnen können. Die Breite der im Band erschienenen Artikel reicht von phänomenologischen, über geographischen bis hin zu kulturwissenschaftlichen Ansätzen.

und Hasse einmal absieht. Auffällig leidet darunter der rote Faden, da die Beiträge sehr eklektisch wirken. Der Vielfalt des lebensphilosophischen Kanons fehlt es, so scheint es, ein wenig an taktischer Schlagkraft in geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskursen rund um den „spatial turn“. Dennoch bietet sich der Band als Fundus für eine tiefergehende Beschäftigung an. Da einige der Texte bereits längst veröffentlichte Klassiker sind, trägt das Jahrbuch somit mehr den Charakter einer Fundgrube, als den eines dezidiert erfrischenden Beitrags für tagesaktuelle Auseinandersetzungen im Wissenschaftsbetrieb. Dass die Zitierweise in den jeweiligen Essays nicht einheitlich ist, erscheint mir als ein weiteres Symptom dafür. Trotz des somit nicht vollends ausgeschöpften Potenzials ist dieses Jahrbuch eine gute Lektüre für das „wissenschaftliche Zwischendurch“.

Nach der von Hasse und Kozljanič gegebenen Einleitung, die über die Vorstellung der folgenden Beiträge nicht viel weiter hinausgeht, wird der Chor der verschiedenen Stimmen – der sich übrigens fast nur männlicher Stimmen bedient – durch einen Artikel des bereits verstorbenen Karlfried Graf von Dürckheim eröffnet. Mit seinem 1932 zum ersten Mal erschienenen Text „Einleitendes zur Untersuchung des gelebten Raums“ erschließt sich direkt das Themenfeld des „gelebten und atmosphärischen Raums“, das in jüngerer Zeit wieder mehr Beachtung in den Kulturwissenschaften bekommen hat. Gleichermaßen gewichtig folgen dann die Beiträge von Herrmann Schmitz und Gernot Böhme. Schmitz‘ Beitrag – der zumindest in dieser Form noch nicht erschienen ist – erweist sich als gut durchdacht und inhaltsreich, obgleich in seiner Verknappung etwas unglücklich. Schmitz skizziert den Problemzusammenhang von Raumformen und Raumfüllung und holt dafür weit aus. Am Begriff der „Situation“ bleibt ihm aber in der Folge nur eine einzige Seite für Antworten auf die von ihm selbst gestellten Fragen. Dafür gelingt ihm aber der stete, eigennützige Verweis auf die von ihm veröffentlichten Werke. Böhmes Artikel hingegen glänzt durch eine bestechende Übersicht, wenn er den Raum leiblicher Anwesenheit und den Raum als Medium der Darstellung diskutiert. Eloquent umreißt er prägnant das kantianische Raumverständnis, verortet in wenigen Absätzen verschiedene Raumkonzepte und richtet den Blick auf aktuelle Forschungsfragen und -aufgaben. Aber auch hier gilt, dass die Freude an diesem Artikel bereits im Jahr 2004 auf Seiten der Leser war. Auch Jürgen Hasse selbst gibt einen Remix-Text zum Besten, über die heimlich erziehende Wirkung schulischer Lernräume. Dies macht er in der von ihm bekannten literarischen Güte: er bildet eine breite Diskussion ab, nennt konkrete Beispiele und erschließt aktuelle Ausblicke. Manche der in diesem Artikel umrissenen Debatten hätte man sich bereits in der Einleitung gewünscht. Darauf folgt ein Artikel von Ute Guzzoni, die eine schöngeistige Tour durch die Welt der nächtlichen Geräusche konzipiert und vielfache Verweise auf Heidegger gibt. In seinem nur begrenzt ausgearbeiteten Raumbezug wirkt der unkommentierte Artikel etwas deplatziert.

Das zweite Kapitel zum „erfahrenen und ästhetischen Raum“ wird von Hans Boesch eröffnet, dessen Artikel „Die sinnliche Stadt“ von 2001 hier nachgedruckt wurde. Darauf folgt der Dürckheim- und Adorno-Schüler Rudolf zur Lippe mit einem exzellenten Artikel zum „Zeit-Ort im post-euklidischen Zeitalter“. Der Artikel über die „Geometrisierung des Menschen“ erweist sich als Schatzkiste für das raumphilosophische Denken. Dem folgt der Geograph Edward Relph mit dem klassischen Text „Geographical experiences and being-in-the-world: The phenomenological origins of geography“ von 1985. Relph ist als Koryphäe der phänomenologischen Geographie (bzw. Humanistic Geography) natürlich mit tonangebend und sein Artikel über die geographische Erfahrung unter Berücksichtigung von Heidegger und Dardel stellt die Begriffe „region“, „landscape“, „space“ und „place“ vor. Der Artikel müsste der fachdisziplinären Öffentlichkeit im Grunde genommen bekannt sein, weswegen sein Erscheinen hier etwas redundant wirkt. Mit Yi-Fu Tuan gesellt sich ein weiterer Vertreter der phänomenologischen Geographie mit einem Artikel über ästhetische Ambivalenzen am Beispiel der (Eis-)Wüste hinzu. Dieser Artikel von 1993 liest sich, wie von Tuan gewohnt, sehr gut, und gehört möglicherweise eher zu den etwas unbekannteren Beiträgen Tuans. Seine exzellente phänomenologische Analyse basierend auf einigen historischen Zeugnissen gibt vor allen Dingen auch aufschlussreiche, methodische Hinweise. Unklar erscheint mir aber, warum diese Texte hier plötzlich vorgelegt werden und vor allem, ob nicht zumindest eine Übersetzung interessant hätte sein können. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob nicht auch neuere Texte aus der deutschsprachigen Geographie an dieser Stelle hätten kompiliert werden können.

Es folgt nun das Kapitel zu „erinnerten und historischen Räumen“. Der Herausgeber Robert Josef Kozljani? selbst liefert den nächsten Beitrag: “Landschaft als physiognomisch-atmosphärisches und geistig-kulturelles Phänomen“. Dieser Artikel erscheint essenziell für verschiedene Diskurse und elementar für das Jahrbuch an sich. Kozljani? versteht es, die verschiedenen Ebenen im Landschaftsbegriff herauszuarbeiten und miteinander zu diskutieren. Die Literatur ist umfassend und die Bezüge weitreichend und aktuell. Der Artikel vermittelt wunderbar zwischen den verschiedenen Thematiken im Band selbst und stellt sich letztlich in gewisser Weise als eine Art Leuchtturm in dieser Ausgabe des Jahrbuchs dar. Im Vergleich dazu wirkt Gerd Vonderach über die „räumliche Erlebniswirklichkeit als fortwirkende Erinnerung“ mit dem Raum-Begriff überfordert. Im parlierenden Erzähl-Stil versäumt es Vonderach klar zu machen, was er eigentlich mit seinem Beitrag beabsichtigt hatte. Sein Hinweis auf die Erzählforschung – z. B. in der Tradition von Wilhelm Schapp – könnte aber letzten Endes durchaus ein interessant zu verfolgender Strang sein. Der Architekturtheoretiker Jörg H. Gleiter rekonzeptualisiert in seinem Beitrag Holocaustmahnmale. Wenngleich er theoretisch nicht so elaboriert wie manch andere in diesem Band vorgeht, so sind seine Beschreibungen und Untersuchungen doch von höchstem Interesse. Er neigt zwar dazu, an manchen Stellen etwas zu simplifizieren, und verbaut sich somit leider in manchen Punkten den Zugang zu einer analytischen Tiefe. Dennoch gehört sein Beitrag zu den eher wertvolleren Essays in diesem Band.

Erwin Straus und Hans Freyer erhalten auf den letzten Seiten des Bandes eine besondere Würdigung. Wolfgang Hasselbeck würdigt den Hauptvertreter der phänomenologisch-anthropologischen Psychologie gebührend. Im Falle von Hans Freyer übernimmt diese Aufgabe Hans-Ulrich Lessing, der es ähnlich souverän macht und auf wenigen Seiten ein dichtes Porträt zeichnet. Dabei gelingt es ihm durchaus in angemessenem Umfang Freyers Verflechtung mit dem Nationalsozialismus zu diskutieren. Sowohl Straus als auch Freyer bekommen dann mit einem ihrer Texte (Straus: „Die Formen des Räumlichen“; Freyer: „Landschaft und Geschichte“) Platz im Jahrbuch und runden den Streifzug durch die lebensphilosophische Auseinandersetzung mit Raum ab. Darauf folgen lediglich noch einige Besprechungen erschienener Monographien.

Die Lektüre des Jahrbuchs mag für manchen erhellend sein und eine Vielzahl spannender Artikel bereit halten. Letztlich überwiegt aber der Eklektizismus, der eher erfahreneren Lesern Mühe machen wird, wenn sie mehr erwarten als ein Panorama über die verschiedenen Möglichkeiten und Wege. Das Fehlen eines besser in der Kompilation verankerten roten Fadens sowie formale Mängel wie die unterschiedlichen Zitierweisen dämpfen den prinzipiell positiven Eindruck etwas. Trotz der beachtlichen und lobenswerten Bemühung, die Lebensphilosophie stärker in den Diskurs (über Raum) einzubringen und zu rehabilitieren, kann man sich des Gesamteindrucks nicht erwehren, dass hier leider vorwiegend alter Wein in neue Schläuche gefüllt wurde.

Simon Runkel, Bonn

Geographische Zeitschrift, 100. Jg., 2012, Heft 3, Seite 184-185,