Rain Zimmering: Zapatismus. Ein neues Paradigma emanzipatorischer Bewegungen. Münster 2010. 300 S.

Obwohl das »Zapatistische Heer zur Nationalen Befreiung« (EZLN) im südöstlichsten Bundesstaat Mexikos die Antiglobalisierungsproteste der letzten 25 Jahre wie kaum eine andere soziale Bewegung inspirierte, hat das Interesse an ihr durch nachlassenden Neuheitswert, Ausdifferenzierungen innerhalb emanzipatorischer Bewegungen, gegenwärtige Grenzerfahrungen der Zapatisten selbst oder die Gewaltwelle im Zuge des mexikanischen »Drogenkriegs« abgenommen (11).

 

Intention des Buches ist, die Zapatisten mit einer Sammlung eigener Aufsätze, Vorträge,  Artikel und Interviews wieder in den Blickwinkel politischer Reflexion zu rücken. Verf. wertet dabei ihre Erfahrungen als Begleiterin der »Internationalen Zivilen Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte« in Chiapas in den Jahren 1998 und 2002 aus (Kap. 4), als Teilnehmerin des »Marsches für die indigene Würde 2001« und der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung »Die andere Kampagne« von 2006 (Kap. 5) und verknüpft sie mit wissenschaftlichen Analysen des mexikanischen Gesellschaftswandels durch Ansätze aus den Transitionstheorien (Kap. 1). Dabei wird der Aufstand von 1994 auch vor dem Hintergrund der besonderen Auswirkungen des Neoliberalismus auf Indigene analysiert (Kap. 2) und über die symbolische Bildersprache des zapatistischen »Neo-Muralismus« reflektiert (Kap. 3).

Das wissenschaftliche Fundament bilden Transitionstheorien, die Juan Linz und Alfred Stephan von Samuel P. Huntingtons These über die »dritte Demokratisierungswelle« abgeleitet haben. Dieser Ansatz geht davon aus, dass sich durch Installierung demokratischer Regierungsformen in Lateinamerika zwischen den 1970er und 90er Jahren »ein eigenständiger Typ des Übergangs von nichtdemokratischen zu demokratischen Regierungsformen herausgebildet hat« (57). Für Mexiko sei dies »das Zerbrechen des großen Einheitsmythos und der Pluralismus verschiedener Mythen […] von einem auf homogenisierende Integration ausgerichteten autoritären zu einem pluralistischen politischen System« (42), bei dem es notwendig sei, im Prozess der Neuformierung der Gesellschaft die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen »mitsamt ihren mythischen Sinnkonstruktionen« anzuerkennen und »in eine neue politische Gemeinschaft« zu integrieren (45). Während die »Vertreter des alten Systems Vereinbarungen mit den inzwischen gestärkten Oppositionsparteien über die Modalitäten des zu erwartenden Wechsels« getroffen hätten (63), stelle der Zapatismus ein synkretistisches, mythenzerstörendes Ergebnis dieser Prozesse dar. Ihm sei es gelungen, durch kritische Aneignung und Zusammenführung verschiedener politischer Richtungen etwas Neues zu entwickeln.

Dieses Neue liege in der Verwerfung eines »geschichtsphilosophisch ausgezeichneten Großsubjekts, ohne aber die Gesellschaft im Ganzen unter Kontrolle zu bringen« (76). Ihm nähert sich Verf. mit Bezug auf Habermas‘ Diskurstheorie (71, 233f). Die Zapatisten hätten zwar maßgeblichen Anteil am Niedergang des autoritären politischen Systems der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die Mexiko über 70 Jahre regierte, aber sie strebten »eine zukünftige Transformation an, die eine neue Gesellschaft von unten« schaffe. Sie reduzierten »ihren Widerstand auf die Form einer Verweigerungshaltung mit dem Anspruch, eigene Organisationsformen zu finden und auf die Regierungspolitik Einfluss zu nehmen, was mit dem Begriff des ›zivilen Ungehorsams‹ verglichen werden könnte« (129). Mittels einer strategischen Anlehnung an zivilgesellschaftliche Gruppen sei die EZLN so zu einem Akteur geworden, »der nicht nur Widerstand übt, sondern sogar gestaltend und souverän in das politische Leben des Landes« eingreife (117). Sie könne als neue soziale Bewegung gekennzeichnet werden, da sie sich gemäß der habermas‘schen Klassifikation von Selbstbeschränkung der Zivilgesellschaft an die Amtsinhaber richte, Entscheidungen zu revidieren sowie an das »Staatsbürgerpublikum« und dessen Gerech-tigkeitssinn. Das System werde erhalten, in einigen Punkten jedoch verändert, wodurch volutionärer sozialer Wandel erzeugt werde. Gleichwohl, so merkt Verf. kritisch an, werde »keine Antwort auf die neoliberale Vermachtung der politischen Öffentlichkeit durch den wachsenden nicht legitimen Einfluss von Lobbygruppen auf die Politik und die Einschrän-kung des politischen Handlungsspielraumes des Nationalstaates durch transnationale Unternehmen als neuem politischen Akteur gegeben« (71).

Trotz seiner Heterogenität ist das Buch stringent. Der theoretische Zugang ist jedoch allzu optimistisch. Postmoderne Ansätze, die die ökonomischen Verhältnisse ausblenden, sind nur sehr begrenzt auf die mexikanischen Verhältnisse übertragbar.Zu kurz kommt, dass der Zapatismus gerade als Reaktion auf ökonomisch motivierte Gewaltprozesse entstanden ist. Positiv ist die Einordnung der Bewegung in den Kontext landesweiter, um politische Transformation und sozialen Wandel bemühte, außerparlamentarische Bewegungsproteste.
Zudem gelingt Verf. eine geopolitische Analyse der parteiübergreifenden, aufstands- und drogenbekämpfenden Counterinsurgency-Konzepte nach US-amerikanischem Vorbild, die die aktuellen Ereignisse in Chiapas treffend in den mexikanischen Zusammenhang kontinentaler Militärstrategie stellen.

Torben Ehlers (Hannover)

Quelle: Das Argument, 54. Jahrgang, 2012, S. 474-476