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Kategorie: Rezensionen

Anton Escher und Sandra Petermann: Tausendundein Fremder im Paradies? Ausländer in der Medina von Marrakech. Würzburg (Muslimische Welten. Empirische Studien zu Gesellschaft, Politik und Religion 1) 2009. 276 S.

Eine der wesentlichen intellektuellen Quellen der Neuen Kulturgeographie ist sicherlich die postkoloniale Theoriebildung und hier vor allem die Arbeit von Edward Said zum Orientalismus. Die verschiedenen Sichtweisen des Westens auf den „Orient“ sowie das ambivalente Spiel mit Identitäten und Alterität, das sich mit den Vorstellungen zum Orient verbindet, weisen seit langem eine ungebrochene Faszination für die Neue Kulturgeographie auf. Und diese Bezauberung für die intellektuellen Möglichkeiten einer kulturgeographischen Beschäftigung mit dem Orient merkt man der außergewöhnlichen Studie von Anton Escher und Sandra Petermann deutlich an.

Die theoretisch wie empirisch angelegte Untersuchung der aufgrund des Zuzugs von westlichen Ausländern induzierten physischen und sozialen Transformation in der Medina von Marrakech nimmt als ihren Ausgangspunkt die vielgestaltigen geographischen Imaginationen des Westens zum Orient, wie sie etwa Derek Gregory profund für die Kulturgeographie ausgearbeitet hat. Das Buch von Escher und Petermann schlägt mit dieser Ausrichtung eine Brücke zwischen empirischer geographischer Orientforschung und der Neuen Kulturgeographie. Die leitende These der Studie sieht in dem „westlichen Diskurs über [die Stadt] Marrakech [...] eine Zuschreibung des imaginären Orients“ (16). Welche lebensweltlichen Konsequenzen diese diskursive Zuschreibung in der Altstadt von Marrakech zeitigt, wird in den 273 Seiten der Untersuchung auf Basis von 192 geführten qualitativen Interviews sowie von eigenen Kartierungen und Sketch Maps der Interviewpartner/innen tiefgehend eruiert. Das Buch ergänzen 45 Farbtafeln im Anhang, die sich aus aktuellen und historischen Fotografien, historischen und thematischen Karten, Grundrissen von Riads sowie Sketch-Maps einiger Interviewpartner zusammensetzen und durch kurze Erläuterungen der Autor/innen in den Kontext eingeordnet werden.

Die Autor/innen erkennen eine Neugestaltung der Medina, die sich sowohl in baulichen Veränderungen, die die neu zuziehenden westlichen Ausländer vornehmen, als auch in dem weiteren Bevölkerungsaustausch in der Altstadt ausdrückt. Sie sehen in diesen Prozessen ein neues kulturelles Phänomen, dass sie mit dem Neologismus des „Orientmorphismus“ bezeichnen. Das Zusammenspiel von westlichen geographischen Imaginationen und einem basalen westlichen Kosmopolitismus führt in Marrakech aufgrund der politisch-ökonomischen Globalisierung zu einer materiell-kulturellen Umgestaltung der Medina. Phänotypisch wird dabei die alte Medina scheinbar restauriert. Diese scheinbare Restaurierung schafft jedoch eine andere kulturelle Wirklichkeit als die Medina vorher abbildete. Es ist nunmehr der Nachbau in Form einer Restaurierung nach westlichen Vorstellungen über den Orient. „Es handelt sich nicht um eine Erneuerung oder Restaurierung, sondern um eine neue Gestaltung des Ortes mit orientalischer Referenz und imaginärer Reflexion sowie der Nutzung und der Erfindung eines Zwischenraumes mit weitgehender Setzung von selbst definierten Normen einer kosmopolitischen Klientel zwischen Kulturen und zwischen Gesellschaften“ (28). Diese sich in der Medina abzeichnende Orientmorphose als eine „individuelle und kollektive Produktion des irdischen Paradieses an einem mythisch aufgeladenen Ort sowie die Veränderung seiner Bewohner bzw. Besitzer“ (187) ist letztlich die Umgestaltung einer Stadt nach den Gesetzen des Marktes. Die ökonomisch wohlhabenderen Ausländer passen den realen Raum einer nordafrikanischen Altstadt an ihre kulturellen Vorstellungen von maghrebinischer Realität an. Escher und Petermann sehen in diesem Orientmorphismus eine evolutionäre nächste Stufe des Orientalismus von Edward Said, die im Kontext der Globalisierung zu physisch-materiellen und sozialen Veränderungen aufgrund der westlichen Imaginationen von Orient in der Medina von Marrakech führt. Diese Modifikationen stellen sich in der Realität als ein genuiner Gentrifizierungsprozess dar, wie die zwei Mainzer Geograph/innen eindrucksvoll aufzeigen.

Die grundlegende Motivation des Prozesses sehen die Autor/innen in der Konstruktion der Medina von Marrakech als ein irdisches Paradies im westlichen Diskurs, wie schon im Titel des Buches angedeutet. Die geographischen Imaginationen sind zwar vielschichtig und wechselhaft, es lässt sich aber dieses eine Hauptmotiv vom irdischen Paradies aus den unterschiedlichsten Geschichten und Vorstellungen herausdestillieren. Die Zuschreibung des Paradieses ist ein aktiv hervorgebrachter Mythos, den Escher und Petermann an drei Fixpunkten festmachen: an dem Maler Jacques Majorelle (1886-1962), der lange in der Stadt lebte und arbeitete, an dem Hotel La Mamounia als eine Mitte der 1920er Jahre errichtete Manifestation kolonialer Vorstellungen des Orients für eine elitäre Jetset-Gemeinde und an der Hippie-Bewegung der 1960er und 1970er Jahre mit ihrer Suche nach individueller Freiheit. Gerade in dieser letzten Gruppe der Hippies erkennen die Autor/innen die Vorbereitung der folgenden Gentrifizierung der Medina durch westliche Ausländer, da diese als erste von außen kommende Gruppe Riads in der Medina anmieteten und im Zuge der Rucksackreisenden Berichte über die „Hippies“ in Marrakech in den westlichen Medien zirkulierten, die erstmals die Aufmerksamkeit von breiteren Schichten in der westlichen Bevölkerung auf die Medina von Marrakech richtete.

Eine Stärke der Studie ist die genaue Nachzeichnung des Wandels in den Darstellungen über die Medina von Marrakech in den Reiseberichten, Reiseführern und den späteren „instruktiven Reiseführern“ (90). Die Autor/innen zeigen die evidente Fokussierung dieser Medien auf das „Orientalische“ der Medina gründlich auf, wie etwa schnelle Wechsel, aus Affekten und wechselseitigen körperlichen Reaktionen bestehende Atmosphären oder bauliche Spezifikationen, und plausibilisieren das Spüren nach dem Authentischen als Erleben der Medina von Marrakech. Mittelpunkt der in den Berichten und Reiseführern konstruierten Imaginationen ist das Riad, das Wohnhaus in der Medina. Escher und Petermann zufolge stellt das Riad die Reifikation des authentischen Orients dar und rückt daher in das Zentrum des Begehrens der westlichen Ausländer. Im Ergebnis steht eine Gentrifizierung der Medina, die mit einer Verdrängung der ursprünglichen Bevölkerung verbundenen ist. Die ärmere autochthone Bevölkerung wohnte in der Medina überwiegend zur Miete und musste nach Übernahme der Häuser durch westliche Ausländer fortziehen. Der Prozess ist in Marrakech vergleichbar mit der Gentrifizierung in westlichen Städten. Escher und Petermann gelingt es, diese urbane Veränderung in neutraler und analytischer Weise darzustellen, ohne Partei für die eine oder andere Seite zu ergreifen. Sie stellen prägnant die Sonderrolle der westlichen Fremden heraus, die aufgrund ihrer ökonomischen Macht in der Lage sind, sich in die Stadt einzukaufen und das traditionelle soziale Gefüge in der Medina massiv zu verändern. Geschickt ist die Darstellung dieses komplexen und vielschichtigen Prozesses einer „internationalen Gentrifizierung“ anhand eines Interviews mit einem Schlüsselakteur, einem belgischen Architekten, der die Aufwertung der Bausubstanz in der Medina für den internationalen Immobilienmarkt detailliert schildert. Escher und Petermann können so die Gentrifizierung plausibel nachzeichnen und gewinnen gleichzeitig Raum für die weitere Darlegung ihres Schlüsselbegriffs, der Orientmorphose als Reifikation westlicher geographischer Imaginationen.

Die mit 192 qualitativen Interviews und verschiedensten Kartierungen und Sketch Maps außergewöhnlich ausführliche Empirie, die die Ergebnisse von eigenen Forschungsprojekten und studentischen Arbeiten zusammenträgt, welche die Autor/innen in dem Zeitraum von 1999 bis 2006 durchgeführt bzw. angeleitet haben, stellt anhand der Ausarbeitung von sieben Sozialfiguren die Ergebnisse der Arbeiten dar. Die konstruierten Sozialfiguren des Künstlers, Jetsetters, Kulturunternehmers, Gewerbetreibenden, Touristen, Rentners und Eingeheirateten werden nicht als einfache biographische Portraits von Individuen angelegt, sondern als eine Generalisierung des jeweiligen Sozialtyps. Dieses Vorgehen und die konzeptionelle Breite der verschiedenen Figuren erlaubt es auf der einen Seite, viele der erzielten Befunde aufeinander aufbauend darzustellen. Dies lässt ein lebendiges Bild des Soziotops Medina von Marrakech entstehen. Auf der anderen Seite kreisen die verschiedenen Sozialfiguren häufig um die gleichen Themen wie die Überschreitung von normativen Grenzen, der Zusammenhalt der zuziehenden Europäer, das Finden des persönlichen Paradieses, die Einladungen innerhalb eines westlich-europäischen Sozialkreises, die Wärme, das Licht und Klima von Marrakech, der Hauskauf und Zukauf von Nachbarhäusern oder die Probleme mit den marokkanischen Nachbarn. Obwohl die Figuren so konstruiert sind, dass sie unterschiedlichsten Sozialtypen angehören, kommen doch alle auf mehr oder weniger ähnliche Themen bzw. sind die Sichtweisen auf bestimmte Themen wie der augenscheinliche Neokolonialismus der zuziehenden Franzosen oder die um sich greifende Prostitution ähnlich. Als ein Leser, der nicht die weitreichenden Kenntnisse über den „Orient“ wie die Autor/innen besitzt, hätte man sich an dieser Stelle eine etwas stärkere Einordnung der Interpretationen in den soziologisch-kulturtheoretischen Kontext gewünscht. Dies hätte zum Beispiel über eine stärkere Generalisierung der Sozialtypen geschehen können, über stärkere Rückbezüge zur kulturgeographischen Literatur oder über Vergleiche mit anderen Städten des Maghrebs oder westlicher Großstädte.

Am Ende der Lektüre der sehr empfehlenswerten Studie steht die Erkenntnis eines klaren Pfades, der zu der von den Autor/innen so genannten Orientmorphose in der Medina von Marrakech führt. Die kulturellen Differenzen zwischen Marokko und speziell Marrakech und Europa/Nordamerika erfahren in einem medialen Diskurs eine Übertreibung. Die Autor/innen führen hier als wesentliche Kanäle der Kommunikation Reiseführer, Kataloge oder Fernsehbeiträge an. Einmal medial übertrieben kommuniziert fördert dies die Entstehung von bestimmten paradiesischen geographischen Imaginationen, die wiederum in einem soziologischen Sinne als Handlungsmotive fungieren. Diese nun intrinsische Motivation zu einer Aufspürung und Umsetzung der geographischen Imaginationen in der Medina von Marrakech durch die westlichen Akteure führt zu deren Reifikation, die mitunter konfliktbehaftet ist. Diese Konflikte äußern sich in Verdrängungsprozessen, dem Ausbau der Riads nach europäischen Vorstellungen, die Umstellung der Infrastruktur auf die Bedürfnisse der Zuziehenden usw. Der Detailreichtum, mit denen die Autor/innen ihr Konzept der Orientmorphose belegen, ist beeindruckend. Die Farbtafeln am Ende des Buches geben dabei nochmals einen visuellen Einblick in die Medina, der die Interviewinterpretationen abrundet. Das Buch von Anton Escher und Sandra Petermann ist für Stadtgeograph/innen empfehlenswert, weil hier Gentrification mithilfe postkolonialer Theorieansätze äußerst plausibel erklärt wird. Die faktische Umsetzung der westlichen geographischen Imaginationen des Lebens im Orient führt in erster Linie zu Gentrification in Marrakech, wie die Autor/innen eindrucksvoll aufzeigen. Die Arbeit ist für Kulturwissenschaftler/innen und Orientalist/innen genauso empfehlenswert, gerade weil die Studie Stadtforschung im Orient auf der Grundlage von postkolonialen Theorieangeboten betreibt. Die Untersuchung verbindet so unterschiedliche Forschungstraditionen und führt diese in der Medina von Marrakech zusammen. Gentrification in Marrakech wird im Kontext der evolutionären Weiterentwicklung des Saidschen Orientalismus interpretiert. Das Ergebnis einer Orientmorphose ist überaus überzeugend dargestellt.

Peter Dirksmeier, Berlin

Geographische Zeitschrift, 101. Jg. 2013 · Heft 1 · Seite 55-57

 

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