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Kategorie: Rezensionen

Klaus Brake, Günter Herfert (Hg.): Reurbanisierung - Materialität und Diskurs in Deutschland. Wiesbaden 2012. 422 S.

Die Diskurse der Stadtforschung sind in den letzten beiden Jahrzehnten in Deutschland durch einen bemerkenswerten Paradigmenwechsel gekennzeichnet: Von der Suburbanisierung zur Reurbanisierung lautet dabei die thematische Wende. In den 1990er Jahren lag der thematische Schwerpunkt noch eindeutig auf Prozessen der Suburbanisierung. Schlagworte dieser Zeit waren «Die Auflösung der Stadt in der Region», «Das Verschwinden der Städte», «Stadtflucht», «Zwischenstadt», «Postsuburbia» und «Zersiedlung» des Stadtumlandes.

Der von Klaus Brake, Jens Dangschat und Günter Herfert kurz nach der Jahrtausendwende herausgegebene Sammelband Suburbanisierung in Deutschland lieferte zu diesem Diskurs damals fundierte theoretische und empirische Analysen. Im Jahre 2012 haben die Herausgeber Klaus Brake und Günter Herfert nun einen neuen Sammelband zur Reurbanisierung vorgelegt. Der Untertitel Materialität und Diskurs in Deutschland verrät bereits das Spannungsfeld des Themas. Ist die vielfach behauptete «Renaissance der Städte» eine empirisch nachweisbare Realität oder eher ein normativer Diskurs von Stadtforschung, Medien und Stadtentwicklungspolitik?

Die Beantwortung dieser Frage hängt stark von der jeweiligen Definition von «Reurbanisierung» ab. Hier zeigt sich in den bisherigen Diskursen eine erstaunliche Unschärfe. Auf welchen historischen Zustand der Städte sich das Re der Urbanisierung bezieht, bleibt oft unklar. Reurbanisierung wird in der Literatur bisher sehr unterschiedlich definiert: Die einen verstehen darunter quantitative Prozesse (ein erneutes Bevölkerungswachstum der Städte nach einer Phase der Schrumpfung), die anderen qualitative Prozesse (selektive Zuwanderung von Bildungswanderern). Die einen beziehen Reurbanisierung räumlich ausschliesslich auf die Innenstadt, die anderen auf die Gesamtstadt als Teil der Stadtregion. Auch ob es sich um einen längerfristigen Trend oder ein kurzfristiges Mode-Phänomen handelt, bleibt umstritten.

In dieser verwirrenden Vielfalt verspricht der neue Sammelband einige theoretische und empirische Klärungen zu bringen. Die vorangestellte Arbeitsdefinition der Herausgeber bleibt dabei noch recht offen: «Mit Reurbanisierung soll ein Entwicklungsprozess
gemeint sein, der mit dauerhafter Wirkung zu einer neuerlichen Bedeutungszunahme von Städten durch eine belebende Nutzung ihrer zentralen Gebiete beiträgt» (S. 14/15). Im ersten Abschnitt des Buches wird der Leitbegriff der Reurbanisierung kompetent diskutiert und die dazugehörigen Diskurse werden analysiert. Insbesondere der Beitrag von Klaus Brake und Rafael Urbanczyk, «Reurbanisierung – Strukturierung einer begrifflichen Vielfalt», stellt alle wichtigen Facetten der Begriffsgeschichte  dar.

Im zweiten Abschnitt des Buches wird nach den treibenden Kräften der Reurbanisierung gefragt. Dabei stellt der Beitrag von Günter Herfert und Frank Osterhage, «Wohnen in der Stadt: gibt es eine Trendwende zur Reurbanisierung?», eine wichtige Grundlage zum Thema des reurbanen Wohnens in Deutschland dar. In ihrem quantitativen Ansatz unterscheiden die Autoren verschiedene demografische Zentralisierungstypen zwischen Kernstadt und Umland und untersuchen diese in 78 deutschen Stadtregionen. Reurbanisierung bezieht sich hier auf eine relative oder absolute Bevölkerungszunahme der Kernstadt im Vergleich zum Umland im Zeitraum 1993 bis 2008. Die Ergebnisse werden in farbigen Karten dargestellt, die auch für die Raumordnung und Raumforschung eine hohe Relevanz aufweisen. Die Autoren stellen eine regionale Polarisierung zwischen demografisch wachsenden und schrumpfenden Städten und Regionen im Bundesgebiet fest, wobei die Schrumpfungsdynamik zunehmend auch westdeutsche Städte und Regionen erfasst. Darüber hinaus weisen sie nach, dass im Zeitraum 2000 bis 2008 in mehr als drei Vierteln der untersuchten Stadtregionen die Bevölkerungsentwicklung in den Kernstädten günstiger als im Umland verlaufen ist. Reurbanisierungsprozesse finden sich sowohl in Wachstumsals auch in Schrumpfungsregionen. Wichtig erscheint jedoch der einschränkende Befund, dass in Schrumpfungsregionen wachsende Städte die Ausnahme bilden. Dies relativiert die Bedeutung regionaler Zentren als «Wachstumspole» und «Ankerstädte ». Im Ergebnis kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Reurbanisierung – wenn auch die Prozesse teilweise quantitativ noch schwach ausgeprägt seien – eine neue Trendwende der stadtregionalen Entwicklung darstellt. Als Träger der Reurbanisierung werden vor allem die jüngeren Altersgruppen der 18- bis 30-Jährigen identifiziert, die als Auszubildende, Studierende und Jobsuchende in die Städte ziehen. Der Zuzug der Generation 50 + und die Rückwanderung von Familien aus Suburbia in die Kernstädte sind dagegen bisher noch nicht als empirische Trends nachweisbar. Eine wichtige Ergänzung zu diesen rein demografischen Studien liefern einzelne Beiträge zur Stadt- und Regionalökonomie. Denn die Beschäftigungsbasis von Städten und Regionen beeinflusst massgeblich die überregionalen Zu- und Abwanderungen und bestimmt damit ihre demografische Tragfähigkeit und Attraktivität. So zeigt der Beitrag von Martin Gornig und Marco Mundelius, «Reurbanisierung und wissensbasierte Ökonomie», dass sich die wissensintensiven Dienstleistungen der Kreativ- und Kulturwirtschaft räumlich stark in den Grossstädten konzentrieren. Auch der Beitrag von Hans Joachim Kujath, «Reurbanisierung des Wissens – zur Herausbildung von Metropolregionen unter dem Einfluss der Wissensökonomie», argumentiert in dieser Richtung. Der Strukturwandel zur Wissensökonomie bildet damit eine wichtige Basis für Reurbanisierungsprozesse in der Arbeits- und Berufswelt. Die Urbanisierungsvorteile grosser Städte und Metropolen gewinnen offenbar in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts gegenüber der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts wieder stärker an Bedeutung.

Im dritten Abschnitt des Buches werden die ökonomischen, sozialen und politischen Auswirkungen der Reurbanisierung behandelt. Dabei werden nicht nur positiv besetzte Sichtweisen auf Reurbanisierung vertreten. Uwe Altrock stellt in seinem Beitrag «Reurbanisierung und Stadtentwicklungspolitik – städtebauliche Programme und Instrumente» die Frage nach den Reurbanisierungskräften in schrumpfenden Städten und inwieweit sie durch Stadtumbau wirksam gesteuert werden können. Der stadtsoziologische Beitrag von Andrej Holm, «Paradoxien und Begleiterscheinungen der Reurbanisierung», geht der kritischen Frage nach, inwieweit Reurbanisierung zur Verdrängung ärmerer Bevölkerungsgruppen aus den Stadtkernen führt. In dieser Sichtweise ist Reurbanisierung aufgrund der sozialen Exklusivität eine Form der «innerstädtischen Suburbanisierung».

Im vierten Abschnitt werden einzelne Fallbeispiele der Reurbanisierung dargestellt. Dabei werden die deutschen Grossstädte Berlin (Klaus Brake), Dortmund (Frank Osterhage und Stefan Thabe), Hamburg (Marcus Menzl), Leipzig (Stefan Heinig und Günter Herfert) und München (Detlev Sträter) behandelt. Darüber hinaus widmet sich leider nur ein Beitrag der internationalen Perspektive am Beispiel von drei Metropolen. Der Beitrag «Standortfaktor Innenstadt – Ambivalenzen der Reurbanisierung in Barcelona, London und Chicago» von Laura Calbet i Elias, Cordelia Polinna und Barbara Schönig zeigt, dass eine Gemeinsamkeit der Reurbanisierungsprozesse in diesen Metropolen in der Herrichtung der Innenstädte für die urbanen Bedürfnisse der Mittelschichten sowie der Finanz-, Kreativ- und Tourismusdienstleistungen besteht. Auch hier wird auf sozialräumliche Verdrängungsprozesse verwiesen.

Der Sammelband stellt insgesamt durchaus ein neues Standardwerk in der aktuellen Debatte zur Reurbanisierung in Deutschland dar. Die Vielzahl von kompetenten Autoren und die Spannweite von theoretischen und empirischen Beiträgen machen den Band zu einer Pflichtlektüre für alle, die sich mit dem Thema beschäftigen. Das Resümee der Herausgeber kann dabei die verschiedenen Sichtweisen auf Reurbanisierung nicht aufheben. Unterschiedliche quantitative und qualitative Verständnisse, demografische und ökonomische Interpretationen sowie Raumbezüge auf Innenstädte, Städte und Stadtregionen werfen neue Fragen auf. Dem Leser bleibt es dabei überlassen, die positiven und negativen Seiten von Reurbanisierungsprozessen selbst zu bewerten. Auffällig ist auch, dass Stadtpolitiken zur Förderung der Reurbanisierung nur wenig behandelt werden. Wenn die Aussage der Herausgeber im Resümee stimmt, dass Reurbanisierung als Inwertsetzung urbaner Gebiete «kein Selbstläufer ist» (S. 415), dann bleibt es eine wichtige Aufgabe der Stadtforschung, den bisher unterbelichteten Einfluss der Stadtentwicklungspolitik auf Reurbanisierungsprozesse genauer zu untersuchen.
Manfred Kühn, Erkner

Quelle: disP 190, 3/2012, S. 78-79