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Kategorie: Rezensionen

Sarah Albiez, Nelly Castro, Lara Jüssen u. Eva Youkhana (Hg.): Etnicidad, ciudadanía y pertenencia: practices, teoria y dimensiones espaciales/Ethnicity, Citizenship and Belonging: Practices, Theory and Spatial Dimensions. Madrid & Frankfurt a.M. 2011. 303 S.

Die Kategorie der „Zugehörigkeit“, wie man belonging etwa übersetzen kann, hat im letzten Jahrzehnt eine steile Karriere erlebt. Die vielfach gesehene Vordringlichkeit dieser Debatte erklärt sich aus den Verwerfungen der Globalisierung, die nicht zuletzt die Frage aufgeworfen hat, wo Menschen „hingehören“, aber auch – wie Fallbeispiele in diesem Band einmal mehr zeigen – was ihnen gehört. Damit sind unweigerlich Fragen der kollektiven Identität, meist in Form von Ethnizität, sowie in einem Zeitalter nach wie vor bestehender Territorialstaaten auch Fragen staatsbürgerlicher Rechte gerade im Hinblick der Verfügung über konkrete Gebiete angesprochen. Dem hat sich die erste Konferenz des Kompetenzzentrums Lateinamerika gewidmet, deren Ergebnisse in dem vorliegenden, höchst lesenswerten Sammelband dokumentiert werden.

 

Lesenswert ist der Band sicherlich aufgrund der reichhaltigen Fallbeispiele, die Schlaglichter auf eine Vielzahl recht unterschiedlicher Dimensionen werfen. Im ersten, historischen Perspektiven gewidmeten Teil zeigt Karoline Noack anhand von Kolonialakten zu der an der nördlichen Küste Perus gelegenen Stadt Trujillo auf, wie flüssig die gemeinhin als feste Kategorien wahrgenommenen Bezeichnungen wie indio in Wirklichkeit waren. Vielmehr habe das Kollektiv der Nachbarschaft eine sehr viel größere Rolle gespielt. Damit wird die Vorstellung einer vom Rest der Gesellschaft separaten Geschichte ethnischer Gruppen für diesen Kontext klar desavouiert. Nur scheinbar einen Kontrapunkt dazu setzt Wolfgang Gabbert, dessen Darstellung der höchst differenzierten, längerfristigen Prozesse der Ethnogenese und ethnischen Dynamik an der nicaraguanischen Atlantikküste jedoch zugleich ebenfalls die kontingenten Bedingungszusammenhänge für die Herausbildung ethnischer Identitäten verdeutlicht. Insbesondere zeigen sich hier die Konsequenzen von Fremdzuschreibungen oder Kategorisierungen ebenso wie die Folgen relativer ökonomischer Autonomie einerseits und systematischer Einbeziehung in das breitere Marktgeschehen andererseits. Dabei spielt das Schicksal der von US-Firmen beherrschten Plantagenökonomie eine wesentliche Rolle. Zugleich identifiziert Gabbert interne Dynamiken der Ethnogenese, zu denen u.a. die Herrnhuter Mission zu zählen ist. Anhand von Bürgerkriegen während der Frühphase der Unabhängigkeit Perus – die anders als vergleichbare Konflikte in Nachbarstaaten weitgehend vergessen sind – weisen Cecilia Méndez G. und Carla Granados Moya die entscheidende Rolle der marginalisierten Bauern im andinen Hochland nach. Während Geschichtskonzepte noch immer weitgehend auf die Hauptstadt Lima fixiert sind, wird klar, dass ohne die aktive Rolle der Bauern etwa Militärkampagnen undenkbar gewesen wären.

Den zweiten Teil zu Fragen „ethnischer und räumlicher Aspekte der Staatsbürgerschaft“ eröffnet ein Plädoyer von Rudolfo Stavenhagen für eine „multikulturelle und interkulturelle Staatsbürgerschaft, die eine grundlegende Neubestimmung der Beziehungen zwischen dem Staat und den indigenen Völkern bedeutet“ (134). Dafür sei die aktuelle internationale Konstellation günstig, doch werde „die Idee der Ethnizität“ sich ohne eine „authentische Entkolonisierung … sogleich in eine weitere Ware verwandeln“ (135). Eine Konkretisierung dieser Forderungen lässt der Beitrag von Isidoro Bustos über unterschiedliche Konzepte einer Maya-Identität in Guatemala erkennen. Bustos unterscheidet jenseits der simplen Polarität zwischen „nationalliberalem“ sowie „multikulturellem“ Assimilationismus unterschiedliche Dimensionen oder Pole, insbesondere synkretistische, modernistische und mayanistische Tendenzen, die in vielfältiger Kombination auftreten und unterschiedliche Zielsetzungen wie Segregation, Assimilation oder Multikulturalität artikulieren. Hat der hegemoniale „nationalliberale Diskurs“ ungeachtet der proklamierten Gleichheit vor dem Gesetz potentiell segregationistische und selbst rassistische Konsequenzen, so insistieren „Mayanisten“ auf „eigenen Werten“ (152), „einer vollständigen Staatsbürgerschaft, in der die kulturellen Wurzeln Gegenstand von Rechten und nicht mehr Rechtfertigungen der Exklusion sind“ (153) – ohne dass freilich hier die angesprochene Problematik der damit implizierten abgestuften, kulturell begründeten Rechtspositionen diskutiert würde. Dies zeigt sich in ähnlicher Weise an Manuel Buenrostro Albas Skizze des Rechtspluralismus in Quintana Roo (Mexiko). Wie in vielen anderen Fällen auch in anderen Weltregionen stehen den Vorzügen wie Nähe zu den Betroffenen, sprachliche Zugänglichkeit und Umgehung der Bürokratie eine Reihe von Problemen gegenüber, unter denen „die Bedeutung der Menschenrechte“ eher beiläufig erwähnt wird (170). Der dritte Teil bietet sechs Beiträge zur „Theorie und Praxis der Zugehörigkeit und Räumlichkeit“. Vier der Studien nehmen Lateinamerika in den Blick und erforschen Formen der Konstruktion von Zugehörigkeit angesichts unterschiedlicher Migrationsprozesse. Maria Amelia Viteri untersucht das Gefühl der Zugehörigkeit und des Heimwehs ecuadorianischer Migrantinnen und Migranten in den USA auch als „Auto-Ethnographie“ (223) anhand der Speisen, die vor allem erinnert werden und im Zielland niemals adäquat hergestellt werden können. Dadurch verweist sie nicht allein auf die affektive Dimension migrantischer Kämpfe um Rechte, sondern auch auf die damit verbundene Konstruktion multipler Identitäten, die durch die Berücksichtigung biographischer Interviews noch an Tiefenschärfe gewinnen. Anhand des berühmten Allerheiligen-Rituals in Mitla (Oaxaca, Mexiko) untersucht Eveline Dürr unterschiedliche Dimensionen eines durch die Auszeichnung des Ortes als Tor zur Unterwelt besonders stark lokalisierten Zugehörigkeitsgefühls. Dieses Gefühl wird jedoch einerseits durch unterschiedliche Migrationsprozesse in Frage gestellt. Denn dadurch sind vor allem große Teile der lokalen Elite nicht immer präsent, sie kehren aber für das Fest zurück. Die damit verbundenen Spannungen und Konflikte verschränkten sich andererseits mit dem von Teilen der lokalen Bevölkerung verfolgten Interesse, Touristen anzuziehen. Deren Anwesenheit jedoch verzerrt und verändert selbst bei restriktiver Handhabung unweigerlich die Inhalte des Rituals und damit ein zentrales Element lokaler Zugehörigkeitskonstruktionen. Die durch das intensive Migrationsgeschehen zwischen Mexiko und den USA in Gang gesetzte kulturelle Dynamik wird deutlich an der Entstehung eines Cine Indígena, die Ingrid Kummels in den Zusammenhang eines langfristigen Kampfes um indigene Rechte und die Anerkennung indigener Identität stellt. Das Aufkommen der Video-Technik bot indigenen Eliten zum Umgang mit der ‘problema indígena’ neue Handlungs­und Ausdrucksmöglichkeiten im Kampf gegen assimilationistische Strategien. Denn die im Rahmen der Migration vor allem in die USA entwickelte Praxis der Kommunikation durch „Video-Briefe“ ließ eine breite Erfahrung und Praxis mit dem Medium entstehen. Zugleich widerlegen diese Erfahrungen verbreitete modernistische Annahmen, die den Ausschluss von „Frauen, indigenen Völkern und Einwohnern von Entwicklungsländern im Allgemeinen“ vom Gebrauch der modernen Massenmedien legitimieren sollen (271). Vor diesem Hintergrund interpretiert Kummels Cine Indígena als Medium, das zum einen den schnellen Wandel unter Indígenas reflektiert, zugleich aber auch vielfältige Kommunikationsprozesse auch in „transnationalen und panamerikanischen Kontexten“ (274) ermöglicht. Schließlich gehen Lara Jüssen und Eva Youkhana Formen der Identifikation und insbesondere Forderungen nach „Staatsbürgerschaft“ unter großenteils undokumentierten, lateinamerikanischen Migrantinnen und Migranten in Spanien nach, deren Lage insbesondere im Zuge der aktuellen Krise deutlich prekärer wurde. Sie zeigen am Beispiel des selbstverwalteten Kulturzentrums La Tabacalera in Madrid, wie informelle Verkaufsaktivitäten zu Formen des „Agierens von Staatsbürgerschaft“ (293) werden.

Hier wie andernorts erscheint „Staatsbürgerschaft“ – zugegebenermaßen eine nicht voll befriedigende Übersetzung von citizenship/ciudidanía – als problematischer Terminus, weil sie die Frage des Staates und wie gesehen auch der Rechtsgleichheit gleichsam überspringt. Vor diesem Hintergrund sind nun die Herausgeberinnen besonders dafür zu loben, dass sie zwei Beiträge, die sich nicht auf Lateinamerika beziehen, in den dritten Teil einbezogen. Diese Beiträge machen das Buch über den Regionalbezug und die engere Debatte über Zugehörigkeit hinaus erst eigentlich empfehlenswert. Peter Geschiere gibt einen gedrängten Überblick über die in seiner ebenso faszinierenden wie verstörenden Monographie The Perils of Belonging entwickelte Argumentation. Ob es um die tiefen Fallgruben der Ursprünge des Autochthonie-Diskurses im klassischen Athen geht, um die erschreckende Erkenntnis der Ausbreitung solcher Diskurse nicht nur in Geschieres Forschungsregion Westafrika, sondern auch in seiner Heimat, den Niederlanden, schließlich um die ans Absurde grenzenden terminologischen Klimmzüge bei der Übersetzung von „autochthon“ und „indigen“ zwischen unterschiedlichen Weltregionen und Sprachkulturen – die Lektüre erschüttert jegliche diesbezügliche Gewissheit in höchst heilsamer Weise und macht darüber hinaus Lust, den „Tücken der Zugehörigkeit“ auch auf Buchlänge nachzuspüren. Dies allerdings sollte nicht geschehen, ohne den Beitrag von Joanna Pfaff-Czarnecka zu beherzigen, die „Zugehörigkeit“ als sozialwissenschaftliche Kategorie zur Analyse eines „emotional besetzten sozialen Ortes“ (201) entfaltet. Sie konstatiert die offenkundigen Schwächen von Konzepten kollektiver Identität, die „unser Verständnis von Gemeinschaftlichkeit als eines vielschichtigen Zustandes eingeengt haben“ (204). Dabei spielen Migrationsprozesse eine große Rolle. Gerade in diesem Rahmen kommt der Bestimmung von „Gemeinschaftlichkeit, Gegenseitigkeit und Bindungen“ (207) durch „Regime der Zugehörigkeit“ (205ff) entscheidende Bedeutung zu. Diese Regime sind staatlich geprägt, unterliegen aber auch breiteren soziopolitischen Prozessen, etwa der „öffentlichen Meinung“ (206). Daraus ergeben sich auch Möglichkeiten der Veränderung und des strategischen Handelns, zumal, wie Pfaff-Czarnecka im Folgenden erläutert, die Zugehörigkeiten einer Person vielfältig sind und sich im Laufe des Lebens verändern. Da dies nicht immer problemlos verläuft, liegt „der wesentliche Wert der Forschung über Zugehörigkeit … darin, dass sie kollektive Bindungen nicht für selbstverständlich hält“ (212) und auf diese Weise einfache Identitätszuschreibungen und daran anschließende Politik gerade konterkariert. Gerade auch angesichts der von Geschiere aufgegriffenen Gefahren betont diese Perspektive, dass „die Option bürgerschaftlicher Gemeinsamkeit der exklusivistischen nationalen Identitätspolitik von Wir-Gruppen entgegensteht, wie sie das assimilationistische Ethos beherrschte, das sich gegen Neuankömmlinge richtete“ (216). Auch damit ist freilich eher ein Problem als eine Lösung formuliert, weil sich das Konzept des „sozialen Ortes“ in einem Spannungsfeld zwischen „partikularistischen kategorialen Attributen“ und „universalistisch verstandenen sozialen Strukturen“ bewegt (216f). Da „die zeitgenössische Selbst-Reflexivität unter den Bedingungen unserer globalisierten und transnationalen Erfahrungen die menschliche Sorge um territorialen Raum und lokale Bindungen desto relevanter macht“ (217), handelt es sich hier um eine der zentralen Herausforderungen für eine zeitgemäße Sozialwissenschaft.

Es ist das Verdienst dieses Bandes, diese Herausforderung in besonders eindrücklicher Weise belegt und vor allem in den beiden zuletzt genannten Beiträgen auch begrifflich weitergetrieben zu haben. Dies wäre allerdings unbefriedigend geblieben ohne das reiche, hier präsentierte empirische Material, das Vielschichtigkeit auch in der Weise darlegt, dass einfache Lösungen und Begriffe nicht taugen. Auch von dieser Seite her gilt es, die Herausforderung anzunehmen.
Reinhart Kößler

PERIPHERIE Nr. 126/127, 32. Jg. 2012, S. 368-361

 

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