Uwe Altrock, Grischa Bertram (Hg.): Wer entwickelt die Stadt? Geschichte und Gegenwart lokaler Governance. Akteure, Strategien, Strukturen. Bielefeld 2012. 330 S.

Die deutsche Sprache kann verschleiern. Formulierungen wie «die Landschaft entwickelt sich» oder eben «die Stadt entwickelt sich» sind verbreitet und gaukeln einen Quasiautomatismus vor, der faktisch nicht gegeben ist. Verschleiert wird der Umstand, dass stets menschliche Vorstellungen und Handlungen – wissentlich, willentlich oder gedankenlos – eine Entwicklung initiieren oder vorantreiben, von jenen eher seltenen Ereignissen einmal abgesehen, die eine Folge – nicht selten katastrophaler – natürlicher Abläufe darstellen. Wer also «macht» die Stadt bzw. entwickelt sie? Ohne Frage wird es keine einheitliche Antwort geben können; die beteiligten Akteure und Promotoren haben gewechselt und wechseln in Abhängigkeit je gültiger gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen in der Zeit – und das heisst auch, jeweils praktischer Spielregeln des Zusammenlebens.

 

Diese uns allgemein vertrauten Mechanismen kommunaler und hoheitlicher Verfasstheiten geraten namentlich bei Wandlung lokal-bürgerlicher Lebensräume in einen sich immer stärker äussernden Bürgerwillen. Doch was uns je nach Temperament als sakrosankt geglaubte Stadtplanung und Stadtpolitik erscheinen mag, ist womöglich lediglich ein Intermezzo in der gesellschaftlichen Entwicklung; der vermutete quasi revolutionäre Umbruch entpuppt sich vielleicht als Transit durch ein verschämt «sozialstaatlich» benanntes poltisch-administratives System hin zu einer neuen Zivilgesellschaft, deren Merkmal darin bestehen könnte, dass «Gesellschaft» (auch als Folge inflationären Gebrauches in der Vergangenheit) durch Interessengruppen faktisch verdrängt wird. Eine weniger skeptische Sicht kann in den jüngeren Veränderungen auch eine stärkere Betonung oder Hinwendung zur (neuen) Zivilgesellschaft erkennen, deren Erstarken offenbar parallel zu einer Abschwächung i.w.S. staatlicher Regulationen erfolgt.

Als Instrument zur Beobachtung dieser neuen, ausgeprägten Akteurs-Strukturen und Handlungsweisen wird im vorliegenden Band die «lokale Governance» aufgegriffen. Die 15 Beiträge basieren auf einer gemeinsamen Tagung des Fachgebietes Stadterneuerung/Stadtumbau der Universität Kassel sowie des Arbeitskreises Planungsgeschichte in der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung am 7. und 8. Dezember 2007 in Kassel. Sie werden wie folgt in sechs Kapitel gegliedert:

Als «Einführung» tragen Uwe Altrock u.a. die Konzeptionen des Bandes vor und Klaus Selle diskutiert grundlegend Stadtentwicklung aus der Governance-Perspektive. Unter «Staatsverständnis im Wandel» beschreiben Gerhard Fehl die Thematik am historischen Beispiel von Hanau a.M. um 1600, Hilde Schröteler-von Brandt die Situation in den Rheinprovinzen im frühen 19. Jahrhundert und Jan Volker Wilhelm die Entwicklung von Göttingen zwischen 1866 und 1918. «Staatliche Aufgabenerledigung im Wandel» greift die sich verändernde Akteurskonstellationen auf, die Dirk Schubert am Beispiel der Stadt- und Hafenentwicklung in London und Hamburg vergleichend thematisiert, Otto Kastorff für die lübeckschen Hauptschifffahrtsstrassen aufarbeitet und Friedhelm Fischer an drei Gartenstadtentwicklungen in Magdeburg erläutert. Auf die «Unternehmerische Stadtentwicklung», also eine spezifische Ausprägung der Stadtproduktion auf lokaler Ebene, konzentrieren sich Steffen Krämer mit der Untersuchung von Arbeiterkolonien im 19. und frühen 20. Jahrhundert und Renate Kastorff-Viehmann mit der Wohnraumserstellung zur Wende 19./20. Jahrhundert; Celina Kress erarbeitet die Rolle von zwei privaten Immobilien-und Bauunternehmer in Berlin vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Historische Perspektiven der aktuellen Governance-Orientierungen werden mit dem Kapitel «Zivilgesellschaft im Wandel an unterschiedlichen Aspekten aufgenommen; so stellt Ulla Terlinden den Einfluss der ‹Bürgerlichen Frauenbewegung› auf die kommunale Wohnungsversorgung vor dem Ersten Weltkrieg dar, am Beispiel der Entwicklung New Yorks in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts zeigt Barbara Schönig die wechselseitigen Bedingungen und Synergien aus Zivilgesellschaft und staatlichem Handeln und Ingrid Lübke zeichnet die lokale Governance am Beispiel des Stadtumbaus von Rotterdam in den Dekaden von 1970 und 1980 nach. Im Schlusskapitel verdichten Uwe Altrock u.a. die Resultate und Forschungsperspektiven des Bandes und enden mit einem abwägenden Ausblick auf die urbane Governance in historischer Perspektive.

Wer also entwickelt die Stadt? «Alle» erscheint als zugleich treffende wie amorphe Antwort. Der darin anklingende pluralistische Ansatz steht im Widerspruch zu bislang gültigen Vorstellungen, ja Selbsteinschätzungen und geübter Praxis. Denn er wurde lange Zeit von jenen nicht aufgenommen, die qua Profession um die (räumliche) Stadtentwicklung «Sorge» trugen, dabei als lokale öffentlichrechtliche Akteure vorrangig Steuerungsformen thematisierten. Dabei neigten diese nicht selten einer Haltung zu, die – bildhaft formuliert – nicht nur das Theater bauen, sondern auch die in diesem aufzuführenden Stücke schreiben wollten.

Wohl aus fiskalischen wie auch den der Zivilgesellschaft immanenten Gründen hat sich ein Wandel angebahnt, dessen Wirkungen für die Stadtentwicklung zu einer Vermehrung der die Teilhabe Wollenden und der bereits teilnehmenden Akteure hinausläuft. Damit werden die Akteurskonstellationen, die Zuständigkeiten und Steuerungsprozesse vielschichtiger, oder anders: Die Präferenzen und Optionen der relevanten Interessengruppen mit ihren Zugehörigkeiten zu den Sphären von Zivilgesellschaft, Markt und öffentlichem Sektor nebst ihren «‹Zwischenwelten› und Doppelzuordnungen» (Klaus Selle, S. 30) werden zu wechselseitigen Rahmenbedingungen.

Die Texte des vorliegenden Bandes gehen davon aus, dieser Situation mit der aus der Politikwissenschaft kommenden Governance-Perspektive erhellend begegnen zu können. Die Autoren sehen darin weithin übereinstimmend ein Analyseinstrument (und weniger eine Trendhypothese oder eine normative Idee). Soweit dies methodisch und quellentechnisch in der Rückschau sinnvoll ist, kann herausgearbeitet werden, dass frühere Stadtentwicklungen keineswegs absolutistisch oder zentralistisch erfolgten, sondern lokale Gruppen oder Instanzen erfolgreich Teilhabe an Planungen erwirken konnten.

Für die Gegenwart bleibt spannend, wie die zivilgesellschaftlichen, privaten oder individuellen Interessen in das lokal-staatliche Handeln integriert werden, oder den im Zuge einer liberalistischer werdenden lokalen Politik am Gemeinsinn orientierten Ordnungsgedanken aufweichen. Denn auch dies sollte Governance beinhalten: Nicht nur Interdependenzen zwischen Akteuren, sondern auch die räumlichen Überlagerungen mit ihren Wirkungen und Persistenzen zu verfolgen. Es geht um die Veränderungen in den Wahrnehmungsweisen von sozialen und räumlichen Ordnungsmustern; denn nicht die lokale und räumliche Ordnung haben sich gewandelt, sondern mit dem Instrument der Governance hat sich der (politikwissenschaftlich initiierte) Blick verändert. Wenn «alle» die Stadt entwickeln, dann muss bewusst bleiben, dass die entstehende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen die Stadt ausmacht, und auch dies lässt die Stadt als «Koproduktion» (S. 33) oder «wildes Gemisch […]» (S. 34) angemessener erscheinen.

Verdienstvoll an der Governance-Perspektive ist ohne Zweifel der Umstand, auf das Geflecht von Akteuren, deren Interessen und Machtkalküle für die Entwicklung des lokalen Staates aufmerksam zu machen. Er verdeutlicht zugleich die Vergänglichkeit von Ansätzen und Sichtweisen, was einerseits wissenschaftlicher Alltag ist, andererseits als Spiegel der in der Realität gegebenen Dominanten gelten mag. Vermutlich jedoch gilt, dass das vermeintlich Neue vor allem verfeinerter Instrumente und dem bewusst über Fachgrenzen angelegten Denken geschuldet ist, bis es zum Selbstverständlichen mutiert und «aufgegeben» wird.

Insoweit ist dieser Band hilfreich zum Verständnis der strategischen Grundlagen von Stadtentwicklung – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Seine Lektüre könnte dem Einen eine selbstkritische Zurückhaltung empfehlen und die Anderen dazu animieren, sich selbstbewusster in diesen Topoi einzumischen. Allen aber wird bewusst, in welchem Interessengeflecht Stadtentwicklung von Menschen tatsächlichbetrieben wird. – Im Übrigen: So aufschlussreich die Texte geschrieben sind, so belanglos sind fast durchgängig die Abbildungen dann, wenn sie – und dies mehrheitlich – nicht einmal zur blossen Information taugen; hier hätte der Verlag vielleicht grosszügiger Platz einräumen oder ganz auf Abbildungen verzichten sollen.
Ulrich Ante, Würzburg

Quelle: disP 191, 4/2012, S. 78-79

 

zurück zu Rezensionen

zurück zu raumnachrichten.de