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Kategorie: Rezensionen

Johannes Küchler: Transformation in China? Städte im Perlflussdelta

Christian Wuttke: Die chinesische Stadt im Transformationsprozess. Governanceformen und Mechanismen institutionellen Wandels am Beispiel des Perlflussdeltas. Berlin 2012. 202 S.

Chinas städtische Bevölkerung wuchs innerhalb von zwei Generationen von weniger als 100 Millionen Einwohnern auf heute etwa 700 Millionen. Im glücklichen Europa blieb die Bevölkerung im gleichen Zeitraum praktisch unverändert, auch die Rate der Urbanisierung hat sich nicht sehr erhöht. Wenn wir uns vergegenwärtigen, mit welchem Abstimmungsaufwand heute in Europa die Anlage nur eines neuen Flugplatzes oder eines Kraftwerks verbunden ist, dann wird das Ausmaß an Koordination deutlich, das vom politischen System der VRCh verlangt wurde und wird, um dieses dramatische Städtewachstum wenn schon nicht unter rechtsstaatlichen Bedingungen, so doch mit einer relativ breiten Duldung zu bewältigen. Vor dem Hintergrund der problemgeladenen technischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekte dieses Modernisierungsschubs fragt die vorliegende Untersuchung nach dem „Wie?“ der politischen Führung und Entscheidungsfindung auf der Ebene der individuellen Stadt. Die Arbeit versteht sich als Beitrag zur „politischen Stadtforschung“, angesiedelt „zwischen Politikwissenschaften und Politischer Geographie“ (50).

 

Um den gesellschaftlichen Wandel im östlichen Europa und westlichen Zentralasien nach 1991 zu beschreiben, bediente sich die deutschsprachige Wirtschafts- und Sozialforschung des Terminus „Transformation“. Der Autor beobachtet auch in China eine solche nach 1978 und fragt nach dem Wandel von Institutionen und Governanceformen. Territorial beschränkt er sich auf Bereiche des Perlflussdeltas (Hong Kong bleibt ausgeklammert). Bei den Institutionen konzentriert er sich zum einen auf die Stadtplanung (= „organisatorische Institution“), zum andern auf jene Sonderzonen, die zunächst für die exportorientierte Industrialisierung mit Hilfe ausländischer Investitionen eingerichtet wurden (= „territoriale Institution“). Bei dieser Vielfalt unterschiedlicher Gewerbegebiete geht es um die Frage ihrer allmählichen Integration in die „normale“ örtliche und regionale Verwaltung. Christian Wuttke weilte 2007 und 2008 insgesamt ca. 6 Monate vor Ort. Er untersucht seine Fragen durch ein umfangreiches Literaturstudium (ca. 300 englisch-sprachige Titel, auch ca. 20 deutsch- und ca. 10 chinesisch-sprachige) und durch ca. 50 Experten-Interviews, vorwiegend in drei Städten, die er für eine exemplarische Vertiefung auswählte.

Er geht aus von einer „unzureichende(n) Anbindung“ der „internationale(n) geographischen und sozialwissenschaftliche(n) Chinaforschung an größere sozialwissenschaftliche Diskussionszusammenhänge“(23). Folglich findet sich nur eine „kleine Zahl governance- und institutionentheoretisch inspirierter Untersuchungen“ (23). Wuttkes zentrale Fragestellung lautet, „wie der Prozess institutionellen Wandels im Spannungsfeld von Wirtschafts- und Stadtentwicklung im Perlflussdelta beschrieben und erklärt werden kann“(23). Er konstatiert ein unvermitteltes Nebeneinander von „Regionalspezialisten und theoretisch informierter Stadtforschung“ (58). In dieser Gegenüberstellung avanciert das „theoretisch Informierte“ zum Allgemeinen und das Regionale zum Besonderen. Dabei bleibt offen, ob der Autor das Regionalspezialistentum bezieht auf eine besondere Kompetenz für die ehemals oder noch marxistisch-leninistisch verfassten Einparteienregime (was naheliegt angesichts des Hauptthemas „Transformation“) oder auf eine kulturwissenschaftliche, die sich besonders auf Sprach-, Literatur- und Landeskenntnis gründet. Die „theoretisch informierten“ Stadtforscher auf der anderen Seite nimmt Wuttke nicht als Regionalspezialisten wahr, obwohl sie ihre Erkenntnisse aus dem Studium von „Advanced Political Economies“ (Streeck/Thelen), der USA und Westeuropas ableiten. Aufbauend auf den Ergebnissen hier angesiedelter komparativer Forschung zu urbaner Governance möchte Wuttke „das Verständnis über die politische Geographie der chinesischen Stadt deutlich … erhöhen und gleichzeitig Erklärungsmuster auf ein breiteres Fundament […] stellen.“(59)

Die Dissertation gliedert sich in 9 Kapitel, von denen die ersten drei den Schlüsselbegriffen Transformation, Institutionen und Governance gewidmet sind, das vierte zu China und zur „chinesischen Stadt“ überleitet, und die drei folgenden sich jeweils mit einem Fallbeispiel befassen: der Millionenstadt Shenzhen, die seit 1982 an der Grenze zu Hong Kong heranwuchs; der Provinzhauptstadt Guangzhou und der ehemaligen Kreisstadt Shunde mit kometenhaftem Erfolg.

Die Governance einer Stadt als Gebietskörperschaft ist ein junges Forschungsfeld. Hier stützt sich Wuttke vor allem auf die Vorarbeiten von DiGaetano et al. Nachdem er sechs Typen von städtischer Governance vorgestellt hat, die sich bei der Auswertung der westlichen Literatur herausschälten, identifiziert er vier, die er in chinesischen Städten neben- und nacheinander wiederfinden kann:

Lokaler Korporatismus (Wuttke: „Local State Corporation“). Dieser Typ ist charakteristisch für die Frühphase der marktwirtschaftlich orientierten Industrialisierung. Seit den 80er-90er-Jahren verlagert er sich schrittweise landeinwärts. Es dominieren kleine und mittlere Industriebetriebe im Kollektiveigentum, als lose Holding gelenkt von der örtlichen Verwaltung, außerhalb der zentralstaatlichen Sektorverwaltungen. Sie sind vorrangig ausgerichtet auf die lokalen Märkte. Wuttke bescheinigt diesen Stadtgebilden eine „kleinteilige organisch gewachsene […] Morphologie“ (78).
 
Die Stadt als aktiver Verfechter einer konsistenten Entwicklungsstrategie (Wuttke: „Local Developmental State“). Hier erhofft sich die lokale Regierung durch das Nutzen von Agglomerationsvorteilen Wirtschaftswachstum, um landesintern und international wettbewerbsfähig zu bleiben. Gefördert wird eine branchenspezifische Clusterbildung. Dieser Typ von städtischer Governance ist z. Zt. im Perlflussdelta weit verbreitet.

Die Stadt als Repräsentant der lokalen Kapitalinteressen. In diesem Fall greift Wuttke auf den Begriff des „Entrepreneurialism“ zurück, um eine kommunale Governance zu beschreiben, bei der städtische Eliten durch Absprachen zwischen der Gebietskörperschaft und privaten Akteuren die nationale und/oder globale Wettbewerbsfähigkeit der Stadt vorantreiben, z. B. durch Auslagerung öffentlicher Aufgaben. Statusgewinn erhofft man sich hier u. a. durch internationale Wettbewerbe für spektakuläre Bauprojekte oder durch den Rückgriff auf die Phantasie und Expertise global agierender Planungs- und Baufirmen für die örtliche Imagepflege.

Mit dem Übergang von einer angebotsorientierten Stadtentwicklung (Angebote für Investoren) zu einer mehr bedarfsorientierten (Bedürfnisse der städtischen Bevölkerung) ist für Wuttke als vierter Typus von Governance „ein neuer paternalistischer chinesischer Managerialism“ erkennbar (165).

Gemeinsam ist allen genannten Arten von Governance die Flexibilität im Umgang mit zentralstaatlich vorgegebenen Regeln und dementsprechend ein hohes Maß informeller Regelungen. Die aus anderen Industriestaaten bekannte relativ deutliche Grenze zwischen öffentlich und privat begegnet uns hier als ein Kontinuum. Es geht um Industrialisierung und Stadtentwicklung unter vor-rechtsstaatlichen, quasi anarchischen Rahmenbedingungen. Was die Lokalstaaten zusammenhält, ist die Institution der Kommunistischen Partei, auf deren Wandel der Autor allerdings nicht eingeht. Auch die Begleitumstände dieser Art von Industrialisierung/Urbanisierung bleiben ausgeblendet oder höchstens angedeutet: die weitestgehende Externalisierung der sozialen und Umweltkosten, die Nutzung des Immobilienmarkts als Haupteinnahmequelle zu Lasten der de facto enteigneten ländlichen Bevölkerung; die Verschuldung der kommunalen Haushalte, begünstigt durch das Fehlen einer übergeordneten Haushaltsaufsicht.

Bevor Wuttke in drei Kapiteln die individuellen Umstände der jeweiligen Stadtplanung und den territorial-administrativen Status der Erschließungszonen vorstellt, erläutert er anschaulich, wie er seine Interviewpartner fand (die anonym bleiben) und die Gespräche mit Hilfe studentischer Vermittler und Übersetzer organisierte (97-100). Die Tatsache, dass das Sprachproblem (Kantonesisch versus Putonghua) dabei nicht erwähnt wird, legt nahe, dass die Urbanisierung auch als Motor kultureller Homogenisierung wirkt, indem etwa die lokalen Führungskräfte, meist angeworben aus anderen Provinzen Chinas, sich nicht mehr der lokalen Sprache bedienen (können).

Für Shenzhen schildert der Autor Art und Umfang kommunaler Autonomie, die Ausrichtung der Stadtplanung an der Praxis von Hong Kong (statutory planning/building byelaws), die allmähliche Integration anfangs separater Industrieparks in die allgemeine Verwaltung. In den jüngsten neuen Städten innerhalb des Territoriums von Shenzhen werden bereits Chinas Städte von morgen – grün, entschleunigt, reduzierter CO2-Ausstoß, IT-basiert, hohe Lebensqualität – erprobt. Etwas weltfremd wirkt es, wenn Wuttke sich in einem Interview nach der Möglichkeit zukünftiger Gewaltenteilung erkundigt (110). Wen wundert es, dass er hierzu eine abschlägige Antwort erhält? Shenzhen verkörpert für den Autor den Governance-Typus eines lokalen „Developmental State“.

Den zweiten Fall bildet Guangzhou, das sich als politisches und kulturelles Zentrum leicht verzögert und mit anfangs unklarer Perspektive auf die Modernisierung und Öffnung einließ. Am Beispiel dieser Stadt erläutert der Autor, wie die herkömmliche unflexible Stadtplanung ergänzt, ja sogar ersetzt wurde durch eine – eigentlich unverbindliche – offene konzeptionelle Planung, ausgearbeitet zusammen mit renommierten externen Ingenieur- und Entwurfsbüros. Wuttke interpretiert den Wandel von Governance in dieser Stadt als Übergang von einem „sozialistischen Laissez-faire-Staat“ (125, 145, 164, 171) in den 1990er-Jahren zu einem, der sich von „Entrepreneurialism“ leiten lässt (ab 2000).

Shunde steht – zumindest in der Anfangsphase der „sozialistischen Marktwirtschaft“ als Beispiel für „local corporatism“. Mit einer geschickten und listigen Kommunalpolitik konnten Freiräume und Verbindungen zur Provinzführung genutzt werden für eine anfangs tief stapelnde Industrialisierung, die aber schon bald zu spektakulären Erfolgen führte. Das Ergebnis dieser Analyse bleibt widersprüchlich. Einerseits liefert Wuttkes Differenzierung der Institutionen und Governance-Formen mit ihrer raum-zeitlichen Dynamik einen hilfreichen Werkzeugkasten, um das Wachstum und den permanenten Umbau der Städte unter dem Einfluss von Weltmarkt, Zentralstaat und Hochkultur sowie lokaler Kultur besser zu verstehen. Andererseits bleiben die einzelnen Governance-Kategorien, die er zu identifizieren meint, unscharf und sogar beliebig. Allzu oft entziehen sie sich einer genaueren Bestimmung (Beispiel: Tab. 9.1.).

Doch das Problem textlicher Unschärfe oder einer fragwürdigen Polarisierung stellt sich wiederholt, besonders bei zentralen Kategorien der Wuttke’schen Argumentation:

Transformationsprozess“ als Schlüsselkategorie suggeriert eine Parallelität zwischen dem Wandel postsowjetischer Gesellschaften und der chinesischen. „Transformation […] beschreibt im Folgenden den […] Prozess eines tiefgreifenden Wandels von einem politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Gesamtsystem eines Landes zu einem neuen, anderen Gesamtsystem“ (13). Die Notwendigkeit einer so verstandenen Transformation ergab sich für bereits relativ hoch entwickelte Industriegesellschaften wie jene der ehemaligen DDR und CSSR, Ungarns, Polens oder die unmittelbaren Nachfolgestaaten der früheren UdSSR. In China hingegen fehlt bis heute dieser ‚tiefgreifende Wandel‘ des ‚politischen Gesamtsystems‘. Das Institut des Zentralstaats und der Einpartei-Herrschaft wurde nie in Frage gestellt.

Auch befanden sich – im Rückblick gesehen – 1978 das Industriesystem und der moderne Staat in einer Frühphase des Aufbaus. Hier sind noch viele Bezüge zum traditionellen Staat der Ming- und Qing-Zeit erkennbar. Aus chinesischer Sicht ist Transformation/Reform (gaige) ein permanentes Thema seit den 50er-Jahren. Gaige beinhaltet bis heute das viel zitierte „Tasten nach den Trittsteinen im Fluss“1 . Zwar konzediert Wuttke der chinesischen Transformation graduellen Wandel (37, 66). Doch für den Leser bleibt vorherrschend die polarisierende Wahrnehmung der Transformation ab einem bestimmten politisch gesetzten Zeitpunkt (1978 bzw. 1989/91), nach dem ein neues System das alte ablöst. Für Wuttke besteht bis 1978 die „kommunistische Ära“ (90), dann beginnt für ihn die Transformation. Diese Sicht ergibt sich aus dem Transfer europäischer Erfahrungen nach China.

Im offiziellen chinesischen Selbstverständnis geht es seit den 50er-Jahren durchgängig um Modernisierungen (xiandaihua). Dabei war die industrielle Modernisierung neben den zahlenmäßig wenigen aber groß dimensionierten zentralstaatlich gelenkten Schlüsselbetrieben vor allem getragen von ländlichen und städtischen Kollektivbetrieben (die Wuttke nicht ausblendet). Im Unterschied zu den osteuropäischen „transition economies“ bildeten diese zwischen dem umzubauenden zentral verwalteten Staatseigentum und dem angestrebten privaten ein für den Wandel gewichtiges, relativ informelles Segment von Wirtschaft und Gesellschaft. Es dokumentiert(e), dass der Staatsapparat der VRCh – von Wuttke beschrieben als „allumfassend“ (115, 180) bis in die Gegenwart dieses Attribut kaum verdient. Gerade die Schwäche des Staates war und ist ein konstitutiver Faktor für die Dynamik der chinesischen Modernisierung.

Wuttke beschreibt Transformation auch präzisierend als „Übergang zur Marktwirtschaft“ (13). Dieser Prozess verlief im östlichen Europa mit institutionellen Brüchen, aber weder Bevölkerungswachstum noch Urbanisierung/Industrialisierung und ausländische Investitionen prägten den Wandel entscheidend. In China hingegen begann dieser Übergang ein Jahrzehnt früher mit der Liberalisierung der Landwirtschaft, unter großem demographischem Druck, als sich beschleunigende Industrialisierung/Urbanisierung, verstärkt von einem Zustrom beinahe unbegrenzt verfügbaren ausländischen Kapitals. Bei so vielen Differenzen bleiben Zweifel an der Tauglichkeit von Transformation als heuristischer Kategorie. Die Dynamik des Wandels in China wird man besser erklären mit dem genannten Übergang zur Marktwirtschaft. Bei dessen Studium können die Fragestellungen des neuen Institutionalismus hilfreich sein, denn – wie bekannt – kapitalistische Verhältnisse haben sich weltweit in äußerst unterschiedlichen historisch-kulturellen Kontexten und bei sehr verschiedenen sozialen und politischen Rahmenbedingungen durchgesetzt.

Schwer nachvollziehbar bleibt Wuttkes Wahrnehmung einer Politik der Dezentralisierung. China präsentiert sich bis heute als zentral gelenkte, verfassungsmäßig festgelegte Hierarchie von Gebietskörperschaften. Diese subsummiert der Autor unter dem Begriff des „Lokalstaats“ (17ff), den er dem Zentralstaat gegenüberstellt. Trotz einzelner differenzierender Äußerungen bestimmt seine Argumentation auch hier eine vorher-nachher Wahrnehmung: Vor Beginn der Öffnungspolitik hätte der „zentralistisch-monolithische Parteistaat“ (107) „autoritär und ehemals alles umfassend“ (115) regiert, während danach die Politik der Öffnung („sozialistischer Laissez-faire-Staat“) (125) von einer Aufwertung des Lokalstaats begleitet sei. Diese Aufwertung ist nach Wuttke verbunden mit Dezentralisierung, wobei er – wie auch andere ausländische Beobachter – von einer strategisch klar bestimmten Politik ausgeht. (69). Doch dabei wird übersehen, dass im gleichen Zeitraum auch der Zentralstaat einen massiven Wandel und Bedeutungsgewinn erfahren hat. 2

Das delikate Wechselspiel zwischen Zentral- und Lokalstaat begleitet die Geschichte Chinas seit der ersten Reichseinigung ebenso wie das Alternieren zwischen „offen“ und „geschlossen“. Zwar galt immer das Subsidiaritätsprinzip, auch wenn man diesen Begriff nicht kannte, doch ist „Dezentralisierung“ zur Beschreibung der Anpassung des Staatsapparats an die Anforderungen der Industriegesellschaft irreführend, denn der Begriff impliziert:
Es wird etwas nach unten delegiert, was man vorher zentral geregelt hat. Aber im vor- und früh-industriellen China hatte der Staat mit seiner Hierarchie territorialer Ebenen „nur“ 100 Millionen Stadtbewohner zu verwalten, statt der gegenwärtig ca. 700 Millionen. Er war personell, technisch und institutionell unvorbereitet auf die vielfältigen neuen Verteilungs- und Koordinationsaufgaben. Zentralstaat und die verschiedenen Ebenen des Lokalstaats mussten also gleichzeitig institutionell gestärkt werden. Das vermeintlich alles Umfassende des Zentrums bestand in den ersten Jahrzehnten der VR in einer einheitlichen Polit-Sprache, einheitlichen Ritualen und landesweiten Kampagnen. Dabei ging es um die Vorgabe Gleichnisartiger Muster, nach denen lokal zu verfahren sei. Bestimmend war neben dem noch schmalen zentral geplanten städtisch-industriellen Sektor eine erweiterte Subsistenzreproduktion, ein Nebeneinander tausender ökonomischer, sozialer, kultureller und Gewalt ausübender Subsysteme, die nur über die Partei in übergeordnete Systeme integriert waren. Oft genug waren und sind diese lokalstaatlichen Subsysteme lokale Despotien 3, deren Willkür der Einzelne hilflos ausgeliefert ist.

Die Herausbildung moderner, partiell autonomer Gebietskörperschaften mit einer begrenzten Haushaltshoheit ist also eher zu verstehen als notwendige Folge zunehmender Arbeitsteilung in einer expandierenden Industriegesellschaft statt als aktive Delegation von Verfügungsgewalt nach unten. Bevölkerungswachstum und Industrialisierung erzwingen die zentrale Entwicklung eines ausgefeilten Rechtssystems. Vollzugsdefizite sind unvermeidlich. Sie werden ausgeglichen durch ein breites Spektrum informeller Institutionen. Statt von Dezentralisierung zu sprechen wäre es daher angebrachter von einem parallelen Ausbau aller staatlichen Ebenen auszugehen. Es geht um eine nachholende „Verstaatlichung“ (= Verrechtlichung) der chinesischen Gesellschaft, d. h. die landesweite Durchsetzung von allgemein akzeptierten Strukturen des Interessenausgleichs.

Dichotomisches Denken zeigt sich auch bei der Gegenüberstellung von Masterplan und Concept Plan. Im zeitlichen Nacheinander verliert die technokratische, gerechnete Flächennutzungsplanung des gesetzlich geforderten integrierten Stadtplans an Priorität zu Gunsten eines flexibleren, sinnlich ansprechenderen Concept Planning, wobei letzteres als die überlegenere, weil der jeweiligen Situation angepasstere interpretiert wird. Doch das strategisch-konzeptionelle und das technokratisch-berechnende Planen bilden komplementäre Seiten eines dialektischen Verhältnisses, das man vermutlich bei jeder Stadtplanung weltweit beobachten kann. Im neuzeitlichen China ist dieses Nebeneinander für Städte wie Beijing, Shanghai, Nanjing, Guangzhou – zumindest ansatzweise – nachweisbar seit der Vorkriegszeit. Auch die von Wuttke zu Recht positiv bewertete Einführung von Elementen des britischen Statutory Planning in Shenzhen widerlegt eine vorher-nachher-Polarisierung.

Unscharf bleibt die Wahrnehmung des Perlflussdeltas als Peripherie. Mehrfach (u.a. 19, 21, 92, 134) betont der Autor, dass ausgerechnet in „ehemals periphere(n) landwirtschaftlichen Regionen (65), in der „rurale(n) Peripherie“(180) mit „einst gewaltigen Landreserven“(87) ein so „rasanter“ Wandel seinen Ausgang nehmen konnte. Von Peripherie zu sprechen ist nur sinnvoll mit Bezug auf ein Zentrum. Das Perlflussdelta wäre dann zweifach Peripherie: Zum einen, wenn man von der Hauptstadt aus gesehen, Guangdong als Peripherie wahrnimmt, was Ausländern leichter fällt als Chinesen, für die Guangdong stets eine unter mehreren ökonomischen und politisch-kulturellen Zentralregionen war4 . Nur in Ausnahmezeiten bildete die chinesische Pazifikküste eine politisch-militärische Peripherie, zuletzt von 1949 - 1972, solange der Bürgerkriegsgegner noch von Taiwan aus eine Bedrohung darstellte. Das erklärt ihre verzögerte Industrialisierung in diesem Zeitraum.

Zum anderen aber bildet das Perlflussdelta, das Wuttke beschreibt, die unmittelbare Peripherie von NYLONKONG5. Hong Kong ist selbst Teilraum des Perlflussdeltas, was der Autor zwar nicht leugnet, aber auch nicht ausführt. Der ökonomische Erfolg der hier gelegenen Städte beruht auf ihrer Nähe zu diesem Zentrum weltweiter Kapitalströme und Finanzdienstleistungen, wie auch seiner globalen Verbindungen zu Absatzmärkten. Wahrscheinlich arbeitet der überwiegende Teil der Lohnabhängigen in der Industrie des Perlflussdeltas in Betrieben, die mit Kapital aus Hong Kong gegründet wurden. Hong Kong ist der Drachenkopf, und die Industriestädte des Perlflussdeltas bilden seinen Schwanz (Peripherie). Ihre institutionellen Architekturen und Governanceformen sind ohne Bezug auf die beiden Zentren nicht vorstellbar. Wuttke hätte das von ihm wahrgenommene Hauptstadt- Peripherie-Verhältnis relativieren müssen durch das Herausarbeiten des zweiten, parallel existierenden: die ökonomisch-kulturelle Einheit von Hong Kong und Hinterland. Hong Kong war und ist entscheidender Impulsgeber für Chinas Urbanisierung. Das belegen viele institutionelle Innovationen, von der Eigentumswohnung im Hochhaus über das befristete Landnutzungsrecht und seine parzellenweise Versteigerung, der Umgang mit „urban villages“, die Ausweisung von Gewerbegebieten, bis hin zum genannten Statutory Law.

Ausgespart bleibt der institutionelle Wandel von Partei und Staat. Trotz einzelner illustrativer Hinweise (44, 47) auf institutionelle Lücken, die Bedeutung informeller Institutionen, das Verhältnis von Partei zu Staat, skizziert Wuttke diese rahmensetzenden Institutionen nur holzschnittartig, aber nicht systematisch, auch nicht auf einer der Ebenen des Lokalstaats. Stattdessen unterstützt er mit plakativen Schlagworten6 Klischees vom chinesischen Staat vor oder nach 1978, die manchmal dem Selbstverständnis der chinesischen Staatsführung, sonst aber der populären Wahrnehmung Chinas im Ausland entsprechen.

Das Ausblenden des historisch-kulturellen Kontexts, der physisch-naturalen Dimension des Perlflussdeltas, der Wirkung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, vor allem der Akteure bzw. Akteursgruppen, lässt zwar vieles vermissen, ist aber als strenge Beschränkung auf die zentrale Fragestellung nachvollziehbar. Doch beschwerlich ist die mangelhafte editorische Qualität. Offenbar entstand der Text in großer Eile und ohne nachträgliches Lektorat. Chinesische Termini der Verwaltungs- und Planersprache werden nicht transkribiert sondern nur als englische Übersetzungen vorgestellt, was Fehlinterpretationen begünstigt.7 Es gibt durchaus elegante Formulierungen, aber allzu oft ärgert man sich über die Beliebigkeit von Begriffen , verquaste Sätze, grammatische und orthographische Fehler, unnötige Dopplungen, Wiederholungen, eine verworrene Mischung englischer und deutscher Begriffe, überflüssige Anglizismen und schräge Formulierungen. Mit der Arbeit verhält es sich wie mit Gerichten in manchen der hiesigen China-Restaurants: Der deutsche Konsument wird sie schon verzehren.

Anmerkungen
1 Mozhe shitou guohe (Deng Xiaoping 1992)

2 Dezentralisierung ist m. W. kein Begriff des offiziösen Chinesischen, möglicherweise weil man einer solchen keinen Vorschub leisten möchte: z. B. quánzé fnsàn/Macht und Verantwortung verstreuen.

3 duli wangguo/unabhängige Königreiche

4 Bereits In seiner grundlegenden Arbeit nannte Qi Chaoding 1934 das Perlflussdelta eines der „key economic areas in Chinese History“.

5 Das Akronym NYLONKONG schuf Time Magazine mit einer Titelgeschichte in der Ausgabe vom 17 Januar 2008, um das Weltzentrum des Kapitalismus, New York, London und Hong Kong zu charakterisieren.

6 „typischer kommunistischer Staat als monolithischer Block“ (17)„ der ehemalige kommunistische Bauernstaat“ (65), „ehemaliger kommunistischer Einheitsstaat“ (71), „postkommunistische Transformation“ (41) „neues staatskapitalistisches System“ (67) u. a.

7 So wird z. B. für Shenzhen eine neue Form der „public participation“ (118) vorgestellt, bei der eine private Firma im Auftrag der Stadt zur angeblich besseren Verbindung zwischen Bevölkerung und Verwaltung beitragen soll. Wuttke stellt sie vor als „Public Power“ ohne Nennung des chinesischen Begriffs. Sollte Chengguan damit gemeint sein, so handelt es sich dabei um eine gefürchtete Schlägertruppe, die mit physischer Gewalt machtvolle Geschäftsinteressen gegen kleine Leute durchsetzt.


Quelle: geographische revue, 16. Jahrgang, 2014, Heft 2, S. 56-63

 

Eine weitere Rezension des Buches von Christian Wuttke lesen Sie hier.

 

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