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Kategorie: Rezensionen

Simon Dudek: Zur populärwissenschaftlichen Tim Marshall: GeopolitikRestauration der Geopolitik

Tim Marshall: Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt. dtv. München 2015. 303 S.

Dem Sinnspruch „Geographie ist das, was Geographen machen“ folgend, wird manche_r Vertreter_in der Disziplin von Tim Marshalls Titel „Die Macht der Geographie“ (dtv, 2015) geschmeichelt sein. Der Originaltitel „Prisoners of geography“ weist indes bereits darauf hin, dass mit Geographie die physisch-materielle Umwelt gemeint ist und das vorliegende Buch eines nicht ist: auf der Höhe des wissenschaftlichen Diskurses. Medial wurde das Buch als Indiz für die „Rückkehr der Geopolitik“ aufgenommen. Und tatsächlich mehren sich in den vergangenen Jahren Publikationen, etwa von Herfried Münkler und Karl Schlögel bis Robert Kaplan und Alexander Dugin, die eine Renaissance geopolitischen Denkens feststellen oder gar fordern.

Der Begriff der Geopolitik hat seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedene Bedeutungen und Intentionen. Aufbauend auf der Politischen Geographie Ratzels und Arbeiten des schwedischen Geographen Kjellen etablierte sich die Geopolitik in den 1920er Jahren auch im universitären Umfeld. Zu ihrem ‚Zentralorgan‘ wurde die ab 1924 monatlich erscheinende Zeitschrift für Geopolitik, in der die Herausgeber Haushofer, Obst, Lautensach und Maull auch eine Definition dessen liefern, was sie unter Geopolitik verstehen: „Die Geopolitik ist die Lehre von der Erdgebundenheit der politischen Vorgänge. Sie fußt auf der breiten Grundlage der Geographie, insbesondere der Politischen Geographie als der Lehre von den politischen Raumorganismen und ihrer Struktur. Die von der Geographie erfaßte Wesenheit der Erdräume gibt für die Geopolitik den Rahmen ab, innerhalb dessen sich der Ablauf der politischen Vorgänge vollziehen muß, wenn ihnen Dauererfolg beschieden sein soll […].“ (Haushofer et al 1928: 27; zitiert nach O Tuathail 2001: 22). Nach Haushofer et al. ist also die Erste Natur maßgeblich für politische Entwicklungen wie Krieg und Frieden. In der deutschsprachigen Geographie gab es eine Reihe von Veröffentlichungen (u.a. Faber 1982, Kost 1986, 1988, Tkaczyski 1993, Diekmann 2000, Sprengel 2000), die Geopolitik als „Ideologie, also als hochselektive Form einer interessengeleiteten Auslegung einer Sinnwelt“ (Redepenning 2006: 82) kritisiert.

Abgesehen von dieser protofaschistischen Ausgestaltung der Geopolitik entwickelten sich zwei weitere Formen der Geopolitik: Critical geopolitics und new geopolitics. Erstgenannte ist ein postmoderner, konstruktivistischer und diskursiver Ansatz, der geopolitische Regionalisierungen als „Machtdiskurse“ (vgl. Reuber 2002) analysiert. Sie setzt geodeterministischem Denken einen postmodernen Dekonstruktivismus entgegen. Die new geopolitics hingegen steht für eine stärkere Berücksichtigung der Geographie (also des physischen Raums) in den Internationalen Beziehungen, allerdings „nicht mehr in einem deterministischen, sondern in einem possibilistischen und einem, den Possibilismus ergänzenden probabilistischen und perzeptionsbezogenen Sinne“ (Redepenning 2006: 82f.). Dieser new geopolitics lassen sich die in der Einleitung genannten Autoren zuordnen. In einer kritischen Rezeption dieser Werke gilt es daher insbesondere darauf zu achten, ob nicht auch in den Werken der new geopolitics Raumdeterminismen genutzt werden und der Possibilismus in einen Determinismus umschlägt.

Tim Marshall, Auslandskorrespondent der BBC und Sky News, widmet sich auf 287 Seiten der sicherheits- und außenpolitischen Verfasstheit verschiedener Entitäten wie Staaten (u.a. Russland, China, USA), Kontinenten (Afrika, Lateinamerika) oder Teilen dieser (Westeuropa, naher Osten). Der Aufbau der einzelnen Kapitel ist dabei gleichförmig: Nach einer Beschreibung der geographischen Gegebenheiten der jeweiligen Entität und insbesondere ihrer „natürlichen Grenzen“ wie Gebirgszüge und Meere folgt ein längerer Abschnitt über deren historische Entwicklung, zumeist mit Fokus auf Grenzverschiebungen, vor allem aber deren Ausbleiben sofern diese naturgegeben sind. Einen dritten Teil machen die außenpolitischen Optionen und Beschränkungen aus. Stilistisch bewegt sich Marshall dabei leider oftmals zwischen den Reiseberichten des jungen Humboldt und Karl Mays Kara Ben Nemsi, etwa wenn er über Russland schreibt: „Der Bär ist nicht zufällig das Symbol dieses immens großen Gebildes. Da hockt er, manchmal in Winterruhe, manchmal grollend, majestätisch und wild. Es gibt ein russisches Wort für Bär, aber die Russen vermeiden es, das Tier bei seinem wahren Namen zu nennen, aus Angst, seine dunkle Seite heraufzubeschwören. Sie nennen ihn Medved, ‚der, der gerne Honig isst‘ “ (Marshall: 18). Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass die Kapitel allgemeinverständlich formuliert sind und reichhaltige Informationen über die Geschichte des jeweiligen Territoriums enthalten. Marshall kann dabei aufzeigen, dass auch im 21. Jahrhundert Kriege und anderweitige Gebietserweiterungen durch strategische Anreize evoziert werden. Des Öfteren führt er hierzu die „Krim-Krise“ als Beispiel an, an deren Ende die Russische Föderation nun über einen ganzjährig eisfreien Tiefseehafen verfügt.
    
Den Einfluss topographischer Gegebenheiten auf die Entwicklung von Staaten überschätzt Marshall allerdings durch die Bank, etwa wenn er behauptet, dass sich der (!) Amerikaner „mit seiner Union in einer Weise [identifiziert], wie das nur wenige Europäer mit ihrer Union tun“ und die Gründe dafür zu gleichen Teilen in der „Geographie und [der] Geschichte der Vereinigung der USA vermutet“ (Marshall: 76), die zu gleichen Teilen das „ individuelle[n] Nationalbewusstsein“ prägen. Den Fall des Eisernen Vorhangs wiederum führt Marshall darauf zurück, dass die Geographie sich an der Sowjetideologie rächte: „[A]uf der Landkarte erschien ein logischeres Bild, eines, auf dem Berge, Flüsse, Seen und Meere aufzeigen, wo die Menschen leben, wo sie voneinander getrennt sind, wieso sie unterschiedliche Sprachen und Kulturen entwickelten“ (Marshall: 27). Der Autor zeigt hier eine ideologische Nähe zu Johann Gottfried Herders (1744-1803) Prinzip der „Autozentriertheit der partikularen geschichtlichen Entitäten“. Demnach ist die natürliche Form der Nation der „organische Volksstaat“ (Herder 1967; zitiert nach Schultz 1998: 130). Konsequenz dieser Annahme Herders ist, dass ‚Staat‘, ‚Land‘ und ‚Volk‘ eine Einheit bilden und sich aufeinander beziehen. Die Grenzen des Staates sind natürliche Gegebenheiten wie Wasserscheiden und Gebirgssysteme, die innerhalb dieser Grenzen lebenden Menschen sind das Staatsvolk (ebd.: 132).

Diese Perspektive führt sich selbst ad absurdum, wenn Marshall über die ehemals kolonialisierten Kontinente Südamerika und Afrika schreibt. So weiß er über Lateinamerika zu berichten: „insbesondere sein Süden, ist der Beweis, dass man zwar das Wissen und die Technologie der Alten Welt in die Neue bringen kann, der Erfolg aber überschaubar bleibt, wenn man die Geographie gegen sich hat und auch noch die Politik falsch einschätzt“ (Marshall: 242). Dass Afrika „erfolgslos“ (Marshall: 124) ist, begründet er indes mit „schrecklichen natürlichen Häfen“ (124), dass „alle paar Kilometer ein Wasserfall“ den Flusslauf unterbricht (124) „Nashörner, Gazellen und Giraffen sich stur [weigerten], Lasttiere zu werden (126) sowie „eine[r] Reihe ansteckender Krankheiten“ (127). Der Autor verliert sich in diesen Passagen dermaßen im Raumdeterminismus, dass eine abwegige Ignoranz gegenüber der Historie dieser Kontinente – also insbesondere der Last kolonialer Vergangenheit – die Folge ist.

Geopolitische Deutungsmuster treten nach wie vor in die sog. „Raumfalle“, naturalisieren soziale Bedingtheiten und scheitern folglich auch in ihrem Anspruch staatliches Handeln aus geographischen Gegebenheiten heraus (mit-)zu erklären. Marshall steht mit seinem Buch in einer langen Tradition von Arbeiten in der Politischen Geographie, welche die Ursachen und Hintergründe politischer Prozesse eher im Klima oder der Physiognomie einer Landschaft erkennen, als in ökonomischen und sozialen Zusammenhängen. Ein solcher Geodeterminismus arbeitet mit falschen Abstraktionen und verliert dadurch seinen wissenschaftlichen Charakter. Das aktuelle Beispiel der Krim-Annexion zeigt dabei, dass der possibilistische Ansatz der new geopolitics durchaus Erklärkraft besitzen kann – allerdings nur innerhalb sehr enger Schranken. Ökonomische Anreize und Sanktionen sind primäres Werkzeug der Außenpolitik.

Literatur:

Dugin, A. (2014): Konflikte der Zukunft. Die Rückkehr der Geopolitik. Martensrade (Bonus).

Faber, K.-G. (1982): Zur Vorgeschichte der Geopolitik. Staat, Nation und Lebensraum im Denken Deutscher Geographen vor 1914. in: H. Dollinger, H. Gründer, A. Hauschmidt (Hg.), Weltpolitik-Europagedanke-Regionalismus. Festschrift für Heinz Gollwitzer: 389-406; Münster (Aschendorff).

Haushofer, K., E. Obst, H. Lautensach und O. Maull (1928): Bausteine zur Geopolitik. Berlin (Kurt Vowinckel).

 Kaplan, R. (2013): The Revenge of Geography: What the map tells us about coming conflicts and the battle against fate. New York (Random House).

Kost, K. (1986): Begriffe und Macht. Die Funktion der Geopolitik als Ideologie. In: Geographische Zeitschrift 74(1): 14-30.

Kost, K. (1988): Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Politischen Geographie und ihrer Terminologie unter besonderer Berücksichtigung von Militär- und Kolonialgeographie. Bonn (Geographisches Institut Universität Bonn).

Münkler, H. (2015): „Raum“ im 21. Jahrhundert: Über geopolitische Umbrüche und Verwerfungen. Hamburg (Rowohlt Rotation).

Ó Tuathail, G. (2001): Geopolitik – zur Entstehungsgeschichte einer Disziplin. In: Christoph, B.: Geopolitik. Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte. Wien (Promedia).

Redepenning, M. (2006): Wozu Raum? Systemtheorie, critical geopolitics und Raumbezogene Semantiken. Leipzig (Leibniz-Institut für Länderkunde).

Reuber, P. (2002): Die  Politische Geographie nach dem Ende des Kalten Krieges. Neue Ansätze und aktuelle Forschungsfelder. In: Geographische Rundschau 54 (7/8): 4-9.

Schlögel, K. (2003): Im Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München (Hanser).

Schultz, H.-D. (1998): Herder und Ratzel: Zwei Extreme, ein Paradigma? In: Erdkunde 52: 127-143.

Sprengel, R. (2000): Geopolitik und Nationalsozialismus: Ende einer deutschen Fehlentwicklung oder fehlgeleiteter Diskurs? In: Diekmann, I. (Hg.): Geopolitik - Grenzgänge im Zeitgeist. Band 1,1: 1890 bis 1945. 147-168; Potsdam (Verlag für Berlin-Brandenburg).

Tkaczyski, J. (1993): Die Geopolitik. Eine Studie über geographische Determinanten und politisches Wunschdenken am Beispiel Deutschlands und Polens. München (tuduv). Diekmann 2000.

 
Zitierweise:
Simon Dudek 2016: Zur populärwissenschaftlichen Restauration der Geopolitik  Besprechung von: Tim Marshall: Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt. dtv. München 2015. 303 S. In: http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/2026-simon-dudek-geopolitik
 
 
Anschrift des Verfassers:

Dipl.-Pol. Simon Dudek
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
KU Eichstätt-Ingolstadt
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Telefon: +49 8421 93 21773

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