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Kategorie: Rezensionen

Schweizerisches Architekturmuseum Basel; Ferguson, F. (Hrsg.) 2008: S AM 04 – ARCH/SCAPES. Die Verhandlung von Architektur und Landschaft in der Schweiz / Negotiating Swiss Architecture and Landscape. Basel: Christoph Merian Verlag. 80 S.

Die Erweckung und Erschaffung von Landschaft
Eine neue Disziplin ist erfunden, als Unterabteilung von Raumplanung: die Landschaftserweckung; und entsprechend sind neue Berufe geboren, als Spezialisierungen von Raumplanerinnen und Raumplanern: der/die Landschaftserwecker/-in. Der Erfinder heisst Angelus Eisinger, Professor für Stadt-und Raumplanung an der Hochschule Liechtenstein. Er präsentiert seine Idee – reich mit Beispielen illustriert – in S AM 04, der neusten und vierten Ausgabe in der Publikationsreihe des Schweizerischen Architekturmuseums Basel, Begleitbuch zur Ausstellung «Arch/Scapes – Die Verhandlung von Architektur und Landschaft». Diese Ausstellung, produziert vom Architekturmuseum und dessen Leiterin Francesca Ferguson im Auftrag des Bundesamts für Kultur, war der Schweizer Beitrag zur 7. Internationalen Architekturbiennale São Paulo 2007 und Anfang 2008 dann an ihrem Ursprungsort in Basel zu sehen (noch bis 11. Mai).

Landschaftserweckung hat nicht nichts zu tun mit Landschaftsarchitektur, ist mit ihr aber nicht zu verwechseln: Dieweil Landschaftsarchitektur Landschaft kreiert, wo bislang keine war, führt Landschaftserweckung einen Dialog mit Landschaft, präpariert bereits (oder noch) vorhandene Landschaft dort, wo sie im Häuserhaufen unkenntlich geworden ist, heraus, hebt sie gleichsam auf einen Präsentierteller, macht sie erkennbar, zieht die unter der Siedlungsdecke verschüttete wieder hervor. Den Unterschied legt Christophe Girot, Professor für Landschaftsarchitektur an der ETH Zürich, im zweiten Hauptaufsatz des Buchs dar. Er ist überschrieben mit «Die Landschaftsarchitektur und der bröckelnde Naturmythos».

Der Bogen des Gedankens, der zur Landschaftserweckung führt, beginnt mit dem dritten Haupttext «Alpine Wucherungen – die Urbanisierung der alpinen Freizeitperipherie» von Michael Zinganel, Architekturtheoretiker, bildender Künstler und Kurator in Wien und Graz. Zinganel fasst in Begriffe, was (fast) alle schon stirnrunzelnd wahrgenommen haben. Die «Sehnsuchtsdestinationen» der sogenannt unberührten Natur wie der alpinen Kulturlandschaft sind zu Appartement-, Parkhaus-, Seilbahn- und Shoppingagglomerationen mutiert. «Baulich und städtebaulich, als physische Objekte und als semiotische Systeme stellen diese Agglomerationen unzweifelhaft Wucherungen dar, die aufgrund der viel zu vielen Formelemente formlos werden.» So präsentieren sich die Alpenlandschaften als «Freizeitpark», als «kollektives Fun- und Sportgerät». Ähnliches lässt sich von der Schweizer Landschaft generell sagen. Sie ist «fragmentiert», «kolonisiert», zum «Flickenteppich von Teillandschaften» geworden (Eisinger), und nicht mehr geeignet, Identifikation oder gar Heimatliebe zu stiften.

Und nun? Gegen Landschafts- und Naturschutz hat wohl keine und keiner der Autorinnen und Autoren etwas, soweit noch etwas zu schützen übrig geblieben ist. Doch ist die Verteidigung von Restbeständen für diesmal nicht Thema. Der Blick geht kühn und prospektiv von der Frage aus: Wie lässt sich Landschaft wieder vermehren, also mehr als zurückgewinnen oder wiederherstellen oder rückbauen, nein: neu schaffen, neu bauen.

Christophe Girot setzt auf Landschaftsarchitektur «als Instrument zur Kompensation». «Es beginnt eine neue Art urbaner Landschaft heranzuwachsen, die keinen direkten Bezug mehr hat zu den herkömmlichen Natursymbolen und den hehren Gesetzen des schweizerischen ‹Alpenblicks›.» Er führt als leuchtende Beispiele innerstädtische Ufergestaltungen sowie den im Buch in Bild und Text dokumentierten Glattpark in Opfikon/Zürich an (Landschaftsarchitektin Gabriele Kiefer, Berlin), Beispiele, die Landschaft «frei von nostalgischen Rückgriffen» neu interpretieren oder sogar neu definieren, Architekturkreationen, die Landschaften nicht als Kopien vermeintlicher Originalnatur nachzubilden versuchen, vielmehr keck neue Typen und Originale schaffen.

Und was hat es nun mit der Erweckung von Landschaft auf sich? Angelus Eisinger definiert zuerst und offeriert dann fünf «Taktiken». Definition: «Landschaft erfährt ihre Erweckung durch architektonische Konzeption. Sie wechselt vom stummen Gegenüber des Gebauten zum Resonanzkörper.» Die Überschriften der Taktiken: «1. Störung. 2. Akzentuierung. 3. Dialog der Massstäbe. 4. Bestätigung. 5. Injektion.»

Soweit, so abstrakt. Eisinger illustriert anschaulich, was jeweils gemeint ist, mit den Beispielen, die im Buch mit grosszügigen Farbbildern und mit Erläuterungstexten vorgestellt werden. Er liefert die Erklärungen in Form einer Interpretation der von Ausstellungsleiterin Ferguson zusammengestellten 15 Muster. Ich greife zwei heraus.

Zur Taktik 2 «Akzentuierung». Eine Genossenschafts-Wohnsiedlung mit 120 Wohneinheiten an der Stadtperipherie von Zürich, fertiggestellt 2005, von Pool Architekten, Zürich. Statt das ganze Grundstück an Hanglage in dreigeschossiger Regelbauweise zu überstellen, konzentrierten die Architekten die Wohnungen in zwei massiven, sieben-geschossigen Volumen an zwei Parzellenrändern. Somit bleibt der grösste Teil der ursprünglichen Obstbaumwiese erhalten, ein unurbanes Stück Landschaft mit Kuhwiese und altem Baumbestand, mit einer Stützmauer scharf abgegrenzt zur Agglomerationslandschaft, eben akzentuiert. So sei, schreibt Eisinger, «eine vielschichtige Stadtlandschaft» inszeniert worden, «die in der Ferne die Alpen, die Stadt Zürich und ihren See ins Bild setzt und gleichzeitig die Nähe neu programmiert.» Überdies sei auf diese Weise «eine radikale Demokratisierung der Aussicht, die sich allen Wohnungen bietet», gelungen.

Zur Taktik 4 «Bestätigung». Gion Caminadas Interventionen im Bündner Bergdorf Vrin. Caminada baute mehrere Gebäude im Dorf um und erweiterte das Dorf mit Neubauten am Rand, alles in der überkommenen Holz-Strickbauweise. Im Projektbeschrieb heisst es: «Diese Zimmermannshäuser, materialgerecht, robust und bodenständig charmant, bestimmen das historische Ortsbild mit ihrem warmen Holzton. Welcher, je länger vom intensiven ultravioletten Licht gebeizt, desto dunkler changiert zwischen Hellbraun und Schwarz.» Eisinger dazu: «Caminadas Interventionen überführen die lokale Tradition von der Konstruktion über die Gebäudeformen bis hin zu ihrem Landschaftsbezug in die Gegenwart.» Im Ergebnis hat der Tourist ein in die Landschaft eingebettetes Dorf vor sich, von dem er nur bei analytischem Hinsehen wahrnehmen kann, dass es neulich vergrössert worden ist, trotz Neubauten ungetrübte «Sehnsuchtsdestination».

Die «Erweckungen», die Eisinger meint, sind also architektonische Leistungen. Die Architektur tritt nicht nur in einen Dialog mit der Landschaft, sie moduliert sie, steigert sie, codiert sie neu. Und die Folgerungen für die Ausbildung der Landschaftserwecker/-innen: «An die Stelle von lehrbuchhafter Umsetzung von Prinzipien treten Vorgehensweisen, die auf Eigenheiten, Potenziale von Landschaften, aber auch auf ihre Verletzlichkeit aufmerksam machen. ... Dazu bedarf ... das architektonische Lernen einer Weitung seiner Perspektive. Üblich ist, Grundrisse zu untersuchen, Formgebungen zu studieren, konstruktive Belange zu betrachten oder städtebauliche Setzungen zu durchleuchten. Damit bleibt aber das Moment der Kommunikation der Architekturen mit ihrer Umgebung unterbelichtet.»

Rudolf Schilling, Zürich

 

disP 172, 1/2008, S. 102-103