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Kategorie: Rezensionen

Tilman Harlander, Gerd Kuhn, Wüstenrot Stiftung (Hrsg.) 2012: Soziale Mischung in der Stadt. Case StudiesHarlander Soziale Mischung – Wohnungspolitik in Europa – Historische Analyse. Stuttgart/Zürich: Krämer Verlag. 440 S.

Macht es die Mischung?
Soziale Mischung in der Stadt – das Thema dieses einschüchternd voluminösen und grossformatigen, sehr sorgfältig edierten und graphisch ansprechend gestalteten Werkes ist ein Dauerbrenner in der stadtsoziologischen, wohnungspolitischen und städtebaulichen Debatte. Es hat allerdings gerade in den letzten Jahren durch die Wohnungsknappheit in den wirtschaftlich starken Grossstadtregionen und durch die Auseinandersetzungen über Gentrifizierung, über die Jugendunruhen in Grosssiedlungen anderer Ländern oder über die Neuauflage des geförderten Wohnungsbaus neue Aktualität gewonnen. Stichworte, um die das Buch kreist, sind: sozialräumliche Polarisierung, erwünschte und erzwungene Segregation/Integration, Ghettoisierung und Gentrifizierung, Gated Communities und Social Mix und was Politik und Planung zu allem beigetragen haben und beitragen sollten. Das Buch kommt genau zur rechten Zeit, auch wenn dies angesichts der langen Vorlaufzeit eines solch ehrgeizigen Publikationsvorhabens sicherlich so nicht geplant gewesen sein konnte.

 

Mit diesem Buch, so darf ohne Übertreibung gesagt werden, liegt die erste umfassende Publikation in deutscher Sprache vor, die das Thema der Sozialen Mischung in der Stadt in ihrer historischen wie internationalen Dimension auf allen Massstabsebenen sowohl in analytischer als auch normativer Perspektive ausleuchtet. Die Grundlage bildet ein von der Mitherausgeberin Wüstenrot Stiftung in Auftrag gegebenes Projekt. Dazu haben neben den Herausgebern 28 weitere zum Teil namhafte Autorinnen und Autoren, überwiegend aus der Architektur und Stadtplanung, beigetragen. Die Konzeption des Buches ist anspruchsvoll und erforderte eine editorische Kraftanstrengung der seltenen Art. Der Aufbau und seine verschiedenen Komponenten bilden sich in dem etwas sperrigen Untertitel des Buches ab. Es besteht aus vier übergreifenden Kapiteln, in denen die insgesamt 43 Einzelbeiträge versammelt sind: vor allem Länderstudien und Projektporträts (case studies).

Das erste Kapitel, das die beiden Herausgeber, ein Sozialwissenschaftler und ein Historiker, im Alleingang bestreiten, zeichnet die Geschichte der sozialräumlichen Polarisierungen insbesondere in deutschen Städten vom Mittelalter bis zur deutschen Wiedervereinigung nach – eine grosszügig angelegte, aber sehr lesenswerte Tour d’Horizon. Alle weiteren Kapitel werden durch substantielle Einführungen und ein Resümee der Herausgeber gerahmt. Das zweite Kapitel macht in insgesamt fünf Länderstudien ausgewiesener Landeskenner (USA, Brasilien, China, Korea, Ägypten) die globale Dimension des Themas deutlich. Ein wichtiger Ertrag dieser Studien liegt in der Einsicht, dass die Ausprägung wie auch die gesellschaftliche Deutung sozialräumlicher Polarisierungen (erzwungen oder selbstgewählt) entscheidend vom kulturellen Kontext abhängen – also etwa Gated Communities in China einen gänzlich anderen sozialen Gehalt repräsentieren als in Brasilien. Sie sind daher entsprechend anders zu interpretieren. Dem Leser wird des weiteren vor Augen geführt, dass die uns vertrauten normativen Vorstellungen zur Europäischen Stadt und zu den Erwartungen an den Sozialstaat als Massstab zur Bewertung dieser Phänomene herzlich wenig taugen.

Im dritten Kapitel geht es um die verschiedenen Erscheinungsformen sozialräumlicher Polarisierungen und darauf bezogener Wohnungspolitiken in Europa. Dem gleichem Muster folgend wird in Länderstudien (Frankreich, Spanien, Polen, Türkei, Grossbritannien, Niederlande, Dänemark, Schweiz) nach einem gemeinsamen Raster dargelegt, welche gesellschaftliche und wohnungspolitische Bedeutung das Ziel der Sozialen Mischung in städtischen Quartieren in der Stadt hat, welche Gründe jeweils ausschlaggebend sind und wie sie im nationalen Kontext verankert sind. Es wird weiterhin gefragt, welche Rolle den Gated Communities in der Wohnungspolitik und dem Wohnungsbau des Landes zukommt und wie sie gesellschaftlich bewertet werden. Hier überrascht ebenfalls, wie gross die Varianz allein schon innerhalb der Nachbarländer Deutschlands ist. In der Schweiz gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass der Wohnungspolitik eine grosse Verantwortung zukommt, die sozialräumliche Spaltungen innerhalb der Städte einzudämmen; Gated Communities sind dort unbekannt. Im postsozialistischen Polen dagegen, insbesondere in der Hauptstadt Warschau, sind Gated Communities die dominante Form des Wohnungsneubaus. Für einen sozialorientierten Wohnungs- und Städtebau fehlen derzeit in dem Land die Voraussetzungen. Denn Polen hat sich wie sich kaum ein anderes Land nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Wirtschaftssystems neoliberalen Prinzipien ungezügelter Marktdominanz verschrieben.

Für einige Länder (USA, Brasilien (2. Kapitel) und Frankreich, Spanien, Grossbritannien und Niederlande (3. Kapitel) werden die Berichte durch ein bis zwei Fallstudien illustriert. Darin werden besonders exponierte Wohnungsbaukomplexe in Plan, Bild und Text vorgestellt. Beschrieben werden jeweils die Entstehung, der Städtebau und die Haustypen sowie die Nutzungsgeschichte. Die ausgewählten Projekte stehen exemplarisch entweder für aktuelle Formen von Gated Communities oder, im Gegensatz dazu, für ambitionierte Formen, im Wohnungsneubau eine soziale und ethnische Durchmischung der Bewohner zu erreichen. Für den ersten Typ steht neben anderen Le Parc d’Ariane in Toulouse, eine Residence fermeé mit 148 Wohneinheiten, wie sie vor allem in Südfrankreich seit den 1990er Jahren in Mode gekommen sind. Den zweiten Typ repräsentiert, hier ebenfalls beispielhaft genannt, das Projekt Le Medi in Rotterdam, ein Wohnkomplex mit 93 Wohnungen in einem Problemquartier, das ausdrücklich als ein multikulturelles Projekt konzipiert und gestaltet wurde, um Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und sozialer Stellung zusammenzuführen und dadurch zur Stabilisierung des ganzen Quartiers beizutragen.

Das vierte Kapitel befasst sich mit aktueller Theorie und Praxis von Mischung und Segregation in Deutschland. Den Einstieg bildet der sehr informative Überblick, den Tilman Harlander, einer der Herausgeber, zur Diskussion über Zuwanderung, «Überforderte Nachbarschaften», das Programm «Soziale Stadt» und die damit verknüpften wohnungs- und stadtpolitischen Strategien der sozialen Integration seit der Wiedervereinigung gibt. Mitherausgeber Gerd Kuhn widmet sich in seinem Beitrag dem seit der Jahrtausendwende aktuellen Thema der Reurbanisierung in Deutschland. Dabei fokussiert er auch auf die jüngsten heftigen kommunalpolitischen Konflikte zum Thema Gentrifizierung in den deutschen Metropolen, vor allem in Berlin. Dass es möglichweise eine beachtliche Kluft zwischen der subjektiven Wahrnehmung der Segregation und der Realentwicklung gibt, darauf lassen die empirischen Befunde des Beitrags von Stefan Siedentop, Stefan Fina und Sebastian Roos schliessen, die mit den klassischen statistischen Methoden der sozialökologischen Segregationsforschung das Segregationsniveau der beiden süddeutschen Grossstädte München und Stuttgart und deren Veränderungen über die Zeit vergleichen. In den meinungsstark geführten Debatten über sozialräumliche Polarisierungen in deutschen Städten ist gern wie selbstverständlich von Verschärfungen, Vertiefungen und Zuspitzungen die Rede. Diese vermeintlichen Gewissheiten können durch die Zahlen dieser Untersuchung, zumindest für die beiden untersuchten Städte, jedoch nicht so ohne weiteres bestätigt werden. Wie in den vorangegangenen Kapiteln werden auch hier exemplarisch insgesamt sechs neuere Wohnbauprojekte in deutschen Grossstädten vorgestellt, die je auf ihre Weise soziale Ausschliessung oder soziale Integration in besonders exponierter Form repräsentieren; genannt seien hier als eine innerstädtische Gated Community der Barbarossa Park in der Aachener Innenstadt und als ein besonders eindrucksvolles Beispiel einer gelungenen städtebaulichen Strategie der sozialen Mischung der Ackermannbogen in München.

Ein sehr informativer Überblick der Herausgeber über die derzeitigen Strategien deutscher Grossstädte, dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum beizukommen, den Gefahren der sozialräumlichen Spaltungen zu begegnen und gleichzeitig den sich ausdifferenzierenden Ansprüchen an das Wohnen gerecht zu werden, beschliesst das Kapitel. Dabei stützen sie sich auch auf zehn Interviews mit wichtigen Entscheidern in der kommunalen Planungspraxis und der Wohnungswirtschaft, deren Positionen am Ende des Buches in komprimierter Form gesondert wiedergegeben werden.

Mit diesem Buch ist ohne Frage ein grosser Wurf gelungen – zu einem sehr erschwinglichen Preis. Seine Qualität liegt in der fast überbordenden Fülle von Informationen zu einem zentralen und derzeit höchst aktuellen Thema der Wohnungs- und Sozialpolitik, der kommunalen Planung und des Städtebaus, die hier in eine wohl strukturierte und gut lesbare Form gebracht worden sind. Kaum jemand wird es von Anfang bis zum Ende in einem Zug lesen wollen, aber nicht nur Stadtforscher, sondern Interessierte aus der Zunft der Stadtplanung und Architektur, aus der Kommunalpolitik oder Wohnungswirtschaft werden hier fündig werden. Das Buch hat das Zeug zu einem Standardwerk – eine breite Leserschaft ist ihm auf jeden Fall zu wünschen.

Johann Jessen, Stuttgart

 

disP 195, 4/2013, S. 62-63

 

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