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Kategorie: Rezensionen

Sabine Preuß: Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (Hg.): „Ohne Toleranz funktioniert nichts“. Indisch-deutsche Technische Zusammenarbeit: Berufsbildung, Hochschule, ländliche Entwicklung (1958-2010). Reportagen, Interviews, Portraits. Frankfurt a.M. Brandes & Apsel 2013. 185 S.

Berufsbildung, Hochschulkooperation und ländliche Entwicklung waren in den ersten fünfzig Jahren der deutschen Technischen Zusammenarbeit mit Indien die zentralen Felder, die in diesem Band im historischen Rückblick beschrieben und in den politischen und kulturellen Kontext eingeordnet werden. Sabine Preuß, selbst langjährige Mitarbeiterin der Gesellschaft für Technische Zusam­menarbeit (GTZ, heute Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit – GIZ) in Indien, hat Hintergrundinformationen, Interviews und Zitate aus Gesprächen mit indischen und deutschen Mitarbei­tenden in diesen Projekten zusammen­gestellt und mit historischen sowie im Laufe der Recherche aufgenommenen Fotos illustriert.

Man kann das Buch vordergründig als Erfolgsgeschichte deutscher Ent­wicklungszusammenarbeit (EZ) mit Indien lesen. Es hat in den betrachteten 50 Jahren von den Anfängen in den 1950er Jahren bis ins neue Jahrhundert hinein einen umfangreichen Transfer an Technologie und technologischem Knowhow von Deutschland nach Indien gegeben. Ganze Heere von Beratern (Frauen waren eher die exotische Aus­nahme) wurden für Langzeit- und Kurzzeiteinsätze dorthin entsandt, um eine Meisterschule, Ausbildungswerkstätten z.B. im Maschinenbau, Trainingsinstitute, Forschungslaboratorien und technische Hochschulen mit aufzubauen, auszustatten und zu beraten. Im Rückblick wird konstatiert, dass wichtige Impulse für die Entwicklung ganzer Industrien gegeben wurden. Die ersten – heute so gefeierten – Public-Private-Partnerships wurden bereits in den 1980er Jahren initiiert.

Ebenso kann man das Buch als Erfolgsgeschichte der deutschen Industrie in Indien lesen. Es wird u.a. deutlich, dass deutsche EZ sowohl von den Ländern als auch vom Bund bereits in den Anfängen als Industrie- und Wirtschaftsförderung betrieben wurde. Die Interessen deutscher Firmen an Facharbeitern für ihre Werke in Indien waren ein zentraler Anstoß für die Kooperation im Bereich der Beruflichen Bildung. In der Hochschulkooperation wurden ganze Institute und Laboratorien mit neuestem Gerät aus Deutschland ausgestattet. Schließlich trugen Traktoren und Maschinen, Düngemittel und Saatgut aus deutscher Produktion in der Landwirtschaft zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion in den Bergregionen Himachal Pradeshs (Nordindien) und in den Nilgiri Hills (Südindien) bei. Auch die sogenannte weiße Revolution in der Milchwirtschaft – durch veränderte Methoden in der Viehhaltung und Viehzucht sowie den Aufbau einer Milchverarbeitungsindustrie – wurde mit deutscher Technik wie Molkereimaschinen gefördert.

Hervorgehoben wird, dass die ländlichen Entwicklungsprojekte zur Stärkung der Rolle und Stellung der Bäuerinnen beigetragen haben. Es wird aber auch deutlich, dass die verfolgten Projektansätze dem Ansatz der „nachholenden Entwicklung“ folgten und technische Beratung im Mittelpunkt stand, die zwar den landbesitzenden Bauernfamilien zu mehr Einkommen und Wohlstand verhalf, aber die Kleinbauern und Landlosen nicht erreichte. Die Interviews und Reportagen benennen z.T. durchaus selbstkritisch die Probleme der Projektkonzeptionen und -umsetzung aus der Perspektive der im Laufe der Jahrzehnte Beteiligten. Der Beitrag der Projektmaßnahmen zum Ziel der Armutsreduzierung und die – möglicherweise auch negativen – Auswirkungen auf die ressourcenarme Bevölkerung werden jedoch nicht kritisch analysiert. Bei den wichtigsten Armutsindikatoren wie Lebenserwartung, Kinder- und Müttersterblichkeit, Schutzimpfungen und absolvierte Schuljahre belegt Indien im internationalen Vergleich trotz aller „Entwicklungszusammenarbeit“ nach wie vor letzte Plätze.

Das Titelzitat „Ohne Toleranz funktioniert nichts“ entstammt nicht, wie Leser*innen zunächst vermuten könnten, aus den interkulturellen Begegnungen, sondern aus einer technischen Erfahrung: „Präzision entsteht nur in Verbindung mit Toleranz, mit zugelassener und kontrollierter Abweichung“ (31). Doch auch die interkulturellen Erfahrungen werden von den ehemaligen Mitarbeitern (bis auf die Autorin selbst ausnahmslos männlich!) in den Interviews und Gesprächen immer wieder hervorgehoben: Inder waren beeindruckt von der Disziplin, Pünktlichkeit, dem Qualitätsbewusstsein und der praktischen Herangehensweise der Deutschen, die selber mit anpackten, statt nur, wie in Indien üblich, Untergebenen Anweisungen zu geben. Deutsche lernten „Feingefühl“, waren beeindruckt von Ritualen und Zeremonien bei Einweihungen und sonstigen Festen und lernten, sich im politischen und bürokratischen System Indiens zurechtzufinden. In der Zusammenarbeit und im Zusammentreffen verschiedener Arbeitskulturen lernten Inder und Deutsche voneinander, auch durch Konflikte und gemeinsam entwickelte Lösungen. Ähnlichkeiten im Standesdünkel zwischen deutschen Professoren, die den deutschen Meister von oben herab behandelten, und indischen Brahmanen werden nicht verschwiegen: „Inder und Deutsche trafen sich hier in ihren Vorstellungen von ‘Respekt’ und vermutlich waren professoraler Standes­ und brahmanischer Kastendünkel nicht sehr weit voneinander entfernt.“ (96f) Nicht unerwähnt bleibt auch, dass auf dem Campus des Indian Institute of Technology in Madras die deutschen Familien isoliert in „little Germany“ lebten und es über die kollegialen Kontakte bei der Arbeit hinaus kaum Begegnungen zwischen indischen und deutschen Familien gab.

Gerade die genauen Beobachtungen und Deutungen und die vielen Stimmen im Originalton machen das Buch trotz analytischer Schwächen lesenswert. Die geschilderten Lernerfahrungen sind auch für heutiges Nachdenken über Sinn und Unsinn der EZ relevant. Die Rezensentin hätte sich eine solche Reflexion in einem Schlusskapitel gewünscht.
Hildegard Scheu

PERIPHERIE Nr. 140, 35. Jg. 2015, S. 511-512