Rolf Keim: Wohnungsmarkt und soziale Ungleichheit. Über die Entwicklung städtischer Polarisierungs-prozesse. Basel u. a. 1999. 339 S.

Untersuchungen von Wohnungsmarkt und Wohnungspolitik sind in Deutschland gemeinhin eine eigenständige Sparte, getrennt von der Erforschung sozialräumlicher Entwicklungen. Keim hat es unternommen, beides in der Untersuchung der mittleren Großstadt Kassel zusammenzubringen. Gleichzeitig überprüft er mit vielfältigem statistischem Material die Gültigkeit der sog. Theorie von Wohnungs-Teilmärkten für die späten 60er Jahre - die Zeit der Vollbeschäftigung - und für die 80er Jahre - die Zeit der Umbruchskrise in eine neue Epoche "post-fordistischer" Gesellschaftsentwicklung. Das ist ein bißchen viel auf einmal. Aber die Lektüre lohnt sich auch dort, wo Zusammenhänge nicht hergestellt werden: man bekommt mit, wie der Verfasser den sinkenden Erklärungswert einer Theorie realisiert, sie gerade aus diesem Grund sehr sorgfältig und differenziert empirisch prüft - dazu muß man sich in zwei Kapiteln durch viele Daten hindurchkämpfen - und schließlich einen anderen Ansatz findet, den er allerdings mit seinen gegebenen Datensätzen nicht ausreichend untermauern kann.
Nach der Theorie der Wohnungs-Teilmärkte ist das Mietverhältnis eine gesellschaftlich überformte Wirtschaftsbeziehung. Lange Wohndauer bzw. geringe Mobilität lassen in dem von Mittelschichten besetzten Teilmarkt mittlerer Wohnungsqualität die persönliche Beziehung durchschlagen mit der Folge relativ niedriger Mieten für akzeptable Wohnungsqualität. In anderen Teilmärkten mit hoher Mobilität herrschen dagegen rein ökonomische Gesichtspunkte. Unter Bedingungen anhaltenden Wohnungsmangels führt dies zu hohen Mieten in den mobilen Oberschichts-Teilmärkten, die immerhin mit hoher Wohnungsqualität einhergeht, und zu relativ hohen Mieten für schlechte Wohnungen im Teilmarkt der Unterschichten, die zu Mobilität gezwungen sind. Letzteres ist dann fatal, wenn schlechte Wohnverhältnisse und hohe Mietbelastungen, also eigentlich eine ausbeuterische Beziehung, die ohnehin gegebene soziale Benachteiligung und Einkommensarmut noch vertiefen.
Diese Theorie, von Ipsen formuliert und für Mannheim (u. a. Ipsen 1983) und Kassel (u. a. Siebert 1983) empirisch bestätigt, setzt sich ab von der sog. Filtering-Theorie, nach der der Wohnungsmarkt zwar nach Wohnungsqualitäten und -alter gewissermaßen gleichlaufend mit der sozialen Hierarchie gestuft sei; Mobilität der Bewohner und die Gleichgewichtstendenz von Angebot und Nachfrage sorgten aber dafür, dass der ständige Neubau qualitativ hochstehender Wohnungen im sozialen "Oben" den gesamten Markt in Bewegung halte, so dass durch Umzüge in jeweils qualitativ bessere Wohnungen jede soziale Schicht von Verbesserungen "oben" profitiere, ohne dies mit Einkommenseinbußen bezahlen zu müssen. Seit den 70er Jahren Basis bundesdeutscher Wohnungsbau- bzw. Wohnungsmodernisierungspolitik, wurde diese Theorie als theoretisch und empirisch realitätsfremd von den Sozialwissenschaften befehdet.
Auch Keim kritisiert sie scharf; ihm ist - wie den meisten Stadtsoziologen und vielen Sozialgeographen - die Teilmarkt-Theorie ersichtlich sympathisch. Nicht zuletzt deshalb ist seine Überprüfung mit amtlichen statistischen Daten peinlich genau; sie läuft nicht auf Bestätigung oder Wiederlegung hinaus, sondern auf die Frage: was von dieser Theorie läßt sich heute noch retten? Diese Genauigkeit ermattet etwas beim Lesen, zumal die Problematik der Aussagekraft amtlicher Daten (v. a. aus Wohnungszählungen) sehr genau reflektiert wird. Genauigkeit erweist sich aber z. B. als produktiv, wenn Mobilität - im Gegensatz zu bisherigen Untersuchungen - differenziert wird nach Wohndauer und Umzugshäufigkeiten. Wachsende Sesshaftigkeit auch in den Unterschichten geht demnach einher mit häufigen Umzügen einer kleinen Gruppe von Haushalten - eine Information, die von Durchschnittzahlen "geschluckt" worden wäre. Die Beschränktheit amtlicher Daten wird aber auch hier offenbar: Wer diese hoch mobilen Unterschichts-Haushalte sind, bleibt im Dunkeln. Auch die häufigen Reflexionen der Aussagekraft von Daten erweisen sich als nützlich; die Modernisierungswelle in den 80er Jahren etwa hat den Indikator "Sanitärausstattung" für Wohnungsqualität entwertet (praktisch alle Wohnungen verfügen inzwischen über Bad und WC) - erklärungsmächtigere Dimensionen wie Lagegunst, Verkehrslärm, Instandhaltungszustand sind aber, wie Keim betont, nicht durch amtliche Daten fassbar. Die Vielfalt von Zahlen und Tabellen drückt also nicht Datenhuberei, sondern vielfältige Analyse aus. Die Lektüre wird dadurch natürlich nicht einfacher. Angesichts der Beschränkungen amtlicher Daten ergänzt Keim seine Befunde häufig durch andere Untersuchungen. Das hat immerhin den Vorteil des Blicks über den Kasseler Tellerrand hinaus auf die ganze Bundesrepublik.
In den beiden Kapiteln über Teilmärkte in Kassel werden sozialer Wohnungsbau und Eigentumssektor aus der Analyse ausgeschlossen, d. h. nicht als erklärende Variablen verwendet, nicht zuletzt weil an vorherige Untersuchungen angeknüpft wird, die diese ausschlossen. Aber das Wohnen von Unter- und v. a. in den 60er Jahren auch von Mittelschichten ist nun einmal stark von der Sozialwohnungs-Alternative beeinflusst; erst so wird das Analyse-Ergebnis zu den 60er Jahren in Kassel plausibel: im Widerspruch zur Teilmarkt-Theorie haben die Unterschichten in Kassel, mit seinen umfangreichen Sozialwohnungsbeständen, keine zu hohen Mieten für schlechte (freifinanzierte) Wohnungen gezahlt, sie wohnten allerdings überwiegend in qualitativ schlechten Wohnungen. Als benachteiligt in der Preis-Qualitäts-Relation erscheinen lediglich die mobilen Oberschichten, die für gute Wohnungen unverhältnismäßig viel zahlen mussten. Hier deutet sich schon Keims zentraler Befund an: niedrige Wohnungsqualität und niedrige Mietpreise unterscheiden die Unterschichten deutlich von den Oberschichten. Die Trennungslinie entsteht aber nicht durch Teilmarkt-Mechanismen, sondern historisch: traditionell war die Stadt in Arbeiterund (zunehmend) Ausländerviertel im industriell und verkehrsmäßig belasteten Norden und Osten, und in Mittel- und Oberschicht-Viertel im Westen geteilt. Der umfangreiche soziale Wohnungsbau im ganzen Stadtgebiet hat diese räumliche Segregation zwar durchlöchert, aber nicht aufgehoben - und zur Gegenwart hin stellt sie sich zunehmend wieder ein.
Zwischen die Überprüfung des Wohnungsmarkt-Materials aus den 60er und aus den 80er Jahren schiebt Keim ein Kapitel zur Theorie von Stadtentwicklung allgemein, die er am Beispiel Kassels konkretisiert. Seine Erläuterungen über die Krise der "fordistischen Stadt", die mit der Entstehung eines neuen "Akkumulationsregimes" einhergeht, und die sich verbindet mit vertieften gesellschaftlichen Spaltungen zwischen Gewinnern und Verlierern der freigesetzten Marktkräfte, bleiben sehr begrifflich. Sie dienten wohl eher der Selbstverständigung, der Erklärungswert der Begriffe für Wohnungsmarktentwicklung und für soziale Segregation wird nicht deutlich. Anschaulicher wird anschließend erklärt, wie auf den Trümmern des zu drei Vierteln zerstörten Kassel die "gegliederte und aufgelockerte", mit neuem tertiärem Zentrum versehene, von Verkehrsschneisen durchzogene, von Eigenheimsiedlungen durchsetzte und von Sozialwohnungs-Trabantensiedlungen umgebene "fordistische Musterstadt" entstand. Sie bot auch den Arbeitern der großen Industriebetriebe modernes Wohnen mit gutem Standard und Teilhabe am Massenkonsum. Die Krise dieses Modells entstand, wie andernorts auch, aus De-Industrialisierung: ein Drittel der Industrie-Arbeitsplätze ging verloren, aber in Kassel gab es nur ein schwaches Wachstum moderner Dienstleistungen. Lediglich der Ausbau öffentlicher Einrichtungen, v. a. der Universität, minderte den Beschäftigungsabbau. Die Abwanderung Einkommensstärkerer ins Umland, das Zurückbleiben sozial Schwächerer (und die wachsende Zahl von Studenten) in der Kernstadt und die wachsende Belastung der Kommune mit sozialen Kosten erzeugte eine territoriale Form sozialer Polarisierung. In der Stadt selbst blieben aber die sozialen Unterschiede mäßig - soweit sie sich aus amtlichen Daten ablesen lassen. Abgerundet wird dieser Überblick mit einer Darstellung und Kritik nationaler und kommunaler Wohnungspolitik. Keim arbeitet sehr klar heraus, welche sozialen Folgen die politisch gewollte Freigabe von Marktmechanismen im Wohnungsbau hatte, und wie sich der Niedergang des sozialen Wohnungsbaus und die Förderung privater Wohnungsmodernisierung in unverhältnismäßigen Mietbelastungen gerade der Unterschichten niederschlugen. Seit dem (heute veralteten) Buch von Herlyn/Herlyn und neben der 1996 erschienenen "Soziologie des Wohnens" von Häußermann und Siebel gab es in den letzten 20 Jahren keine so materialreiche, anschauliche und vor allem kompakte Darstellung der sozialen Implikationen von Wohnungspolitik. Keim bleibt freilich den Nachweis schuldig, dass und inwiefern Kassel für einen ganzen Typus mittlerer "postfordistischer" Großstädte stehe, in denen Beschäftigung, Wohnungsmarkt, soziale Lagen und Segregation sich gleichermaßen entwickelten.
Die folgende Untersuchung zur Teilmarkt-These für die 80er Jahre bleibt deutlich blasser, da Keim sich zur Überprüfung weitgehend auf die schon zuvor verwendeten Datensätze aus der amtlichen Statistik beschränkt. Er geht auch hier sehr sorgfältig vor; so werden etwa die Gebietseinheiten entsprechend zwischenzeitlicher sozialer Veränderungen neu zugeordnet. Das Ergebnis der Überprüfung: Qualitätsmerkmale sind mittlerweile maßgebend für Mieten, Wohndauer spielt nur innerhalb, nicht zwischen Teilmärkten eine Rolle. Unterschichten bleiben zwar diskriminiert: sie zahlen gleich hohe Mieten für Wohnungen gleicher Ausstattung, aber schlechterer Lagegunst im Vergleich zu den Mittel- und Oberschichten. Ihre Benachteiligung in Lage und Quartiersausstattung wird aber mangels amtlicher Daten nicht mehr statistisch fassbar. Diese Einsicht nach einem sehr komplexen Material-Durchgang ist geeignet, die Beerdigung der Teilmarkt-Theorie einzuläuten. Zwar besteht noch ein Zusammenhang von Miete und Wohndauer - aber es gibt keine sozialen Teilmärkte mehr. Große Teilmarkt-Aggregate werden den Differenzierungen in den Unterschichten nicht mehr gerecht und können keine übergreifenden Wohnungsmarktentwicklungen mehr erklären. Unterschichten sind heute vielfältig aufgespalten. Sie sind teils seßhafter und wohnen damit mietgünstiger als mobile Gruppen derselben Schicht. Sie sind teils erwerbstätig, teils dauerarbeitslos; sie sind ethnisch gespalten; sie werden zunehmend in eigene Viertel abgedrängt, die aber recht unterschiedlich geartet sind. Damit endet nach meinem Eindruck die über 200-jährige Geschichte der spezifischen "Arbeiter-Wohnungsfrage" (Adolph Wagner), der Arbeiter-Wohnungsmarkt löst sich auf in einen "Flickenteppich verschiedener Preisbildungsprozesse" (S. 295) und Wohnsituationen.
Dieser doch immerhin recht starke Schluß wird durch ein gelungenes Kapitel über Entwicklungen in je zwei Arbeiter-, Mittelschichts- und Oberschichtquartieren Kassels abgerundet. Der Übergang von der Teilmarkt-Analyse zur Untersuchung von Differenzierungen in und zwischen Vierteln ist theoretisch konsequent, kann aber empirisch nur teilweise unterbaut werden. Die großen Unterschiede in Wohnungsqualitäten und Mieten schwinden, Viertel der Seßhaften entstehen neben denjenigen der Mobilen. Hohe Mietpreis-Unterschiede finden sich in den ganz "bewegten" Quartieren - hier in einem von Aufwertung und Abstieg zugleich gekennzeichneten Gründerzeit-Arbeiterviertel und in einer in neuerer Zeit kräftig ausgebauten Villenkolonie. Während die Umzüge von Mittel- und Oberschichten sich auf den ganzen Stadtraum und alle Teilmärkte beziehen, sind die Wanderungen von Unterschichts-Angehörigen mehrheitlich auf alte und neue Arbeiterquartiere beschränkt - nach Keim ein Hinweis auf ihre zunehmende "Einschließung". Insgesamt: die Segregation zwischen Stadtvierteln wächst und wird zugleich kleinräumiger, und sozialer Ausschluß bahnt sich auch räumlich an. Daraus ergeben sich zwei Schlüsse:
1. Die kleinteiligen sozialen Unterschiede lassen sich nicht mehr mit großen Aggregaten erfassen. Nicht die großteiligen Markt-Analysen, sondern nur noch Gebiets- und Bereichs-Untersuchungen bilden Wohnungsmarktentwicklungen adäquat ab. Dem Auseinanderdriften sozialer Lagen in Großstädten kann nur noch mit Quartiers-Studien nachgespürt werden.
2. Die aus der Teilmarkt-Theorie abgeleitete Behauptung "sozialer Polarisierung" erscheint für Keim zu grobschlächtig. Neben Differenzierungen in der Oberschicht treten wachsende Spaltungen in den Unterschichten hervor. Ihre besonders benachteiligten Gruppen sind sozialräumlich segregiert und sozial offenbar (hier fehlt es an Daten) definitiv abgestiegen. Seit Beginn der 90er Jahre bringt auch traditionell sozialdemokratische Kommunalpolitik keine Integration von Minderheiten mehr zustande. Der Arbeitsmarkt schließlich erzeugt wachsende Gruppen Ausgeschlossener. Diesen Prozeß der sozialen, politischen und räumlichen Abtrennung einzelner Unterschichtsgruppen bezeichnet Keim als "Peripherisierung", die zu verstehen einen neuen Theorieansatz erforderte.
Während ersteres aus der Vielfalt der aufgearbeiteten Daten belegt wird, fehlt es für letzteres an empirischem Material und an synthetischer Arbeit. Marginalisierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt lässt sich zwar nach "Unterklassen"-Thesen durchbuchstabieren - aber ihre Zusammenhänge mit lokaler Politik sind für Kassel wie für andere deutsche Städte nicht geklärt. Und die räumliche Komponente lässt sich mit amtlichen Daten, auf denen Keims Arbeit basiert, immer weniger fassen. Insofern belegt das Buch zwar sehr sorgfältig das Veralten einer großräumigen Theorie und führt einen neuen Anspruch auf theoriegeleitete Forschung ins Feld, kann den aber nicht einlösen - nicht mit dem gegebenen empirischen Material, und nicht auf der Basis einer Fallstudie.
Literatur
Häußermann, Hartmut, Walter Siebel 1996: Soziologie des Wohnens. Weinheim, München.
Herlyn, Ingrid, Ulfert Herlyn 1983: Wohnverhältnisse in der Bundesrepublik. Frankfurt/ M., New York (2. Auflage).
Ipsen, Detlev 1983: Segregation, Mobilität und die Chancen auf dem Wohnungsmarkt. In: Volker Roscher (Hg.):. Wohnen. Hamburg. S. 55-82.
Siebert, Eberhard 1983: Wohnungsteilmärkte als Grundlage der Stadtentwicklungsplanung. In: Detlev Ipsen,
Christine Mussel (Hg.): Kommunale Wohnungspolitik. Kassel. S. 24-59.
Autor: Rainer Neef

Quelle: Quelle: geographische revue, 2. Jahrgang, 2000, Heft 1, S. 90-94