Drucken
Kategorie: Rezensionen

Martin Heß: Glokalisierung, industrieller Wandel und Standortstruktur. Das Beispiel der EU-Schienenfahrzeugindustrie. München 1998 (Wirtschaft & Raum, Band 2). 203 S.

Eine industriegeographische Analyse vorzulegen ohne den Rekurs auf das Schlagwort von der Globalisierung wird gegenwärtig niemand erwarten. Die in dem Schlagwort gern eingeschlossene Behauptung von der Entgrenzung und Entbettung hat in den letzten Jahren die Frage in den Mittelpunkt gerückt, welche Chance oder welche Schranke der Standort bzw. die Region für den Konkurrenzerfolg von Unternehmen darstellt. Unter dieser Fragestellung, der Bedeutung der Lokalität in einem globalen Markt, stellt auch der Verf. Seine empirische Studie der Schienenfahrzeugindustrie in der EU.
In der ersten Hälfte der Arbeit entwickelt Heß in einer kritischen, übersichtlich gegliederten und klar formulierten Diskussion der gegenwärtig wichtigsten Erklärungsansätze seinen theoretischen Rahmen. Er skizziert zunächst die Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit und beschreibt allgemein die dadurch bedingten bzw. ermöglichten industriellen Restrukturierungen im Weltwirtschaftsraum in Form von (Kapital-)Konzentrationen und veränderten Unternehmensstrategien. Die Forschung, so Heß, unterscheide vereinfacht zwei Formen der Restrukturierung als Folge der 'Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse': Zum einen die fordistischen Organisations- und Raumstrukturen - transnationale Unternehmen zentralisieren Kapital und Entscheidungsmacht (Oligopolisierung), integrieren Arbeitsprozesse und reorganisieren die Arbeitsteilung funktional wie territorial neu (Stichwort "headquarter economy"). Zum anderen neo- oder postfordistische Strukturen - kleine und mittlere Unternehmen wachsen erfolgreich im Weltmarkt durch flexible Spezialisierung und Nutzung regionaler/ lokaler Potentiale (Stichwort "Netzwerke", "industrial districts", "kreatives Milieu"). Heß hält die Konzentration der Forschung auf diese beiden Formen für eine unangemessene Simplifizierung, weil die vielfältigen Zwischen- und Übergangsformen gleichzeitig existenter inner- wie zwischenbetrieblicher Organisationsformen von Unternehmen dadurch empirisch wie theoretisch ausgeblendet würden.
Um einen Zugang zu diesen vielfältigen Formen funktionaler/räumlicher Arbeitsteilung zu schaffen, entwickelt er sein Konzept der "Glokalisierung", das die "zunehmend globale Reichweite unternehmerischer Aktivitäten ebenso wie Tendenzen einer lokalisierten Produktion und regional differenzierter Nachfrage" "berücksichtigen" soll (S. 55). Um die Phänomene, die auf diese Weise in den Forscherblick geraten sollen, zu erklären, prüft der Verf. Bereits vorhandene Theorien. Ausgehend von der Geographie des Unternehmens diskutiert er knapp und übersichtlich zentrale Ansätze industrieller Standortmuster auf unterschiedlichen Maßstabsebenen: auf der Unternehmensebene den Zusammenhang von Unternehmensgröße, Aufgabenumfang, Organisationsstrategien und Macht über den Transaktionskostenansatz; auf der Mesoebene der Branche die Produktlebensund Profitzyklustheorie sowie Porters Konzept der Wettbewerbsfähigkeit; auf der Makroebene die Regulationstheorie.
Keine dieser Theorien für sich, so sein Fazit, würde dem "komplexen Phänomen wie Glokalisierung" gerecht werden. Jeder Ansatz weise Schwächen auf - Defizite in der Reichweite (nur eine Ebene), der Operationalisierbarkeit und/oder des inhaltlichen Reduktionismus. Heß will deshalb die verschiedenen Theorien im Sinne eines "Theorienpluralismus" von Feyerabend "integrieren", wozu ihm die (Meso-) Analyseebene der Branche am besten geeignet erscheint. Mit diesem theoretischen Gerüst erfolgt im zweiten Teil die empirische Untersuchung des Schienenfahrzeugbaus in der EU.
Bevor auf den empirischen Teil der Arbeit eingegangen wird, verdienen drei Punkte eine kritische Anmerkung - das Konzept der "Glokalisierung", der Theorienpluralismus und die Verwendung der Wirtschaftsbranche als Analyseeinheit.
Unter dem Begriff der "Glokalisierung" will Heß die "Synthese" des "Verhältnisses" von "globaler Ausrichtung der industriellen Produktion und ihrer regional begrenzten Verortung" verstehen, ein "Verhältnis", so behauptet er, durch welches "das Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Regionalisierung ... gewissermaßen aufgelöst" (S. 55) werde. Worin diese "Spannungen" konkret bestehen und wie diese zugleich auch noch harmonisierend "aufgelöst" werden sollen, indem sie ein nicht näher bestimmtes "Verhältnis" bilden, bleibt unklar. Seine Erläuterung, die eine Seite, der spezifisch lokale/regionale Produktionskomplex oder die lokal/regional angepasste Produktionsstrategie, sei nichts anderes als eine "Äußerung", was soviel bedeutet wie die Erscheinungsweise, der anderen Seite bzw. des ganzen "künstlichen Begriffs" Glokalisierung, trägt nicht zur Klärung bei. Statt einer synthetischen oder analytischen Explikation soll hier offensichtlich nur gesagt werden, dass etwas irgendwie zusammenhängt: Unternehmen agieren einerseits in einem Weltmarkt ("globale Marktorientierung"), müssen andererseits dabei aber die stoffliche Warenproduktion immer noch an konkreten Orten organisieren ("lokale Einbettung"), funktionale und territoriale Arbeitsteilung sind also irgendwie verbunden. Der Inhalt von Glokalisierung kürzt sich somit auf die theoretisch kaum hilfreiche Trivialität 'space matters' zusammen und vernebelt die Frage, wie die "Lokalität" für weltweit operierende Unternehmen ein Kalkulations- und Konkurrenzmittel darstellt.
Die zweite kritische Anmerkung betrifft den angeblich notwendigen "Theorienpluralismus", den der Verf. Ontologisch begründet. Die Natur des Gegenstandes soll es erforderlich machen, dass je nach Sachverhalt (d. h. "kontextbezogen") die eine oder andere Theorie in der empirischen Analyse heranzuziehen sei. Heß unterstellt damit ohne nähere Begründung, die theoretischen Ansätze (z. B. die neoklassische Transaktionskostentheorie und die zumindest ursprünglich strukturalistisch-marxistische Regulationstheorie) würden sich einander nicht ausschließen, sondern seien inhaltlich kompatibel. In dieser klassisch postmodernen Wissenschaftsauffassung dienen Theorien damit als (weitgehend) beliebig kombinierbare Sichtweisen und Interpretationsmuster. Die Hoffnung auf die Entwicklung einer alternativen geschlossenen Theorie in einer Dissertation mag etwas vermessen erscheinen, wenngleich man dies angesichts der vom Verf. formulierten Ansprüche wie z. B. der Auflösung des Spannungsfeldes von 'structure' (struktureller Kontext) und 'agency' (Unternehmen) (S. 93) - mit der nicht nur Giddens und Werlen ihre Mühe haben - erwarten könnte.
Der dritte Punkt betrifft die Begründung für die Wahl der Branche bzw. des sectoral approach als Analyseebene. In der Literatur wird vielfach bezweifelt, dass diese Aggregatebene sinnvoll ist, weil die wachsende Bedeutung vertikaler Beziehungen zwischen Unternehmen, d. h. der Produktionsketten, traditionelle Branchen auflöse und weil zum anderen Akteure die Unternehmen und nicht die Branche seien. Heß hält dem entgegen, dass Investitionsund vor allem Innovationsprozesse wesentlich unternehmensübergreifend vom branchentypischen, stofflichen Produktionsprozess und von branchenspezifischen Institutionen und Regelwerken geprägt seien. Ob das der Fall ist, hängt von der konkreten Situation und von der Fragestellung ab. Für beide Herangehensweisens - für die Analyse auf der Ebene von Wirtschaftssektoren wie auch für die Analyse auf der Ebene von Unternehmen - gibt es gute Gründe. Letztendlich handelt es sich nur um eine Fokussierung der Konkurrenzanalyse auf einen Schwerpunkt, die ohne den anderen Teil nicht auskommt. Das zeigt auch der empirische Teil der Arbeit von Heß, der in Fallstudien auch auf die Unternehmensebene zurückgreift. Eigenartig (aus postmoderner Sicht vielleicht auch wieder nicht) ist jedoch die Begründung die Wahl der Branchenebene mit der "sinnvollen Umsetzung des Theorienpluralismus" (S. 165) statt mit den Notwendigkeiten der Marktanalyse.
Wie problematisch die Zuordnung von Unternehmen zu Branchen ist, wird gleich zu Beginn des zweiten Teils der Dissertation deutlich. Die Gliederung der amtlichen Statistik erscheint Heß zu recht als untauglich. Er versucht es daher über ein Branchenkompendium ('Jane's World Railways'), das allerdings auch Korrekturen erfordert, jedoch als Grundlage für eine Befragung einen brauchbaren Weg darstellt. Im empirischen Teil stellt der Verf. nach informativen Überblicken über die historische Entwicklung und verkehrs- und industriepolitischen Regulierungen seitens der EU vor allem die aktuelle Situation in der strukturellen Entwicklung der Schienenfahrzeugindustrie dar, besonders im Hinblick auf Unternehmensorganisation und -integration, Technologie- und Innovationsintensität wie Standortmuster und Verflechtungsreichweiten (Zulieferer, Beschäftigte). Grundlage dafür bilden Geschäftsberichte, Dokumente, Sekundärstatistiken u. ä. und vor allem 58 schriftliche Unternehmensbefragungen (rd. 24 % aller Unternehmen und 30 % des Umsatzes dieser Branche). Die Auswertung dieser Quellen zeigt interessante Zusammenhänge auf z. B. über Unternehmensgröße und Flexibilisierung bzw. Zulieferverflechtung, ohne jedoch die Repräsen- tativität zu klären, was den Aussagegehalt einer Branchenanalyse im Unterschied zu Fallstudien mindert. Die zusätzlichen Fallstudien über DWA und PFA illustrieren sehr anschaulich unterschiedliche Unternehmensstrategien unter den Globalisierungsbedingungen wie auch die besonderen Problematiken der Umwandlung von Plan- in die Marktwirtschaftsunternehmen in Ostdeutschland.
Insgesamt enthält der empirische Teil eine Fülle gut aufbereiteter und in dieser Übersicht neuen Informationen über diese technologische 'Schlüssel'branche. Der theoretische Teil bietet eine knappe, präzise und gut lesbare Übersicht über die aktuelle Diskussion des "Dreiecks" regionalökonomische Entwicklung - Globalisierung - Unternehmensstrategien.
Ein Wermutstropfen fällt allerdings in das Glas dieser wie vieler anderer empirischen Branchenanalysen. Von lohnenden Erträgen, Produktionskosten, Beschleunigung der Kapitalzirkulation u. ä. Konkurrenzmitteln, kurz vom wertmäßigen Produktionsprozeß und dessen Resultat erfährt man nichts - wie so häufig im Globalisierungsdiskurs. Und entsprechend auch nichts über die wertmäßige Bedeutung von räumlicher Nähe/Ferne.
Ein zweiter Wermutstropfen ergibt sich, fragt man nach dem theoretischen Ertrag: Welche Erkenntnisse erbringen das Konzept der Glokalisierung und die Methode der kontextabhängigen, pluralistischen Theorienanwendung? Als zentrales Ergebnis notiert Heß in seinem Resümee: "Hinter den jeweiligen Ausprägungen industrieller und räumlicher Organisation der Produktion verbergen (!, v.F.) sich komplexe (!, v.F.) Zusammenhänge; es gibt nicht nur eine Gleichzeitigkeit ... (von Fordismus und Postfordismus), sondern zahlreiche hybride Formen, die vielleicht am zutreffendsten mit Glokalisierung einerseits und Neo- Fordismus andererseits ... beschrieben werden können" (S. 166). Einen theoretischen Fortschritt lässt diese Aussage nicht erkennen. "Komplexität" ist ein leeres, wenn nicht anti-theoretisches Argument. Die Entschlüsselung der "komplexen" Zusammenhänge bleibt also noch eine Herausforderung.
Autor: Hans-Dieter von Frieling

Quelle: geographische revue, 2. Jahrgang, 2000, Heft 2, S. 73-76