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Kategorie: Rezensionen

Hans Dieter Schultz (Hg.): Quodlibet Geographicum - Einblicke in unsere Arbeit. Berlin 1999 (Berliner Geographische Arbeiten 90). 214 S.

Titel und Vorwort drücken es explizit aus: Der Band 90 der "Berliner Geographischen Arbeiten" soll als Sammelband Aufschluß über die Spannweite der aktuellen Forschungen am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin geben. Darüber hinaus erfüllt er aber noch eine andere Zielstellung, die in der Widmung und im ersten Beitrag, quasi dem "editorial", zum Ausdruck kommt. Es ist die Würdigung des Lebenswerkes von drei Professorenkollegen, deren wissenschaftlicher Werdegang dadurch gekennzeichnet ist, daß Jahrzehnte ihres Schaffens, und damit auch ihre Hauptschaffenszeit, "the prime of their scientific life", von den Zwängen der SED-Diktatur geprägt waren. Wenn auch gegenwärtig der Trend eher gegen "Festschriften" gerichtet ist, so bleibt es dennoch eine hervorzuhebende kollegiale Geste, daß die nachfolgenden Professorenkollegen, Mitarbeiter und ehemaligen Schüler den "Jungemeriti" ein Heft ihrer hauseigenen Publikationsreihe widmen. Dies ist besonders begrüßenswert, zumal es im vorliegenden Fall gilt, Fachkollegen zu ehren, die, wie die Professoren Manfred Hendl, Joachim Marcinek und Bernhard Nitz, als ideologische Nonkonformisten während des DDR-Regimes in ihrer wissenschaftlichen Arbeit und Entwicklung behindert wurden und dennoch - wie ihre wissenschaftlichen Publikationen belegen - beachtliche wissenschaftliche Leistungen vollbrachten.Im einleitenden Aufsatz "Zur Entwicklung der Physischen Geographie an der Humboldt-Universität zu Berlin bis 1990" geben die Autoren G. Kokles und H. D. Schultz einen knappen Einblick in die Schwerpunkte geographischen Arbeitens und Forschens seit der Einrichtung einer ao. Professur mit der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zur Wiedereröffnung der Universität nach dem Zweiten Weltkrieg im Januar 1946. Einer sorgfältigen Analyse unterziehen sie die 44 Jahre währende Entwicklungsphase der Geographie an der Humboldt-Universität, die durch eine immer stärker werdende Einflußnahme von "Partei und Regierung" auf die geographische Lehre und Forschung an allen Universitäten und Hochschulen in der späteren DDR gekennzeichnet ist.
Auf der Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung mit dem noch aus der DDR-Vergangenheit vorliegenden Quellenmaterial sowie zahlreicher Veröffentlichungen bis 1990 gelingt es den Autoren, die Situation der Geographie an der Humboldt-Universität während der SED-Diktatur zu charakterisieren. Besonders aufschlußreich sind die zahlreichen Zitate und angeführten Belege aus Akten und anderen Unterlagen des Instituts aus der DDR-Vergangenheit. Dazu gehören z. B. solche Dokumente wie die Perspektivpläne der Fachrichtung Geographie, die Erfüllungsberichte für den Kampf um den Staatstitel "Kollektiv der sozialistischen Arbeit", Konzeptionen für den wissenschaftlichen Beirat Geographie beim Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen der DDR und Vorlagen für die Fachkommission Geographie beim Ministeriums für Volksbildung und Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen und ganz besonders die sogenannten Kaderentwicklungspläne sowie die Stellenpläne des Instituts bzw. der späteren Sektion Geographie; denn sie spiegeln allesamt die von der SED diktierten politisch-ideologischen Vorgaben und Auflagen, die unbedingt zu erfüllen waren, wider.
Nur in diesem, von Ideologie und Politik bestimmten Zusammenhang, ist die Entwicklung der Physischen Geographie und des gesamten Instituts, wie auch so manche - auch physischgeographisch orientierte Publikation - und, last not least, sind auch Werdegang und wissenschaftliche Leistungen der Kollegen zu verstehen und zu werten, denen dieses Heft der Berliner Geographischen Arbeiten gewidmet ist.
Landschaftsökologie und Landschaftsforschung am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin werden in dem vorliegenden Sammelband durch den Bericht zu einer von L. Ellenberg initiierten Tagung zu Fragen der Wildtier-Bewirtschaftung in Afrika südlich der Sahara vertreten. Ellenberg sieht im wildlife management einen Themenkomplex, "der mit Viehzucht, Ackerbau, Naturschutz, Landschaftsökologie, Tourismus, Landnutzungsplanung (und) Regionalentwicklung eng verflochten ist und zunehmend Hoffnung für das Management der natürlichen Ressourcen in sich birgt". Ausgehend von der Tatsache, daß in den Savannen Afrikas noch eine Vielzahl von Großtierarten existiert, schildert der Autor in knappen Zügen die gegenwärtige Situation im subsaharischen Raum unter den Aspekten der Großtierjagd, des Fototourismus, der Subsistenz-Fleischbeschaffung (letztere insbesondere in den humiden Regionen Zentral- und Westafrikas), der Verfolgung von Wildtieren - insbesondere der Elefanten und Nashörner - durch Wilderer sowie der Entwicklungszusammenarbeit. Daraus werden einige aktuelle Probleme, wie z. B. die der Schutzgebiete oder die Gefahr der Übernutzung und Zerstörung der natürlichen Ressourcen, abgeleitet. Ein kurz gefaßter Forderungskatalog, in dem einige Ziele und Maßnahmen für die zukünftige Entwicklung einer Wildtier-Bewirtschaftung formuliert werden, beschließt den Tagungsbericht.
Mit einem Ausblick auf das Klima im 21. Jahrhundert beschäftigt sich W. Endlicher (der Nachfolger von M. Hendl ) in der Wiedergabe seiner Antrittsvorlesung anlässlich seiner Berufung auf die Professur für Klimatologie und Vegetationsgeographie. Ausgehend von einer Betrachtung des Klimasystems und seiner Teilkomponenten, der räumlichen und zeitlichen Dimension des Klimas sowie seiner Bedeutung im Natur- und menschlichen Lebensraum werden - nach einem kurzer Blick auf Klimaschwankungen in geologischen Zeiträumen - in einem zweiten Abschnitt der natürliche Treibhauseffekt der Atmosphäre und die anthropogenen Eingriffe in das Klimasystem diskutiert. Den Schwerpunkt der Arbeit bildet die Analyse der Auswirkungen dieser anthropogenen Klimabeeinflussung, d. h. die Rückkopplungseffekte auf Prozesse in der Atmosphäre, Hydro- und Kryosphäre, Pedo- und Biosphäre sowie in besonders sensiblen Räumen wie Küsten, Hochgebirgen und Städten. Gestützt auf eine breite Literaturbasis diskutiert der Verfasser den Trend zu einer globalen Erwärmung und deren Auswirkungen z. B. auf die Wasserführung der Flüsse, das Abschmelzen der Gebirgsgletscher oder des Polareises, des Anstiegs des Meeresspiegels und der Änderungen der ozeanischen Zirkulation. Darüber hinaus wird aufgezeigt, daß andererseits regional Abkühlung zu beobachten oder zukünftig zu erwarten ist und daß dem Trend zu höheren Niederschlägen in bestimmten Regionen abnehmende Niederschläge in anderen gegenüberstehen. Ebenso wird auf jahreszeitliche Veränderungen in der Niederschlagsverteilung, wie sie z. B. in Regionen der mittleren Breiten, wo einer Abnahme der Sommerniederschläge eine Zunahme der winterlichen Niederschläge gegenübersteht, hingewiesen; und es wird dieses Phänomen mit Änderungen in der atmosphärischen Zirkulation und der Häufigkeitsverteilung bestimmter Großwetterlagen in den verschiedenen Jahreszeiten als Folge des Treibhauseffekts in Verbindung gebracht. Insgesamt wird in knapper und prägnanter Form über den aktuellen Stand der Forschung auf diesem vieldiskutierten Gebiet und die zu erwartenden Konsequenzen für die Lebensräume der Menschheit informiert.
Durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert und in das Schwerpunktprogramm"Wandel der Geo-Biosphäre während der letzten 15.000 Jahre. Kontinentale Sedimente als Ausdruck sich verändernder Umweltbedingungen" integriert ist die von B. Nitz betreute Forschungsarbeit von I. Schulz zum Thema
"Geomorphologische und stratigraphische Untersuchungen zur Gerinnebettentwicklung der Spree innerhalb des Berliner Urstromtals". Mit diesen Untersuchungen setzt sie die Tradition der Quartärforschung am Geographischen Institut der Humboldt- Universität zu Berlin fort. Auf der Grundlage geomorphologischer, lithologischer, pollenanalytischer und malakologischer Befunde und gestützt durch 14C-Analysen gelang es ihr, die mehrphasige Anlage des Berliner Urstromtales (Terrassierung, Braided-River-Strukturen innerhalb der Talsande auf Permafrost und über Toteisblöcken) exakter als bisher nachzuweisen. Die Entwicklung der Spree, die über ein ehemaliges Schmelzwassertal in das Berliner Urstromtal mündet, ist an der Wende Spätglazial/Holozän durch Flusslaufverlegungen und die Umstellungen auf ein Gerinnebett, das durch große Mäanderschlingen charakterisiert war, gekennzeichnet. Sie ist eine Folge des schwindenden Permafrostes und des Austauens von Toteis. Die Anlage verschiedener Mäandergenerationen erfolgte im frühen Holozän infolge eines geringeren oberflächigen Wasserdargebot.
Als Vertreter der Kultur- und Sozialgeographie analysiert B. Freund in seiner Studie "Das Hochhaus - die dritte Dimension der Stadtmorphologie" am Beispiel deutscher Städte die wechselvolle städtebauliche Geschichte solcher Bauten, ihre symbolische Stellung in verschiedenen Gesellschaftssystemen, ihre Funktionen sowie ihre unterschiedliche Akzeptanz und Bewertung durch Verwaltungen und Bevölkerung. Dazu werden die technologischen, ökonomischen und ästhetischen Aspekte, die besonders im letzten Jahrzehnt Inhalt einer oft kontrovers geführter Diskussionen zum Hochhausbau waren, herangezogen Gestaltungsprinzipien, Standorttypen und vor allem die Probleme der "dritten Dimension der Stadtmorphologie" werden abschließend am Beispielen von Frankfurt am Main systematisiert dargestellt und diskutiert.
Die jüngere Entwicklung der Binnenwanderungen und Dekonzentration der Bevölkerung in Deutschland untersucht F.-J. Kemper (Bevölkerungs- und Sozialgeographie). Nachdem einleitendend die divergierende Entwicklung der Bevölkerungsverteilung durch Binnenwanderungen in Westdeutschland und in der DDR konstatiert wird, werden in einem zweiten Abschnitt die den Dekonzentrationsprozessen Suburbanisierung und Deurbanisierung zugrunde liegenden Konzepte erläutert. Besondere Beachtung findet dabei die Deurbanisierung als ein Prozeß, der in Deutschland noch recht neu ist, über dessen Ursachen die Auffassungen noch stark auseinandergehen und der bisher nur wenig unter systematisierenden Gesichtspunkten betrachtet wurde. Auf der Grundlage von Binnenwanderungsdaten, die für die gesamte Bevölkerung Deutschlands (in den alten Bundesländern für den Zeitraum 1980-1996, für die neuen Länder von 1991-1996) vorliegen und die nach Altergruppen differenziert werden konnten, wird die Rolle von Dekonzentrationsprozessen im wiedervereinten Deutschland (zunehmende Tendenzen zur Deurbanisierung in den alten Bundesländern; erste Hinweise auf eine Deurbanisierung in den neuen Ländern) hinterfragt.
E. Kulke widmet sich in seinem Beitrag wirtschaftsgeographischen Untersuchungen zur Entwicklung des Einzelhandels im Raum Berlin-Brandenburg. Nach einer Gegenüberstellung der allgemeinen strukturellen und räumlichen Entwicklungstendenzen im Einzelhandel Westdeutschlands und der DDR bis 1990 werden anhand von Fallstudien die standortstrukturellen Veränderungen im Einzelhandel des Berlin-Brandenburger Raums nach 1990 untersucht. Im Mittel- punkt des Interesses stehen dabei die nicht-integrierten Standorte im Umland Berlins als Ausdruck eines Suburbanisierungsprozesses, wohingegen durch die geplanten innerstädtischen ShoppingCenter eine Reorientierung auf die Innenstädte festzustellen ist.
Suburbanisierung und ihre Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Beschäftigung ist Gegenstand der Studie von M. Schulz (Angewandte Geographie) zum Thema "Beschäftigung und Arbeitsmarkt in der Region Berlin-Brandenburg nach der Wiedervereinigung". Nach einer Analyse der Bevölkerungs- und Beschäftigungsentwicklung, der Pendlerbeziehungen in der Region Berlin-Brandenburg, der Entwicklung der Zahl der Arbeitslosen und der Arbeitslosenquote sowie der Nutzung von Maßnahmen des zweiten Arbeitsmarktes kommt M. Schulz zu dem Ergebnis, daß die Entwicklungen in den beiden Teilräumen des engeren Verflechtungsraumes unterschiedlich verlaufen. Der Suburbanisierungsprozeß bringt dem Umland - also dem engeren Verflechtungsraum - in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht deutliche Vorteile, die u. a. durch steigende Einwohnerzahlen, aber niedrigere Arbeitslosenquoten zum Ausdruck kommen. Der engere Verflechtungsraum wird nach Ansicht der Autorin zunehmend zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum, dessen Potentiale nur bei einer politischen und ökonomischen Integration der Länder Berlin und Brandenburg nachhaltig genutzt werden können.
Genauere Aussagen in der Geographie durch Betrachtung der Unschärfe - Plädoyer für eine vermehrte Anwendung der Fuzzy-Theorie - ist das Thema von G. Peyke (Geographische Informationssysteme und ihre Anwendung in der Geographie) und W. Wolf. Einleitend wird aufgezeigt, wie viele komplexe Objekte und Systeme, die von Geographen erforscht werden, infolge ihrer Unschärfeeigenschaften in Struktur, Funktion und Verhalten sich einer exakten wissenschaftlichen Erfassung und Wertung entziehen. Zur Lösung dieses Problemkreises bieten sich fuzzytheoretische Ansätze an, die zunehmende Bedeutung in der geographischen Forschung gewinnen. Nach der Vermittlung einiger Grundlagen der Fuzzy-Theorie und der Fuzzy-Optimierung werden an zwei Beispielen fuzzymethodische Lösungsansätze demonstriert, die eine Beschreibung der Risiken bei Naturkatastrophen in einem urbanen Bereich ermöglichen und eine quantitative Abschätzung des Bedrohungs- und Zerstörungspotentials bei einem solchen Ereignis zulassen. Das zweite Beispiel dient der Demonstration einer Mehrziel-Optimierung zur optimalen Landschaftsnutzung.
Der Sammelband wird abgeschlossen mit einem Aufsatz von H. D. Schultz ( Didaktik der Geographie), der zu Bezugspunkten, Ansprüchen und Zielen der Schulgeographie im 19./20. Jahrhundert Stellung nimmt und mit der These "Geographische Bildung schafft politische Geltung" überschrieben ist. Belegt durch zahlreiche Beispiele und Zitate wird die gesamte Bandbreite der Inhalte und Erziehungsziele der geographischen Bildung an deutschen Schulen über das 19./20. Jahrhundert erfaßt. Eindringlich werden die Irrwege der deutschen Schulgeographie der Vergangenheit, wie die nationalistischen und imperialistischen, geo-deterministischen und geopolitischen, die rassistisch und machtpolitisch motivierten Theorien und Strömungen, die die Schulgeographie bis 1945 in Deutschland beherrschten, oder das auf die Sowjetunion und den "Klassenfeind im Westen" bezogene Freund-Feind-Denken in der DDR einer kritischen Betrachtung unterzogen. Die Forderung des Autors an die gegenwärtige Diskussion über Erziehungs- und Bildungsziele im Geographieunterricht wird treffend mit der Feststellung "politische Bildung in der Demokratie lebt von Alternativen, ein Geographieunterricht, der politisch bilden will, auch" umrissen.
Insgesamt legt der vorliegende Sammelband ein beredtes Zeugnis über die Leistungsfähigkeit und die aktuellen Forschungen an diesem traditionsreichen Geographischen Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin ab, macht aber auch die Defizite - wie z. B. die Disproportionen in der Anzahl der Professuren zwischen der Physischen Geographie und der Anthropogeographie - deutlich.
Autor: Horst Brunner

Quelle: geographische revue, 2. Jahrgang, 2000, Heft 2, S. 90-95