Dirk Hallenberger: Heimat und Industrie. Zur Literaturgeschichte des Ruhrgebiets. Essen 2000. 334 S.

Um es vorwegzunehmen: "Heimat und Industrie", der Titel des vorliegenden Bandes über die Literatur des Ruhrgebiets, hält nicht, was er verspricht! Zumindest wenn man als Geograph mit jenem Vorverständnis an die Dissertation des Germanisten Dirk Hallenberger herangeht, das im Hinblick auf den Heimat-Begriff an den jüngeren Regionalismus-Debatten der eigenen Zunft geschult ist. Denn die Kontroversen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben haben, kreisen u. a. um einen Heimatbegriff, der - um es verkürzt zu formulieren - nicht nur mit der Vorstellung vom harmonischen Leben in landschaftlicher Verwurzelung verbunden ist, sondern mit dem in letzter Konsequenz auch das Bewusstsein (z. B. von Heimat) als etwas Räumliches begriffen werden soll (vgl. Hard 1987,132).
Während die wahrnehmungsgeographischen Bemühungen, emotionale Bindungen des Menschen an ihren Lebensraum zu erfassen, zu systematisieren und die damit zusammenhängenden Identifikationen als strukturgebende Indikatoren zum Zwecke der (wissenschaftlichen) Regionalisierung zu begreifen, auf eine solche "projektive Verdinglichung" (ebd.) hinauslaufen, ist Hallenberger von Verstrickungen dieser Art doch weit entfernt. Und das liegt vor allem daran, dass der Autor grundlegend jede auch nur im Ansatz zu vermutende Gleichsetzung von regionaler Herkunft und Literatur vermeidet, um nicht "in den Stallgeruch ideologisch verbrämter literarischer Heimatkunde" (14) zu geraten. Anstelle der Literatur des Ruhrgebiets stellt Hallenberger konsequent die "Literatur über das Ruhrgebiet" (15) in den Vordergrund und isoliert damit das Inhaltliche vom Räumlichen, wenn auch das Regionale als geographisch und historisch bestimmbares Bezugssystem dient. Mit anderen Worten: Ein Schriftsteller, der über das Ruhrgebiet schreibt, muss nicht notwendigerweise dort leben.
"Heimat" bzw. "Heimatliteratur" sind denn auch in der literaturgeschichtlichen Perspektive auf das Ruhrgebiet lediglich Aspekte unter anderen, und zwar spielen diese Kategorien vor allem für die Zeit der Jahrhundertwende eine gewisse Rolle. Sozusagen als Fortsetzung von Reiseberichten, die sich auf die Ruhr als Reiseweg und touristische Attraktion beziehen, entstehen ab Ende des 19. Jahrhunderts Schriften zur lokalen Heimatkunde oder -geschichte, zumeist verfasst von Lehrern oder Redakteuren vor Ort. Diese Werke bleiben aber über den lokalen Rahmen hinaus in der Regel unbekannt. Bezeichnenderweise kann das Ruhrgebiet mit der Heimatkunstbewegung der Jahrhundertwende nicht in Verbindung gebracht werden. Diese Gegenbewegung zum Naturalismus, die sich im Sinne des bürgerlichen Realismus von der schlichten Heimatliteratur mit dem Anspruch, Kunst zu sein, absetzt und das Ziel verfolgt, "deutsche Stämme und Landschaften in die Literatur einzuführen" (34), findet nach Hallenberger kein Interesse am Ruhrgebiet, weil dieses mit den rheinischen und westfälischen Traditionen sowie den Folgen des regen Einwanderungsgeschehens zu heterogen strukturiert ist und sich so einer Typisierung im Sinne der Bewegung entzieht. Letzteres wird sicherlich zutreffen, beim ersten Aspekt verkennt Hallenberger allerdings, dass Autoren wie beispielsweise Heinrich Sohnrey sich durchaus auf den Landschaftsbegriff beziehen und nicht auf politische Ländergrenzen.
Eine zweite Strömung, die Hallenberger zur Heimatliteratur rechnet, befasst sich thematisch mit dem Konflikt, der zwischen Bauerntum und Bergbauindustrie entsteht; hierbei nimmt die Literatur vornehmlich die Perspektive des bedrängten Bauerntums ein.
Einen weiteren Schwerpunkt der Literatur über das Ruhrgebiet setzt Hallenberger erwartungsgemäß im Bereich der Dichtung der Arbeitswelt, und zwar mit drei durchaus verschiedenen Akzenten.
Zunächst zeigt er am Beispiel des Bergarbeiterdichters Heinrich Kämpchen die "authentische" Arbeiterdichtung mit dem Ziel der politischen Aufklärung und kulturellen Identitätsbildung unter Arbeitern: "Träume vom besseren Leben" lautet das Motto des Sozialdemokaten und Gewerkschaftsfunktionärs Kämpchen, der in seiner Lyrik vor allem die Solidarität der Bergleute einfordert. Dabei verwendet er - in Anlehnung an Heine - für Arbeiterdichtung ansonsten untypische Elemente wie Parodie und Polemik. Neben Kämpchen spielen für die Arbeiterdichtung der politisch etwas ‚gemäßigtere' Ludwig Kessing sowie in Bezug auf das Drama der programmatisch stark dem Naturalismus verhaftete Emil Rosenow eine Rolle.
Ein zweiter Akzent wird im Bereich sog. Industriedichtung gesetzt. Hierbei handelt es sich um Literatur, die im Vergleich zum oben genannten Schwerpunkt weniger den Arbeiter bzw. dessen Arbeits- und Lebensbedingungen in den Mittelpunkt rückt, sondern thematisch zunächst vielmehr auf Industrie und Technik in ihrem für die Zukunft des Menschen uneingeschränkt vorteilhaften und bewunderswerten Charakter sowie auf die dadurch hervorgebrachten extremen, aber heilsbringenden Veränderungen setzt. Vertreter dieser Literatur schlossen sich 1912 zum Dichterbündnis Werkleute auf Haus Nyland zusammen. Der absolute Fortschrittsglaube geht den Autoren und ihren Schriften im Laufe der Zeit allerdings verloren; ebenso lässt die Bindung an das Thema "Industrie" nach. Die Programmatik des Dichterbundes - über weite Strecken gewissermaßen die positivistische Variante einer Literatur der Arbeitswelt - wendet sich auch inhaltlich gezielt gegen den Naturalismus mit seinen zeitkritischen Tendenzen.
Aus dem Bund der Werkleute auf Haus Nyland gehen bereits die ersten Vertreter einer bürgerlichen Arbeiterdichtung hervor. Einer von ihnen, Otto Wohlgemuth, gründete 1923 die Gemeinschaft Ruhrland, die ein loser Zusammenschluss von Schriftstellern und bildenden Künsterlern war. Ähnlich wie die Mitglieder der Werkleute gingen die meisten Dichter einem bürgerlichen Beruf nach. Deren Werke entfernten sich jedoch deutlich von der kritiklosen Haltung der Werkleute gegenüber dem Industrialismus, sie wurden ‚sozialer'. Andererseits unterschieden sie sich von der ‚kämpfenden' Arbeiterliteratur durch die fehlenden politisch-appellativen Aspekte.
Neben Reisebeschreibungen, Heimatliteratur und Literatur der Arbeitswelt in ihren verschiedenen Facetten tritt in Hallenbergers "Literaturgeschichte des Ruhrgebiets" die durch Ereignisse der Zeitgeschichte initiierte Dichtung: Ruhrkampf und und vor allem Ruhrbesetzung riefen zahlreiche literarische Reaktionen hervor.
Das historische Ereignis des Ruhrkampfes führte auf der einen Seite zu literarischen Produktionen (vor allem: Romane) mit einer dezidiert klassenkämpferischen Position von Autoren aus dem Umfeld der KPD und des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) und auf der anderen Seite - mit dem Übergang in den Nationalsozialismus - zu völkisch-nationalen Reaktionen. Letztere sind zumeist autobiographisch angelegt und stammen überwiegend von ehemaligen Freikorps-Kämpfern. Von diesen Schriften aus führt ein gerader Weg zum Thema "Ruhrbesetzung", das nun nicht mehr überwiegend durch Romane, wohl aber so gut wie vollständig von der nationalistischen Seite literarisch repräsentiert wird.
Die Textsorte Roman mit ihrer relativen 'Geschlossenheit' hat schließlich eine besondere Bedeutung in der Literaturgeschichte des Ruhrgebiets. Seit dem Ende der 20er Jahre, nachdem sich das Ruhrgebiet als literarisches Thema endgültig konsolidiert hat, beginnt die Stadt Essen einen Literaturpreis auszuschreiben und sorgt so sowohl für eine lebhafte Diskussion um den Ruhrgebietsroman als auch für dessen verstärktes Entstehen. Ähnlich wie bei der Literatur zum Ruhrkampf erscheinen in der Folgezeit Romane der verschiedensten inhaltlichen und politischen Ausrichtungen, wobei auch der Heimatroman bzw. das Thema "Heimat" vorübergehend wieder an Bedeutung gewinnen.
Hallenbergers Systematik, die primär vom Ruhrgebiet als industriell geprägten Raum ausgeht, betont konsequent den Beginn des Strukturwandels als wesentlichen Einschnitt in die Entwicklung (wichtiger z. B. als das Kriegsende) und führt den Leser mit dem Ausblick auf einen Neuanfang zu Beginn der 60er Jahre zum (vorläufigen) Schluss.
Abgesehen von den eingangs angesprochenen Unstimmigkeiten im Hinblick auf den Titel (Verkaufsstrategie!?) bietet die vorliegende Arbeit mit ihren facettenreichen Darstellungen eine hervorragende Orientierung zur Literatur des Ruhrgebiets und aufgrund der sorgfältig recherchierten Textzusammenhänge beschert sie ein kurzweiliges Leseerlebnis. Ein Nachteil (auch und gerade im Hinblick auf das stärker überblicksbezogene Lesen) besteht freilich darin, dass es nur wenige Versuche des Autors gibt, seine Leser mit Zusammenfasssungen über die etwas abstrakter verlaufenden Entwicklungsprozesse der Literaturgeschichte des Ruhrgebiets zu versorgen.
Literatur
Hard, Gerhard 1987: "Bewußtseinsräume". Interpretationen zu geographischen Versuchen, regionales Bewußtsein zu erforschen. In: Geographische Zeitschrift 75. S. 127-148.
Autor: Hans-Jürgen Hofmann

Quelle: geographische revue, 3. Jahrgang, 2001, Heft 1, S. 66-69