Bernd Belina: Kriminelle Räume. Funktion und ideologische Legitimierung von Betretungsverboten. Kassel 2000 (Urbs et Regio, Band 71) 164 S.

Als mich vor vier Jahren eine engagierte Göttinger Studentengruppe doch davon überzeugen konnte, dass grosse Exkursionen einen Sinn machen können, so lag das auch an der Zentrierung auf das Thema "Öffentlicher Raum in der Innenstadt". Der wirtschaftliche, planerische und polizeiliche Umgang mit dem öffentlichen Raum in den Stadtzentren zeigte bei aller Verschiedenheit der Formen und Mittel - Räumung des Lettenareals in Zürich 1995, die Ausweisung von sog. "Gefährlichen Orten" in Berlin, Videoüberwachung der Innenstadt von Glasgow seit Ende 1994 - doch Gemeinsamkeiten in der ästhetisierten Kommerzialisierung und der zunehmenden staatlichen Kontrolle. Diese Entwicklungen hatte zu jener Zeit bei Stadtplanern und -soziologen wie auch bei angloamerikanischen Geographen eine warnende Debatte über die Gefahren des Verlustes von öffentlichem Raum ausgelöst. Die perfektionierten staatlichen "eyes upon the street" wie die soziale Ausgrenzung durch "disneyfication of public space" würden nicht nur integratives Gemeinschaftsleben gefährden, sondern auch das demokratische System. Denn der "Verlust" des öffentlichen Raumes sei zugleich auch ein Verlust der Öffentlichkeit. Es war eine konstruktivkritische Debatte über den angemessenen Zugang und Gebrauch des öffentlichen Raumes, überwiegend getragen von der Sorge, der Staat setze sein von ihm selbst eingerichtetes Rechtsinstitut aus Naivität oder Parteilichkeit aufs Spiel.
Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Art wissenschaftlichen Argumentierens wie auch zur Erklärung der neuen Formen staatlicher Kontrolle von öffentlichen Räumen wäre es überaus nützlich gewesen, wenn die Arbeit von Bernd Belina über die seit 1992 in Bremer Innenstadtrandgebieten praktizierten Betretungsverbote schon vorgelegen hätte. Denn sie bietet nicht nur eine logisch stringente Analyse des Sachverhaltes. Diese "eigenständige und eigenwillige Darstellung", so die Herausgeber der Reihe ‚Urbs et Regio', fordert auch zur Überprüfung gewohnter Sichtweisen heraus, der Sichtweise auf Wissenschaft allgemein wie der auf geographische Untersuchungen speziell.
In dem ersten Punkt unterscheidet sich der Verf. von den oben erwähnten Studien, weil er sich nicht an einer Diskussion beteiligt, die von der reformerisch-kritischen Sorge um das Funktionieren vorgefundener Gegenstände getragen ist. Seine persönliche Kritik an dieser neuen Form staatlicher Repression ist Ausgangspunkt, aber nicht Maßstab seiner kritischen Analyse. Deren Zweck, so der Verf., sei "vorurteilsfreie" Klärung des Sachverhaltes. "Die Erklärung der Kontrollpolitik ... will einfach nur richtig sein", wie er im Vorwort schreibt. Sein Hinweis, er nutze in der Kritik der herrschenden Verhältnisse das "weitläufige Gebäude des Marxismus", soll eben nicht als bekennender Auftakt zur Parteilichkeit der Analyse verstanden werden. Methodologen des wissenschaftlichen Denkens werden an dieser Stelle, ohne auch nur eine der Erklärungen näher zu prüfen, Naivität ausmachen wollen. Und auf postmoderne Wissenschaft Eingeschworene werden das Interesse an rationaler Erklärung als anmaßende Verblendung und falsche Haltung zum Denken zurückweisen. Diese gewöhnliche, aus dem Zweifel an der Nützlichkeit geborene prinzipielle Skepsis gegenüber (wissenschaftlichen) Urteilen teilt der Verf. nicht: "Wenn Sozialwissenschaft einen anderen Sinn haben soll, als Affirmation bestehender Verhältnisse zu sein, sei ihre Aufgabe Ideologiekritik, d. h. die Aufdeckung von Falschheit und Aufgeladenheit in Wissenschaft und Alltagsbewußtsein".
Diesem Anspruch, sachlich begründete Ideologiekritik zu betreiben, kommt der Verf. konsequent nach. Seine Studie, welche die beiden Fragen nach der politisch ökonomischen Funktion der Betretungsverbote und deren Legitimation mittels der Ideologie vom "kriminellen Raum" beantworten will, gliedert sich in vier Kapitel. Zunächst legt er in Auseinandersetzung mit Kant, Bacon, Bachelard, Marx, Althusser, Foucault und Gramsci dar, was er unter Ideologie versteht. Im zweiten Abschnitt diskutiert er den Raumbegriff. Nach diesen allgemeinen Darlegungen folgt dann in den Kapiteln Globalisierung und Kriminalität die Beantwortung der zwei Untersuchungsfragen. Auch hier werden grundlegende theoretische Positionen aufgegriffen und kritisiert wie z.B. Regulationstheorie, die Rolle des Nationalstaates in der Globalisierung, Kriminalität als Konstrukt, fordistischer Sicherheitsstaat oder die Konzepte von ‚defensible space' und ‚broken windows'. Das thematisch breite Spektrum führt zwangsläufig dazu, dass manche Punkte sehr knapp diskutiert werden. So wird beispielsweise die anderenorts Folianten füllende Debatte ‚Was ist der Raum' (vulgärmaterialistisch, idealistisch und historisch materialistisch) auf gut zwanzig Seiten abgehandelt. Diese Verfahrensweise hat ihm wohl die Kritik der Herausgeber eingetragen, die Arbeit enthalte "manche Unbekümmertheiten theoretischer Herleitung und Ausführung". Welcher Fehler (oder welche Haltung) damit auch immer gemeint sein mag - eines kann man positiv festhalten: Der Verf. konzentriert die Diskussion auf die für seine Fragestellung zentralen Argumente, entwickelt seine Kritik sachlich und pointiert, den Leser zur Stellungnahme und Auseinandersetzung herausfordernd, schreibt klar, deutlich (und manchmal auch sehr deutlich) und nicht ohne Witz, wenn er seine Ausführungen mit Textpassagen aus der Rockmusik würzt.
Anregend und ungewöhnlich ist die Arbeit auch als geographische Analyse. In Anlehnung an Lefèbvre, Smith und Harvey versteht der Verf. Raum nicht als Abstraktum, sondern als "konkrete räumliche Praxis im Rahmen der konkret vorliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse". Mit dieser historisch-materialistischen Konzeptualisierung von Raum nimmt er die schon vielfach (von Hard, Bahrenberg, u. a.) und zu recht geführte Kritik am Containerraum auf und kann die von Werlen geforderte Betrachtung von Raum als erfahrungsabhängige Bedeutung einbeziehen, ohne wie dieser in einer idealistischen Sackgasse zu landen. Betretungsverbote sind demnach eine räumliche Praxis, deren differenzierte Erklärung über verschiedene Dimensionen und Aspekte erfolgt. In diesem Fall gehe es entscheidend um die Aspekte der ‚Produktion des Raumes' und dessen ‚Dominierung und Kontrolle', und zwar sowohl hinsichtlich der materiellen räumlichen Praxis (Form der Materialität und Form der repressiven Kontrolle) wie deren Wahrnehmung (Produktion von räumlichen Ideologien und Form der ideologischen Kontrolle). Aufgabe und Thema geographischer Analyse bestehen demnach in der Erklärung, für welche Zwecke die materiellen räumlichen Praxen wie deren (ideologische) Repräsentationen von Raum ein Mittel darstellen, welchen ökonomischen und politischen Interessen die räumlichen Praxen dienen. Damit verfällt die Erklärung nicht einem (in der Geographie zu gern praktizierten) Raumfetischismus. Denn nicht das Räumliche ist Gegenstand oder gar erklärender Faktor, sondern es geht um die Erklärung der räumlichen Praxis (hier der Betretungsverbote) als eines gesellschaftlichen Phänomens.
Zu welch aufschlußreichen Ergebnissen das führen kann, demonstriert der Verf. in den Kapiteln ‚Globalisierung' und ‚Kriminalität'. Dass die neue räumliche Politik der Betretungsverbote und anderer repressiver Maßnahmen im öffentlichen Raum großstädtischer Zentren mit der interurbanen Standortkonkurrenz im globalen Wettbewerb begründet wird, ist nicht neu (aber deshalb auch nicht falsch). Der Verf. bezieht sich aber nicht auf die veränderte Konkurrenz und Standortproduktion als Lage. Er erläutert in Anlehnung an Harveys Konzept des ‚spatial fix' diese Form der Umstruktierung von Räumen als ein Mittel, Krisen im Akkumulationsprozeß des Kapitals zumindest vorübergehend zu überwinden. Im hergestellten ‚globalisierten' Weltmarkt benutzen Städte das Erscheinungsbild ihrer Innenstädte, um mittels dieses ‚symbolischen Kapitals' Unternehmen zu attrahieren. Teil dieser Raumproduktion sei es, diesen Zweck störende Erscheinungsformen zu bekämpfen. Im Unterschied zur fordistischen Ära erfolge die Kontrolle von Raumausschnitten durch den ganz und gar nicht ohnmächtigen nationalen ‚Wettbewerbsstaat' und seine lokalen Apparate nicht mehr über eine ‚integrierenden Einflussnahme auf den ganzen Menschen', sondern nur noch als Bekämpfung von störenden Erscheinungsformen mangelnder Integration.
Insofern gehe es bei den Betretungsverboten auch gar nicht um die Beseitigung von Drogenelend und Gewalt, sondern um das Freihalten von Raumausschnitten von unerwünschten Menschen. Zur ideologischen Legitimierung dieses Interesses werde der konkrete Ort auf einen abstrakten Raumausschnitt reduziert, der dann mit der Bedeutung ‚Gefährlichkeit' bzw. ‚Kriminalität' aufgeladen werden könne. Welche Zwecke Kriminalpolitik am "Standort Deutschland" verfolgt, wie ‚Kriminalität' konstruiert wird, wie von der konkreten Tat abstrahiert wird auf das Individuum, die Gruppe oder hier den Raumausschnitt ‚gefährlicher Ort', worin also das Ideologische des ‚kriminellen Raumes' besteht und welche Rolle die Wissenschaft, besonders die Kriminalgeographie und -ökologie, als Lieferant räumlicher Ideologien spielt, legt der Verf. in seinem vierten, höchst interessanten Kapitel dar.
Insgesamt handelt es sich um eine gut durchdachte, sachlich und auf hohem theoretischen Niveau argumentierende, konsequent ideologiekritische Arbeit. Diese im ursprünglichen Wortsinn radikale Kritik, die in der deutschen Geographie sehr selten zu vernehmen ist, will und sollte eine streitbare Auseinandersetzung hervorrufen, nicht nur in der politischen Geographie und in der Sozialgeographie. Sie ist auch allgemein ein anregendes Beispiel dafür, wie man sozialwissenschaftliche Analysen in der Geographie konzipieren und dabei die Fallstricke des räumlichen Denkens vermeiden (und kritisieren) kann. Aufgrund der politischen Aktualität des Themas  (Kriminalisierung, Globalisierung, Standortpolitik) wie der kritischen Auseinandersetzung mit grundlegenden Sachverhalten und Ideologien verdient die Studie es aber auch, außerhalb der Fachwissenschaft wahrgenommen und diskutiert zu werden. Bedauerlich ist es, dass manche Argumentationen und Themen nur sehr kurz gestreift werden, was angesichts der ungewöhnlichen Kritik die Auseinandersetzung erschweren mag. Hier muss man sich allerdings in Erinnerung rufen, dass es sich um eine Diplomarbeit mit kurzer Bearbeitungszeit handelt. Es ist daher nur zu wünschen, dass der Verf. Interesse und Gelegenheit hat, sie demnächst ausführlicher zu entwickeln und darzulegen.
Autor: H.-D. von Frieling

Quelle: geographische revue, 3. Jahrgang, 2001, Heft 1, S. 72-76