Die Fotografie und ihr Nutzen für die Wissenschaft

Horst Lang: ... als der Pott noch kochte. Photographien aus dem Ruhrgebiet. Mit einem Text von Andreas Rossmann. München 2000. 96 großformatige Abbildungen, S/W.
Sigrid Schneider (Hg.): Schwarzweiss und Farbe. Das Ruhrgebiet in der Fotografie. Ruhrlandmuseum Essen. Eine Ausstellung des Ruhrlandmuseums auf der Zeche Zollverein Juni/Oktober 2000 im Rahmen von Historama 2000. Bottrop/Essen 2000. 560 S.
Landschaftsverband Rheinland/Rheinisches Industriemuseum (Hg.): War die Zukunft früher besser? Visionen für das Ruhrgebiet. Katalog. Bottrop/Essen 2000. 351 S.
Wissenschaft ist nicht die einzige Umgangs-Form mit der Fotografie - eher eine seltene, fast ein Nebenprodukt. Meist dienen Fotos ganz anderen Interessen. Aber die Wissenschaft kann fotografische Schätze für sich abfischen. Das hat sie selten getan. Auch wenn es eine Fülle bebilderter Publikationen gibt: Bilder waren und sind für sie auch heute noch eine nebensächliche Dimension. Schade - es entgeht den Wissenschaften ein Kosmos.
In den 1980er Jahren entfachte die amerikanische Kunsthistorikerin Svetlana Alpers unter denen, die sich mit der Bilder-Welt der Niederlande beschäftigen, einen heftigen Streit - mit der Aufforderung: Die Bilder ernst nehmen. Dieser Streit wandte sich an Kunsthistoriker. Die Aufforderung läßt sich erweitern - hin zu jedwedem Wissenschafts-Zweig, in dem Bilder eine Rolle spielen müßten, aber nicht spielen. Weithin werden sie nicht ernst genommen.
Wer sich mit dem Lauf der Dinge nicht zufrieden gibt, sondern daran Kritik übt und Vorschläge macht, muß den Sachverhalt untersuchen. Dazu geben drei Publikationen über das Ruhrgebiet Anlaß. Sie entstanden in indirektem Zusammenhang mit der IBA Emscher Park, dem weltweit einzigartigen Strukturentwicklungs-Projekt der 1990er Jahre, dirigiert vom querdenkenden Karl Ganser. In ihrem Zusammenhang erhielt auch die begleitende Reflexion der Region Auftrieb. Es könnten hier viele weitere Publikationen genannt werden, die ebenfalls aus diesem Impuls entstanden.
An dieser Stelle geht es nicht darum, die komplexen Inhalte der drei Bücher zu besprechen, sondern einen einzigen Aspekt: wie sie mit der Welt der Bilder umgehen. Was können sie für die Wissenschaft leisten?
Der Rezensent ist sich darüber im Klaren, daß er den Publikationen nicht vorwerfen kann, was noch wenig als allgemeines Bewußtsein entwickelt ist. In ihrer Art leisten alle drei Bücher Hervorragendes. Aber eine Rezension kann darauf hinweisen, welche Potentiale weiterentwickelt werden können.
Alle drei umfangreichen Publikationen handeln vom Ruhrgebiet. Ein ausgezeichneter Einstieg ist das Buch des Fotografen Horst Lang (1931-2001): Der fotografische Blick geht in viele Szenen: in Duisburg, Oberhausen, Gelsenkirchen und Wattenscheid, Bottrop-Welheim, Essen, in die Landschaft zwischen Ruhr und Emscher. In einer Epoche, "als der Pott noch kochte." In diese Welt führt ein kenntnisreicher und anregender Essay von Andreas Rossmann, der sich - im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen - seit langer Zeit als FAZ-Korrespondent in NRW um das Ruhrgebiet gut kümmert.
Horst Lang verdiente sein Brot als Gerichts-Photograph. Seine Ruhrgebiets-Bilder spiegeln keinerlei massenmediale Abhängigkeiten. Sie wurden erst ein Jahr vor seinem Tod publiziert - in seinem einzigen Buch.
Eine völlig andere Darstellung liefert das Ruhrlandmuseum (Schneider 2000) als Katalog-Buch zu einer großen Ausstellung im Rahmen von Historama 2000: Auf 560 Seiten versucht es mit 400 Abbildungen darzustellen, wie sich die Region als Welt der fotografischen Bilder zeigt. Es ist der bislang umfangreichste Versuch einer komplexen Darstellung. Ein drittes Buch, herausgegeben vom Rheinischen Industriemuseum, widmet sich dem Thema "Visionen für das Ruhrgebiet". Es ist ein Sammelband mit Texten von 27 Autoren. Er spiegelt den üblichen Gebrauch von Bildern in der Wissenschaft - als Illustration.
Das Buch von Horst Lang ist die klassische Form der Publikation, die von Fotografen seit den 1920er Jahren entwickelt wurde. Häufig hat sie ein Thema - durchgespielt von einem einzigen Autor. Daß sich daraus auch wissenschaftlich viel Nutzen ziehen läßt, deutet der begleitende Essay von Andreas Roßmann an. Allerdings ziehen die Wissenschaften aus solchen Veröffentlichungen bislang noch wenig Gewinn.
Das Buch des Ruhrlandmuseums widmet sich u. a. einem Teil des Kontextes, der "Gebrauchsgeschichte" genannt wird. Dies erweitert sich zu einer Art "Überlieferungsgeschichte". Darin steckt ein archivarisches Interesse und eine Neugier: Wie bestimmen Aufträge, vor allem von Massen-Medien, Agenturen und öffentlichen Einrichtungen, die Weise des Fotografierens?
Im Buch über die Visionen im Ruhrgebiet ist das selbstgesetzte Thema wenig stringent durchgespielt. Schließlich ist jeder menschliche Entwurf in einem so allgemeinen Verständnis zunächst eine Vision.
Hinzu kommt, daß das schwierige Thema bei vielen Autoren an einem schwerwiegenden Mangel leidet: Dem Gegenstand völlig unangemessen ist die Dürftigkeit an Hinweisen auf Quellen und genau verarbeiteter Literatur. Eine Orthodoxie von graphischer Gestaltung (oder was die Herausgeber davon halten) hat die Fußnote verbannt - mit Folgen. Dazu gehört, daß viele einzelne Autoren monoman jeder für sich mehr Urteile aus dem Bauch produzieren als sorgfältige Analyse und Fragen, geschweige denn Diskurs zu liefern. Aber dies eingehend zu rezensieren, ist hier nicht die Aufgabe.
Die Publikation stellt dem Leser eine Menge Bilder zur Verfügung - aber nebenbei. Es ist die am meisten verbreitete Methode: die Illustration. Ihre Begründung ist meist vordergründig: Bilder sollen ein Buch gefällig machen. Man findet ein breites Spektrum von Bild-Gebrauch: von gezielt (Thomas Parent) bis willkürlich (Bernhard Weber-Brosamer, der auch glaubt, ohne Anmerkungen arbeiten zu können). Viele Wünsche, die aus der Sache hervorgehen müßten, bleiben unerfüllt. Beim Stichwort William Thomas Mulvany konnte man erwarten, einiges von seinen Stätten anschaulich zu sehen - Abgerissenes und erhalten gebliebene Spuren. Mager mit Bildern versehen, allerdings mit hochkarätigen, bleibt der Aufsatz über die Margarethenhöhe (Rainer Metzendorf, Achim Mikuscheit).
Wissenschaftlern steckt die Tradition in den Köpfen: das Wort. Dies war in Zeiten verständlich, als Bilder drucktechnisch schwierig kommunizierbar waren - aber der Druck von vielen Bildern ist seit zehn Jahren kein Problem mehr.
Eine Ahnung von einer möglichen entwickelten Rolle der Bilder kann der Leser im Aufsatz über das "Lastrohrfloß" (Eckhard Schinkel) bekommen. Überhaupt nimmt die Zahl der Bilder sofort zu, wenn es sich um anscheinend weniger bekannte Sachverhalte handelt, zum Beispiel im Aufsatz über die Auto-Utopie (Hans H. Hanke) oder beim Traum vom blauen Himmel über der Ruhr (Reiner Weichelt).
Wenn man einen Schritt weitergeht, dürfte erkennbar werden: Auch die scheinbar bekannten Sachverhalte lassen sich durch verbesserte Nutzung von Bildern erheblich vertiefen.
Das Ausstellungswesen mag im Umgang mit Bildern eine sparsame symbolische Auswahl vorgeben. Aber das Medium Buch eröffnet ungleich mehr Möglichkeiten. Der Ausstellungs-Katalog nennt sich Begleitbuch, d. h. die Autoren schrieben, bevor sie die Ausstellung sehen konnten. Tiefergreifend hat die Enthaltsamkeit an Bildern aber eine fundamentale Ursache: die Bilder-Welt wird unterbewertet. Dies geschieht in vielen Wissenschaften (das Rheinische Industriemuseum ist verhältnismäßig interdisziplinär besetzt) und in ihren Anwendungs-Bereichen, selbst im interessanten Typ dieses Museums.
Im vorliegenden Buch hat das Industriemuseum die Aufsätze so gut es möglich war mit begleitendem Bild-Material versehen. Es ist hervorragend ausgesucht, zeigt aber keineswegs einen Hunger nach Anschaulichkeit. Und fast nirgendwo findet eine Diskussion mit den Bildern auch nur ansatzweise statt. Bei diesem Bild-Gebrauch darf man allgemein fragen, ob Fotos nur dazu dienen, Publikationen, die sonst im Zirkel bleiben, ein bißchen unter ein Volk zu bringen, dem man kaum mehr zutraut, daß es Texte liest.
Es bleibt eine Zukunfts-Aufgabe, die Bilder ernst zu nehmen - in mehreren Dimensionen. Dies ist mitnichten ein Plädoyer für einen Bild-Gebrauch, wie er uns täglich in vielen Medien, vor allem im Internet, entgegenkommt. Auch dort werden Bilder nicht ernst genommen, am wenigsten in einer Tages-Zeitung, die sich sogar "Bild" nennt, weil der Umgang mit ihnen semantisch korrupt ist.
Inzwischen darf man als bekannt voraussetzen, was sich an Foto-Theorie durch eine Fülle von Publikationen hindurchzieht: Daß jedes Bild Wirklichkeit selektiert. Daß es durch das Nadelöhr des subjektiven Bewußtseins hindurchgeht. Daß es von Kontexten abhängt. Daß diese unbewusst und teilweise bewußt im Gehirn gespeichert werden. Daß darin auch die Gebrauchsweisen des Bildes wie Aufgaben eingehen - unbewußt oder gezielt gestellt.
Diese erkenntnistheoretischen Funde sind zwar sehr wichtig, aber sie durchziehen inzwischen Foto-Bücher in einem überflüssigen Ausmaß an Wiederholung - so auch im Ruhrland-Buch. Dies ist keineswegs mehr notwendig als Ausweis der Theorie-Fähigkeit - und erscheint eher als Status-Symbol, vor allem wenn es in einer Sprache daherkommt, die nahezu auf Kommunikation verzichtet.
Man kann auch darüber diskutieren, ob diese relativierenden Erkenntnisse eher dazu dienen, die Bilder ein weiteres Mal abzuweisen, statt sie produktiv als Quelle zu entdecken. Denn alle Relativierungen können nicht darüber hinweglenken, daß Bilder stets für die Wissenschaften gebrauchsfähig sind. Und so lassen sich die drei vorliegenden Bücher ausgezeichnet nutzen: als Speicher des kollektiven und individuellen Gedächtnisses. Es sind die Beobachtungen vieler Menschen - mit unterschiedlichen Interessen, Seh- und Verarbeitungs-Weisen.
Wenn man Quellen benutzt, muß man natürlich wissen, wie sie mit der Wirklichkeit arbeiten - auf welchem Weg (Methode) ein Bild die Wirklichkeit ergreift. Jedwede Fotografie ist ein Dokument - ebenso wie jede andere Quelle. Im wissenschaftlichen Umgang mit allen Quellen tauchen immerzu ähnliche Fragen auf. Wenn man das Leistungs-Vermögen der einzelnen Quelle erkennen will, muß man sie auch in ihrer spezifischen medialen Fähigkeit erkennen. In diesem Bereich gibt es erhebliche Defizite an Diskussion. Das gilt ähnlich für die schriftlichen und für die mündlichen Quellen. Die Bild-Quellen sind übrigens sehr unterschiedlich.
Bilder drücken mit ihren Möglichkeiten einen Bereich aus, der ebenso zur Welt gehört wie die Worte. Übrigens entstehen in den Worten ebenfalls Bilder: Sprach-Bilder. Einer der frühesten Impulse in der Geschichte der Fotografie war die Erweiterung der Wahrnehmung.
Daß Wissenschaften sich, abgesehen vom immer noch schwierigen Sonderfall Kunstgeschichte, bislang kaum auf Bilder einließen, ist das Problem ihrer historischen Herkunft. Meist verdrängten sie sinnliche Erfahrungs-Kanäle. Hinzu kam Bequemlichkeit: Auch Wissenschaftler neigen dazu, das Einfache dem Komplexen vorzuziehen - eine Falle mit Folgen. Und schließlich behauptete im 20. Jahrhundert eine stark verbreitete Kunst-Ideologie kulturpolitisch fast totalitär die Subjektivität von Bildern - und suggerierte damit eine weithin abstrakte Eigenwelt.
Als Antwort auf die komplexen Probleme im Umgang mit Bildern hat sich Wissenschaft weithin auf Worte reduziert, die sie für trennscharfe Begriffe hält. Das ist durchaus fruchtbar - aber nur als Tendenz.
Die moderne Wissenschaft begann in der mittelitalienischen Renaissance des 15. Jahrhunderts: mit einer Sprach-Kritik, die sich Philologie nennt. Aber die genaue Abgrenzung, die sie als Definition bezeichnet, läßt sich in vielen Wissenschaften nicht durchhalten. Es gehört zwar zur Wissenschaft, so weit wie irgend möglich genau zu sein, aber dies ist immer nur in Annäherungen möglich.
Das Problem der Genauigkeit haben Wissenschafts-Orthodoxien, die sich nicht oder kaum selbst befragen, immer schon naiv beantwortet: mit Ausgrenzen und Ignorieren. Nichts rechtfertigt jedoch das Verstellen von weiten Bereichen der Wirklichkeit. Ein ähnliches Problem wie bei den Bildern stellt sich für die Quellen, die wir als literarische Verarbeitung der Wirklichkeit schätzen können. Auch sie werden von den Wissenschaften noch kaum als Quellen genutzt.
Es ist nun an der Zeit, seiner eigenen Herkunft kritisch gegenüber zu treten. Das bedeutet, eine Quellen-Kritik zu entwickeln, die die Welt der Bilder für die Wissenschaften produktiv nutzbar macht. Fotografie ist ein ausgreifendes Instrument unserer Wahrnehmungs-Möglichkeiten. Dies gilt jedoch nicht für alle Bilder gleichermaßen. In welcher Weise Wahrnehmung für Wissenschaften nutzbar ist, darüber entscheidet der Prozeß der Quellen-Kritik.
In jedem Bild stecken mehrere Bereiche: Für die Wissenschaften am wichtigsten ist die Information, die aus dem abgebildeten Gegenstand selbst stammt. Die zweite Ebene: die Weise, wie der Bild-Produzent wahrnahm und verarbeitete. Die dritte Ebene: Kontexte. Die vierte Ebene: Gebrauchs-Weisen. Die fünfte Ebene: Rezeptions-Geschichte. Dies klingt sehr komplex - und ist es auch. Aber man kann durchaus damit umgehen.
Genauso wie bei Worten und Sätzen muß man bei Bildern fragen, welchen Bezug Zeichen und Wirklichkeit zueinander haben. Ein Foto ist keine autonome Welt, sondern es steht für einen Zusammenhang. Quellen-Kritik ist die Mühe, dies zu erfassen.
Nicht nur die objektiven Mitteilungen des Gegenstandes lassen sich nutzen, sondern auch die subjektiven. Sie zeigen Einstellungen, Verarbeitungsweisen und Anforderungen von Auftraggebern - kurz: von Menschen zum Gegenstand. Auch die Weisen ästhetischer Verarbeitung in Bildern lassen sich sozialwissenschaftlich lesen - und können dadurch mehr oder weniger aufschlußreiche Quellen sein. Wenn Wissenschaften die Bilder als Quellen entdecken und eine produktive Quellen-Kritik entwickeln, werden sie ihre Inhalte bereichern.
Die Geo-Wissenschaften haben mit der Kunstgeschichte gemeinsam, daß beide ein Faible für Anschaulichkeit besitzen. In den Geschichts- und Sozialwisssenschaften ist dies leider sehr wenig entwickelt. Hinzu kommt, daß viele Wissenschafts-Zweige seit langer Zeit die Tendenz haben, die Realität auf einem hohen Abstraktions-Grad zu erfassen. Unter diesem Blick reduzieren sie Konkretes gern zur Bagatelle. Dann werden Einzelphänomene in ihrem heuristischen Wert nicht genutzt. Und dies führt dazu, daß nicht genau hingeschaut wird. Nichts rechtfertigt, daß sie außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses bleiben.
Die Berufs-Gruppe der Fotografen nimmt sich selbst bis heute fast nirgendwo wirklich ernst. Insgesamt hat sie zwar mehr fundierte wissenschaftliche Arbeit aufzuweisen als andere angewandte Künste wie z. B. Grafik, Typografie, Mode, aber keine wissenschaftliche Begleitung, wie Schrift-Zeugnisse sie haben - obwohl das Bild-Medium seit 150 Jahren weithin verbreitet ist.
Die klassische Wissenschaft der Bild-Medien, die Kunstgeschichte, hat sich auf die gemalten Bilder beschränkt. Wenn Geografen, Historiker, Sozialwissenschaftler u. a. sich auf die Quelle Fotografie einlassen, kann dies nicht nur sie selbst weiterbringen, sondern auch die Fotografen.
Meist werden Fotografien mit der Frage nach dem Was untersucht. Zum Was gehört der gesamte Bereich dessen, was inhaltlich leicht benennbar ist - bis hin zu Symbolen. Aber: Nur selten kommt das Wie in den Blick. Hier beginnen erhebliche Schwierigkeiten: Das Material ist nicht einfach lesbar und nur mühsam mit Worten zu begreifen.
Von diesem Wie könnten viele Wissenschaften umfangreich profitieren. Denn die Kamera ist in der Lage, Verfeinerungen darzustellen: eine Fülle von materiellen Details. Vor allem subtile Verhaltens-Weisen wie Ausdruck, Zuwendung und Abwendung, Beziehungen unterschiedlicher Art und Prozessuales.
Das Buch des Ruhrlandmuseum macht einige ernsthafte Schritte in diese Richtung, bricht dann aber ab. Man kann fragen: Warum diese Kürze? Warum nicht mehr Diskurs?
Der Begriff Ästhetik wird meist nicht in seiner ursprünglichen und wichtigsten Bedeutung genommen - nämlich phänomenologisch: als Erscheinungs-Weise. Meist wird er sofort mit dem Begriff Schönheit besetzt - und gerät damit in einen Kanal, mit dem Wissenschaft zu Recht nicht viel oder nur Spezielles anfangen kann.
Goethe hatte vor dem Straßburger Münster, das damals als häßliches Stachel-Monstrum galt, die blitzhafte Einsicht: "Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist." Mit einer ähnlichen Vorstellung sagte der legendäre Reporter-Fotograf Hilmar Pabel von sich, er sei gar kein Fotograf - er schreibe das Leben: mit der Kamera. Kern von Pabels Konzept: Leben am Punkt seiner intensivsten Lebendigkeit erfassen - eine Ästhetik, wie sie auch das Theater benutzt.
Dies ist - bewußt oder unbewußt - ein Auswahl-Kriterium des Buches, das Sigrid Schneider zusammenstellte. Es gilt auch für Horst Langs eindrucksvolle Fotos. Ihr Schwarz/Weiß macht die Sujets weit besser erkennbar als später die Farbe, die meist ablenkt, weil sie viel Eigengewicht hat.
Die Inszenierung des Ruhrland-Buches ging in die Falle einer seit dem späten 19. Jahrhundert verbreiteten Bild-Ideologie, die besonders die Fotografie ergriff: Sie gebärdete sich antirational und damit antiwissenschaftlich. Sie setzte im Bildermachen auf Spontanität, und ebenso in der Bild-Wahrnehmung. Dies führte im Ruhrland-Buch zur stummen Präsentation der Bilder. Der Widerspruch: an anderer Stelle sind pingelige archivarische Daten angefügt.
Etwas ganz anderes ist das Schweigen in den Bildern selbst - besonders deutlich im Buch von Horst Lang. Die Stille wird ähnlich einer Theater-Praxis genutzt: Sie konzentriert den Betrachter, öffnet ihn für das Gegenüber, für das "Anderssein des anderen", schafft Zeit zum Nachdenken. Sie begreift das Sujet als einen Prozeß und entdeckt in ihm eine Geschichte, die eine Spannung besitzt: ein Vorher und ein Nachher. Der Fotograf drückt Stille oft durch ein breites Schwarz aus.
Die Diskussion über die Bilder wurde seit 150 Jahren stark von Kunst-Fragen beeinflußt und geriet durch deren sehr unscharfe und behauptende Thesen in ein arg reduziertes Fahrwasser. Diese Thesen zielten vor allem auf ein stark ideologisches Konzept der Subjektivität. Es ist hier nicht Anlaß und Raum, die ausdrücklichen künstlerischen Konzepte zu besprechen. Keines der drei vorliegenden Bücher behauptet, künstlerische Konzeptionen für das Ruhrgebiet darzustellen, aber im Hintergrund steht natürlich einiges aus diesem Bereich.
Ein weiteres Problem: Aus dem Gebrauch in den Massen-Medien stammt die Neigung vieler Fotografen und auch des Ruhrland-Buches, die Such-Raster stark zum Ereignishaften zu orientieren. Und innerhalb dessen zum Exotischen - und damit zur Unterhaltung. Das Titel-Bild des Ruhrland-Buches mag zwar als Ausrufe-Zeichen wirksam sein, aber es ist absurd als Symbol-Bild für einen Band über das Ruhrgebiet: ein Vulkan aus dem "Bermuda Dreieck, Warner Bros. Movie World" in Bottrop-Kirchhellen. Auch der Kontrast mit dem Schornstein-Bild auf der Rückseite kann Auswahl und Positionierung nicht rechtfertigen.
Dies alles hat natürlich einen Stellenwert. Aber die häufig alles andere wegbeißenden Behauptungen aus dem Kunst-Bereich wirkten sich zum Schaden von Fotografie und Wissenschaften aus, vor allem der dokumentarischen Fotografie.
Die Frage liegt nah: Was kommt zu kurz? Das Greifen des ganz Normalen. Dies war seit Beginn der Fotografie ihre besondere Fähigkeit. Darauf wiesen bereits Diskussionen in den 1970er Jahren hin. Die Folkwang-Ausstellung 1981 nahm die Kritik auf - weithin blieb es jedoch bei dieser einmaligen und einzigartigen Ausstellung.
Aus der Zunft der Fotografen selbst kam die Gegenkritik - sie behauptete: Das Normale ist langweilig. In vielen Fällen stimmt das. Daneben gibt es den banalen Blick, den der Betrachter zu verantworten hat. Aber man kann mit Hilmar Pabels oben beschriebener Konzeption antworten: Wer in der Lage ist, das Leben in seiner Lebendigkeit zu begreifen, dem ist nichts langweilig - alles wird spannend. Ein ausgebreiteter Blick in die Geschichte der Bilder zeigt, daß zum Beispiel die Bild-Tradition der Niederlande aus der vertieften Sicht und der ausgezeichneten Darstellung des Normalen lebt - von den gemalten Bildern bis zur Fotografie und zum Film (Johan van der Keuken). Tonino Guerra nannte es "das Drama der Fliege." Dazu mag man auch die zwei Seiten von Robert Musil über den Tod einer Fliege lesen, um sich zu überzeugen, daß es auf die Kraft des Begreifens und Darstellens ankommt.
Ausstellungsplaner brauchen sinnliche Objekte. Dazu zählen Fotos. Aber die Macher lösen selten das Problem, daß sie diese sinnlichen Objekte wirklich ernst nehmen. Meist bleibt es beim guten Willen - und endet wiederum in der Illustration. An den Katalogen kann man ablesen, wie wenig ernst es ihnen mit den Bildern ist. Ein Beispiel dafür ist die Publikation des Rheinischen Industriemuseums. Zur Verteidigung wird eine von Fotografen erfundene Bild-Ideologie ins Feld geführt: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Oder bescheidener: Das Bild spricht für sich selbst. Das ist ja zum Teil wahr - aber nur halb. In dieser Halbwahrheit, die gern eine Diskussion ausschließt, steckt das unaufgearbeitete Problem. Auch mit der Sprache der Bilder muß man verbal umzugehen lernen, zumindest mit klugen Hinweisen.
Das Ruhrland-Buch schwankt zwischen einer essayistischen Schau und Wissenschaft. Dies läßt sich im Prinzip miteinander vereinbaren - man kann die Absicht schätzen, bietet sie doch mehrere Zugangs-Kanäle.
Ausdruck dessen ist zunächst der Versuch, die Vielfalt der Bilder-Welt in dieser Region zu fassen. Der Katalog zeigt ein breites Spektrum von Bild-Quellen.
Ob jedoch die Strukturierung weit führt, mag man als Frage stellen. Was sagen Kapitel-Überschriften wie Wäsche, Klassiker 1, Schauspiele, Archiv 1, Archiv 2, Archiv 3, Heimat 1, Perspektive 1, Heimat 2, Werkskosmos, Perspektive 2, Schnittstellen, Klassiker 2, Metamorphose? Mit Ausnahme des Stichwortes Werkskosmos sind solche Titel nichtssagend - eine Vergeheimnissung, die aus dem Kunst-Betrieb stammt. Aber selbst darin geben die Worte nichts her.
Die Rechtfertigung der Autorin kann in ihrer viel zu knappen sprachlichen Fassung nur geahnt werden. Sie gruppiert nach unterschiedlichen Interessen, die die Produktion der Bilder leiten. Dann wird das Buch jedoch so inszeniert, daß dies kaum merkbar ist.
Als Struktur spricht Sigrid Schneider von "assoziativer Montage ..., die das Zufällige nicht versteckt und sich dem Spiel mit dem Bedeutungsüberschuß fotografischer Bilder nicht versagt." Soviele Andeutungen lassen sich weder im einzelnen verstehen noch als Zusammenhang. Auch hier ist offensichtlich eine unproduktive Praxis des Kunstbetriebes dazwischengerutscht, die allzu häufig solche Wort-Kaleidoskope ohne Rücksicht auf Semantik und Verständlichkeit wirbelt.
Im Kern ist die Darstellung eine Ikonografie von Ruhrgebiets-Klischees und eine Veranschaulichung der Image-Konzepte von Institutionen. Aber dies bleibt in sich in einer groben Klischierung stecken und führt nicht zur Differenzierung.
Weitere vorhandene Versuche, andere Images zu erzeugen, kommen viel zu kurz - zum Beispiel die Bilder-Welt der Bürgerinitiativen (ein Stichwort, das im Buch fehlt). Daran läßt sich die Frage knüpfen, wie Geschichte geschrieben wird - mit der inzwischen ziemlich fatalen Vorliebe für Offizielles und Offiziöses und für berufständisch Legitimiertes, aber kaum mit der Lust, "unten" und in den Ritzen zu sammeln. Da war die Ausstellung des Folkwangmuseums 1981 erheblich weiter.
Daß ausgerechnet die Leute die kreativen und kämpferischen 1970er Jahre verdrängen, denen sie den institutionellen und persönlichen Aufstieg verdanken, darüber kann man sich nur wundern - eine vernünftige Erklärung gibt es nicht. Offensichtlich sind sie in dieselbe Falle getappt, wie damals die Leute, zu denen diese Bewegungen in Opposition standen. Viel zu groß sind die Pulks der Blöcke, am deutlichsten sichtbar im Kapitel Heimat 2. Wie sich dieser Block von Heimat 1 unterscheidet, bleibt unerfindlich.
Dies läßt auch ein weiteres Problem sichtbar werden: Im Bereich der Fotografie scheint es erlaubt, ziemlich diffus zu sein. Auch dies stammt eher aus dem Bereich des Kunst-Gebrauchs als aus der Wissenschaft - und der Fotografie als spezifisches Medium. Nicht zufällig hat ein so scharf analysierender Kopf wie Renger-Patzsch
jeglichen künstlerischen Anspruch brüsk von sich gewiesen. Das bedeutet nicht, daß Fotografie keine künstlerische Dimension hat, aber aus der ungeheuer scharfen Konkurrenz mit der Malerei hat der Umgang mit der Fotografie immer noch zu wenig differenzierte Erkenntnisse gezogen.
Hierhin gehört auch eine Anmerkung zur Auswahlbibliografie des Ruhrland-Buches. Sie scheint stark nach opulenter Ausstattung, teurem Druck und Einband, zu zielen. Wir erfahren fast nichts über die produktiven 1970er Jahre, die dies weder bieten können noch wollen.
Den diffus-nichtssagenden Titel "Schwarzweiß und Farbe" wiederruft Instituts-Direktor Ulrich Borsdorf bereits im Vorwort: "... geht es mehr um Grauwerte ..." In seinem kurzen Text stecken viele kluge Hinweise, denen wenig Taten folgen.
Diese Relativierung der immens umfangreichen Publikation soll nicht verdunkeln, daß sich insgesamt das ausgebreitete Material hervorragend nutzen läßt - in vielerlei Richtungen. Es bietet auch eine Anzahl interessanter Anregungen. Dazu gehört besonders das Kapitel über Heinrich Hauser und seinen Bild-Text-Bezug.
Das Buch des Rheinischen Industriemuseums hat das Verdienst, ein wichtiges Thema aufgegriffen zu haben. Mehr als in anderen Landschaften ist im Ruhrgebiet seit Beginn der Industrie-Epoche der Wandel einprogrammiert - was häufig übersehen bzw. mit ideologischen Stillstands-Vorstellungen überspielt wurde. Mehr als anderswo legte der Wandel Ziel-Vorstellungen utopischer Art nahe.
Aber dies hat ein Teil der Autoren wenig sorgfältig verarbeitet. Der komplexe Sachverhalt ist weitaus schwieriger als er hier ausgebreitet wird. Dies gilt vor allem für die Einschätzungen der IBA Emscher Park, die der Rezensent aufgrund intensiver Erfahrung besonders gut auf ihre Wirklichkeit hin überprüfen kann. Ein Essay zu Karl Ganser mag als süffiger, rhetorisch perlender Beitrag gelesen werden, der sich von vornherein selbst eher als Unterhaltung denn als Realitäts-Analyse darstellt. Problematischer wird es, wenn ein weiterer Beitrag Wissenschaft behauptet, aber in lange Sätze jeweils ein Knäuel von Andeutungen einfüllt und sich daher nicht mehr durchschaubar und kontrollfähig macht. Überdies wechselt er, ebenso wie einige weitere Autoren, ständig die Maßstäbe aus. Und: eine Behauptung ist noch keine Begründung.
In einigen Artikeln wird sichtbar, daß der Unterschied zwischen der markig schillernden blasigen Ankündigungs-Politik von Politikern der Region und besserwissenden pauschal behauptenden Wissenschaftlern verschwindet: beide verzichten auf genaues Hinschauen. Dazu aber könnten die Bilder zumindest auffordern, wenn sie ernst genommen würden.
Die drei insgesamt sehr anregenden Bücher legen nahe, nach Perspektiven für die Region zu fragen. Immense Potentiale sind vorhanden - meist nicht oder wenig bearbeitet. Schätze schlummern, wie die Entdeckung von Horst Lang zeigt. Viele weitere sind zu entdecken, ich nenne stellvertretend Ruth Gläser, Richard Oertel und Rudolf Holtappel in Oberhausen.
Es fehlt die Erschließung. Wir brauchen eine Übersicht über die vielen Lager-Stätten. Und eine Etablierung der Sammlungs-Ebene. Vorreiter sind das Ruhrlandmuseum in Essen (Sigrid Schneider) und das Rheinische Industriemuseum in Oberhausen (Daniel Stemmrich). Die Photographische Sammlung des Folkwang-Museums (Ute Eskildsen) hat sich nach ihrer vorzüglichen Ausstellung 1981 auf eine ältere dualistische Ästhetik-Position zurückgezogen.
Ruhrlandmuseum und Rheinisches Industriemuseum haben große Verdienste in ihrer Ausstellungs-Tätigkeit der Bilder-Welt. Ausstellungen, die bekanntlich sehr teuer sind, sollten endlich die Dimension der Nachhaltigkeit erhalten, d. h. nach Ablauf nicht zerfleddert werden, sondern zumindest als Gerüst auch auf Dauer in einem öffentlichen Gebäude sichtbar bleiben. Die wissenschaftliche Begleitung des Mediums Fotografie ist zu organisieren. Dies kann im Diskurs mit den Wissenschaften geschehen, die an der Fotografie ein tiefgreifendes Interesse entwickeln sollten.
Hier können die Geo-Wissenschaften eine Vorreiter-Rolle spielen, weil sie einen Vorlauf haben: an Zugang, Nutzung und Verarbeitung.
Autor: Roland Günter

Quelle: geographische revue, 3. Jahrgang, 2001, Heft 1, S. 43-52