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Kategorie: Rezensionen

Etienne Francois und Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bände. München 2001. Dritte Auflage 2002.

Buchenwald, Hiroshima, 11. September: es gibt Orte und Daten, die scheinbar unauflöslich mit bestimmten Ereignissen und Zusammenhängen verknüpft sind und Erinnerungen, Gefühle und Deutungen hervorrufen, die sich für die wenigsten Menschen, die darum wissen, als in erster Linie individuelle Erinnerungen charakterisieren lassen. Das gilt auch für weit
weniger globalisierte "Orte" der Erinnerung, für das Berner Wankdorfstadion etwa, oder die kubanische Schweinebucht. In unterschiedlichem Maße werden Erinnerungen daran in verschiedenen Kollektiven geteilt, in gesellschaftlichen Gruppen und imaginierten Gemeinschaften, in der Nation, in der Familie, in Freundschaften oder Verbänden. Das "kollektive Gedächtnis" findet sich oftmals in einem räumlich-materiellen Rahmen verankert, wie dies schon Maurice Halbwachs herausgearbeitet hat. In der Geschichtswissenschaft hat es sich derweil eingebürgert, nicht nur in einem physischen, sondern auch in einem metaphorischen Sinn von Erinnerungsorten zu sprechen, nachdem der französische Historiker Pierre Nora in den achtziger und neunziger Jahren ein siebenbändiges Werk über die lieux de mémoire vorgelegt hat, die das kollektive "französische Gedächtnis" prägen sollen. Nun liegt in drei voluminösen Bänden erstmals ein groß angelegter Versuch vor, auch die "deutschen Erinnerungsorte" zu erkunden, vom Verlag als ein "historisches Jahrhundertunternehmen" angepriesen. Erinnerungsorte, so definieren die Herausgeber Etienne François und Hagen Schulze in ihrer Einleitung, "können ebenso materieller wie immaterieller Natur sein, zu ihnen gehören etwa reale wie mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke... . Erinnerungsorte sind sie nicht dank ihrer materiellen Gegenständlichkeit, sondern wegen ihrer symbolischen Funktion. Es handelt sich um langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in
dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert" (Bd. I, S. 17f.). Es geht also bei dem Vorhaben nicht darum, "Realgeschichte" nachzuzeichnen, sondern vielmehr um die Symbolisierung und wechselvolle Tradierung bestimmter geschichtlicher Ereignisse und Konstellationen, um die kritische Rekonstruktion von geschichtlichen Ikonen, wie sich anders sagen ließe.
Entsprechend der breit gefaßten Eingangsdefinition erwartet die Leserinnen und Lese denn auch ein ungeheuer weit gespanntes Feld mit deutlich über einhundert Einzelbeiträgen, die in ihrer zeitlichen und räumlichen Verstreutheit zunächst einen schlicht überwältigenden Eindruck hinterlassen. Um nur einen kleinen Eindruck von den Dingen zu geben, die dort
verhandelt werden, sei wenigstens ein gutes Dutzend der Beiträge einmal aufgezählt, fast willkürlich gewählt, querbeet aus den drei Bänden: Canossa, der Führerbunker, die Familie Mann, Grimms Märchen, der Volkswagen, Versailles, der Weißwurstäquator, das Brandenburger Tor, Made in Germany, die Bundesliga, Karl May, Blut und Boden, der Wandervogel,
Beethovens Neunte. Die Ordnung dieser Beiträge ist insgesamt nicht chronologisch angelegt und das machte auch wenig Sinn. Denn es geht ja nicht um einen geschichtlichen Ablauf, sondern um Deutungen und Umdeutungen, um symbolische Besetzungen, die in den meisten Beiträgen auch erkennbar von einem heutigen Standort aus dargestellt werden. So haben die
Herausgeber als Ordnungsprinzip jeweils sechs bis zehn Beiträge unter einem Oberbegriff versammelt, wie Reich, Dichter und Denker, Disziplin, Bildung, Gemüt, Heimat usw., großenteils Begriffe, "die sich in keine andere Sprache übersetzen lassen" (ebd., S. 20).
Die dispersen Bündel, die dadurch entstehen, sollen zugleich den Brüchen und Verwerfungen der deutschen Gedächtniskultur Rechnung tragen. Zwar mag die Zuordnung der Beiträge hie und da streitbar sein, etwa wenn Bismarck unter dem Stichwort Revolution abgehandelt wird oder Heinrich Heine nicht als Dichter und Denker sondern unter der Rubrik Zerrissenheit
fungiert. Das Prinzip vermag insgesamt dennoch zu überzeugen, denn so werden viele interessante Verknüpfungen deutlich oder zumindest angeregt, ohne dabei den Anspruch auf eine allzu "große Erzählung" zu erheben. Es ist nicht möglich, die Vielzahl von Beiträgen hier im Einzelnen darzustellen und es verbietet sich dem fachfremden Rezensenten zumal,
die großenteils von deutschen und französischen Historikern verfaßten Artikel quer durch die Jahrhunderte zu beurteilen. Die gemäß vorhandenen Interessen ausgewählt gelesenen Beiträge - so werden es angesichts der gut 2000 Seiten wohl die meisten Leserinnen und Leser halten müssen - sind in ihrer gedanklichen Reichweite und in ihrem Stil ganz unterschiedlich; und sie schwanken auch in der Qualität erheblich, wie mehrere Rezensenten bemerkt haben. Verschiedentlich ist bemängelt worden, daß die Sammlung insgesamt etwas zu rückwärtsgewandt wirke und zu viele Erinnerungsorte behandele, die, wenn noch nicht ganz verblaßt, so jedenfalls nicht mehr sehr wirksam seien: Königin Luise, Ein Kampf um Rom und der Bamberger Reiter sind heute wohl kaum noch sehr verbindliche und verbindende Geschichtsikonen. Hinterrücks wird damit die in der Einleitung etwas vernachlässigte Frage aufgeworfen, um wessen Erinnerungsorte es sich hier eigentlich handelt, an welche Gruppen
und Institutionen diese jeweils gebunden sind oder waren. Eine homogene Erinnerungsnation kann ja nicht vorausgesetzt werden, ohne sich in Tautologien und Widersprüche zu verwickeln.
Viele Beiträge bemühen sich denn auch, diesem Problem Rechnung zu tragen und unterschiedliche Aneignungen und Aneignungsversuche zu zeigen. So führt etwa Ernst Hanisch in seinem sehr lesenswerten Beitrag über den Wiener Heldenplatz vor, wie der monarchistisch-katholische Symbolgehalt dieses Platzes teils in den "dominanten Hitlermythos" einging, aber nach 1945 auch wieder neue Anschlüsse an ein konservatives Österreichbild ermöglichte, daß das Land als erstes Opfer der nationalsozialistischen Aggressionspolitik erscheinen ließ - ein neuer Mythos, der erst mit der "Affäre Waldheim" und schließlich mit Thomas Bernhards Theaterstück "Heldenplatz" untergraben wurde (Bd. I, S. 105f.). Friedrich Prinz mit einer erhellenden Rekonstruktion des Weißwurstäquators (Bd. I, S. 471f.) oder Etienne François über die Wartburg (Bd. III, S. 154f.) gehen einen vergleichbaren Weg, wenn auch sie versuchen, in der Herausbildung eines Erinnerungsortes die Brüche und Umdeutungen zu betonen, die an das Handeln bestimmbarer gesellschaftlicher Gruppen geknüpft sind. Im Falle der Wartburg reicht dies von protestantischen Pilgern und revolutionären Studenten über die völkische Aneignung bis zur Besetzung des Symbols durch die gehobene Automarke der DDR, dem nur halb geglückten Versuch, hier ein Symbol der Wiedervereinigung zu etablieren und schließlich der Aufnahme in die Liste des Weltkulturerbes durch die UNESCO.
Diese und viele andere Beiträge sind ohne Zweifel auch für die gegenwärtige Humangeographie von großem Interesse. In verschiedener Weise ist auch dort die sinnhafte Interpretation räumlicher Strukturen und Handlungskontexte vermehrt in den Blick gerückt worden, die Bedeutungszuweisungen an Orte und Räume, oder die "Geographien symbolischer
Aneignung", wie Benno Werlen dies formuliert hat. Wenn sich auch die Perspektive dabei generell weniger auf historische Sachverhalte und deren Gedenken richten wird, so ist es doch in vielen Fällen gar nicht zu umgehen, auch die oben genannten "langlebigeren Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität" zu erschließen, zumal wenn sie ihre Form in "materiellen Anordnungen" (Halbwachs) gefunden haben. Es ergibt sich vom Ansatz her ohne grundlegende Probleme die Möglichkeit, auch Erinnerungsorte oberund unterhalb der nationalen Ebene in Betracht zu ziehen. Und dies haben auch die Herausgeber
in dem vorliegenden Werk schon bewußt getan: Versailles und Auschwitz sind mehr als nur deutsche Geschichtsikonen, und die Wartburg oder Oberammergau haben selbstverständlich auch regional spezifische Bedeutungen. Es mag vor dem Hintergrund geographischer Debatten nicht angezeigt sein, das Konzept der Erinnerungsorte ganz so weit auszudehnen und
einzelne Personen (Goethe), literarische Figuren (Professor Unrat) oder gar abstrakte Begriffe (Pflicht) darunter zu subsumieren. Ungeachtet dieser Einschränkung findet sich hier aber eine wahre Fundgrube von Anregungen und Bereicherungen, zum Teil auch methodische Hinweise, wie die symbolischen Aneignungen sich mit Ertrag untersuchen lassen.
Weiterführend sind dabei etwa die (insgesamt wenigen) Beiträge, die sich auch mit der Verwendung von Bildern beschäftigen, wie Erhard Schütz' Artikel über den Volkswagen oder Wolfgang Ullrichs Essay über den Bamberger Reiter und Uta von Naumburg, die über weit verbreitete Fotografien in den dreißiger Jahren zu den "ersten Kultfiguren des modernen
Medienzeitalters" wurden (Bd. I, S. 325). Aus geographischer Sicht lassen sich wohl auch einige Verkürzungen des vorliegenden
Projekts leichter erkennen. So wurden insgesamt die äußeren Beziehungen und exterritorialen Gefilde deutscher Erinnerung etwas vernachlässigt. Da fällt schon auf, daß etwa der in den sechziger und siebziger Jahren allgegenwärtige "Gastarbeiter" keinen Platz findet, der doch in der Abteilung Identitäten aus heutiger Perspektive mindestens die
selbe Berechtigung gehabt hätte wie die etwas verblichene Germania oder der Oberrieder Kulturbunker, in dem die nach offizieller Ansicht wichtigsten Kulturgüter der Nation für Ernstfälle auf Mikrofilm gesichert liegen. Noch deutlicher wird eine große Lükke sichtbar, was das ganze koloniale und postkoloniale Erbe im nationalen Gedächtnis in seinen
verschiedenen Formen anbelangt. Kein Panthersprung nach Agadir, kein Volk ohne Raum, kein Lambarene und kein Usambaraveilchen: Im Einzelnen läßt sich das sicher verschmerzen, in der Summe wird eine Leerstelle daraus, die umso merklicher wird, als das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sonst als Zeitraum sehr stark vertreten sind. In der Summe kann dies den Wert der drei Bände jedoch kaum schmälern. Es bleibe dahingestellt, ob das angekündigte Jahrhundertwerk seinem Anspruch insgesamt gerecht werden kann. Ein ähnlich umfassendes Vorhaben vergleichbarer Art wird es jedenfalls so schnell nicht geben und die Vielzahl an Anregungen und Informationen, die sich hier versammelt finden, wird für jeden von Interesse sein, der sich mit den symbolischen Geographien in Deutschland und darüber hinaus befaßt. Umso erfreulicher ist, daß die Essays ganz überwiegend auch für ein allgemeines Publikum sehr leserlich geschrieben sind.   
Autor: Michael Flitner  

Quelle: Geographische Zeitschrift, 90. Jahrgang, 2002, Heft 3 u. 4, Seite 232-234