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Kategorie: Rezensionen

Reinhard Nachtigal: Die Murmanbahn. Die Verkehrsanbindung eines kriegswichtigen Hafens und das Arbeitspotential der Kriegsgefangenen (1915 bis 1918). Grunbach 2001. 159 S.

Der vorliegende Band ist Teilergebnis umfangreicher Studien des Verfassers in Archiven Österreichs, Deutschlands und Russlands. Im Mittelpunkt des Interesses steht die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte deutsch-österreichischer Kriegsgefangener im zaristischen Russland bzw. in der Frühphase des russischen Sowjet-Staates zwischen 1914 und 1920.

Drei Aspekte erscheinen dem Autor besonders berücksichtigenswert:
Erstens der technisch-infrastrukturelle Gesichtspunkt, der das in geographischer und zeitlicher Hinsicht ehrgeizige Eisenbahnprojekt in den Kontext einer strategischen Neubewertung der russischen Kräfte im Sommer 1915 einordnet. Zweitens das humanitäre Problem, das sich aus dem Arbeitseinsatz deutscher Kriegsgefangener unter schwierigen Bedingungen ergab und nicht zuletzt das Schreckbild russischer Kriegsgefangenschaft begründet hat. Der dritte Aspekt behandelt die Reaktion der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn auf die schlechte Behandlung ihrer Gefangenen.
Die Notwendigkeit zum Bau der Eisenbahn ergab sich aus der Erschöpfung des russischen Kriegsgeräts 1915. Dies bewirkte die überhastete Projektierung einer Verbindung des Nordmeerhafens in der Kola-Bucht bei Romanov na Murmane (Murmansk) mit der Stadt Zvanka (Volchow), südöstlich von St. Petersburg. Auf diesem Wege sollte Kriegsmaterial aus Großbritannien und den USA (neutral bis 1917) an die russische Front gebracht werden. Im Sommer 1915 war die Kriegsfront bis auf 400 Kilometer an St. Petersburg herangerückt.
Während des Ersten Weltkrieges mobilisierte das Russische Reich 15 Millionen Soldaten. Der wirtschaftliche Einsatz von Kriegsgefangenen in allen Bereichen der russischen Wirtschaft wurde somit unverzichtbar. 1916 befanden sich rund zwei Millionen Kriegsgefangene in russischer Hand. 1,5 Millionen von ihnen wurden zum Arbeitseinsatz gebracht. Dabei verfolgte die zaristische Regierung im Geist des Panslawismus eine Nationalitätenpolitik, die Kriegsgefangene der "Brudervölker" besser behandelte als deutsche Gefangene. NACHTIGAL differenziert in diesem Zusammenhang in Anlehnung an die Angaben der Gefangenenlisten (die in den unterschiedlichen Kriegsjahren mit wechselnder Zuverlässigkeit geführt wurden) zwischen Reichsdeutschen und Deutschösterreichern. Letztere machten rund 90% der deutschen Kriegsgefangenen aus. Als "deutsch" wurde zudem jeder in den russischen Gefangenenlisten vermerkt, der sich selbst so bezeichnete. Dadurch sind Gefangene der K. u. K-Monarchie sowohl aus dem zis- als auch aus dem transleithanischen Teil der Doppelmonarchie als Deutsche geführt worden. Zum Baueinsatz an der Murmanbahn kamen überwiegend Magyaren und Deutsche. Aus den sich zum Teil widersprechenden Angaben russischer Dokumente filtert der Autor für 1916 40.000 beim Bau der Murmanbahn eingesetzte deutsche Kriegsgefangene heraus. Das Ergebnis erscheint glaubhaft, doch erfordert die Akribie des Autors eine hohe Aufmerksamkeit des Lesers, da ein Teil der Argumentation und der Basiszahlen in den Fußnoten enthalten ist. Die kartographische Dokumentation der Ergebnisse ist leider unzureichend.
Die Darstellung der humanitären Verhältnisse an der Baustelle ist erschütternd. Die Unterbringung der Gefangenen unter erbärmlichsten Verhältnissen, ohne ausreichende ärztliche und hygienische Versorgung und Mangelernährung, bedingte den Ausbruch von Infektionskrankheiten wie Flecktyphus, Tuberkulose und Skorbut. Inspektionsreisen in die Lager entlang der Bahnstrecke durch medizinische Sachverständige der russischen Regierung brachten jedoch nur unzureichende Verbesserungen. Kontrollbesuche der Mittelmächte oder von Rot-Kreuz-Delegationen aus den skandinavischen Staaten wurden seitens der russischen Regierung abgelehnt. Den neutralen Amerikanern, die diplomatisch im Interesse der deutschen Kriegsgefangenen zu intervenieren versuchten, wurde versichert, dass es Epidemien nicht gäbe, "vielmehr gingen die Gefangenen singender Weise zur Arbeit." Die skandinavischen "Liebesgaben" für die Gefangenen wurden großenteils von russischen Bewachern verkauft.
Die deutsche Regierung, interessanterweise lehnte die österreich-ungarische dies ab, erwog hierauf ihrerseits Repressalien gegen russische Kriegsgefangene. So erfolgte die Verlegung von 500 russischen Offizieren in ein Sumpfgebiet bei Minden in Westfalen. Die russische Regierung verfügte daraufhin die Verlegung von 500 reichsdeutschen Offizieren in das für Fleckfieber berüchtigte Lager Tockoe, nahe Orenburg. Insgesamt erwiesen sich die deutschen Repressalien als nicht sehr wirksam, u.a. weil sie nicht von einer entsprechenden Propagandakampagne begleitet wurden. Erst im Frühjahr 1917 begann die organisierte Massenrückführung der deutschen Gefangenen von der fertig gestellten Murmanbahn in die Gefangenenlager. Das Zarenreich löste sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf. Viele kranke und schwache Gefangene überlebten den Rücktransport nicht.
Ihren strategischen Vorteil konnte die Murmanbahn nicht mehr ausspielen. Erst seit den zwanziger Jahren wurden entlang der Bahn Ansiedlungen vorgenommen, eine Erschließung Kareliens, der Nordmeerküste und Nordsibiriens systematisch verfolgt. Der Zweite Weltkrieg versprach strategische Vorteile bei der Nutzung der Bahn, doch das rasche Vorrücken deutscher und finnischer Truppen entlang der Bahnlinie 1941 verkehrte den strategischen Vorteil zunächst in einen Nachteil. Aus heutiger Sicht hat die Murmanbahn ihre strategische Bedeutung gänzlich eingebüßt.
Mit dem vorliegenden sorgfältig und kenntnisreich verfassten Buch, das sich jeder Form des "Aufrechnens" hinsichtlich der verschiedenartigen Bedingungen russischer und deutscher Gefangenschaft enthält, hat REINHARD NACHTIGAL einen weiteren erhellenden Teilbeitrag zur Frage der wirtschaftlichen Bedeutung von Kriegsgefangenen in der Epoche der Weltkriege vorgelegt.    
Autor: Christoph Spieker

Quelle: Erdkunde, 56. Jahrgang, 2002, Heft 4, S. 428-429