Hans-Hermann Höhmann (Hg.): Wirtschaft und Kultur im Transformationsprozess. Wirkungen, Interdependenzen, Konflikte. Bremen. 2002 (Analysen zur Kultur und Gesellschaft im östlichen Europa, Band 11). 298 S.

Der Sammelband enthält überwiegend Beiträge der 3. internationalen Konferenz im Rahmen des Bereiches "Wirtschaftskulturelle Transformationsforschung". Der erst 1998 von der Forschungsstelle Osteuropa eingerichtete Themenschwerpunkt soll die Beziehungen zwischen der Wirtschaftstransformation und der Wirtschaftskultur der Hauptakteursgruppen dieser Transformation untersuchen. Unter Wirtschaftskultur wird dabei "die Gesamtheit der jeweils auf die Wirtschaft bezogenen Kenntnisse, Erfahrungen, Wahrnehmungen, Wertungen, und Verhaltensstile ganzer Nationen oder bestimmter Bevölkerungsgruppen innerhalb einer Gesellschaft verstanden, die das wirtschaftsrelevante Entscheiden und Handeln der Akteure bzw. Akteursgruppen beeinflusst."

Bereits die Definition lässt die enorme Vielfalt der Faktoren und ihrer jeweiligen multiplen Wechselwirkungen deutlich werden, welche es im Forschungsfeld Wirtschaftskultur zu untersuchen gilt.
Dementsprechend vielgestaltig zeigt sich die Zusammenstellung der Erfahrungsberichte und empirisch fundierten Interpretationsansätze, mit welchen die Autoren des vorliegenden Bandes auf die Relevanz von Kulturfaktoren in unterschiedlichen Feldern ökonomischer Transformationsprozesse eingehen. Praxisberichte aus dem Geschäftsfeld von Rückversicherungen (Bell) oder Rechtsberatungen (Schramm) oder die Aufarbeitung von Kooperationshemmnissen zwischen deutschen und russischen Klein- und Mittelunternehmen (Jänecke) verdeutlichen Probleme im Zusammenhang mit kulturellen Wirkungsfaktoren. Andere Autoren gehen in ihren empirischen Analysen eher auf strukturelle oder institutionelle Kontextbedingungen ein und setzen die Transformation gesellschaftlicher Regulationsmechanismen in Beziehung zu praktischen Handlungsmöglichkeiten, beispielsweise in der Unternehmensbesteuerung (Pleines) oder der Regionalpolitik (Tatur/Bukowski) oder bei der Standortwahl internationaler Unternehmen innerhalb Moskaus (Lentz), aber auch hinsichtlich der Persistenz von Stereotypvorstellungen in deutsch-russischen Wirtschaftsverhandlungen (Bühler).
Dass Wirtschaftskultur aber auch in ihren sektoralen Ausprägungen als Rechtskultur, Steuerkultur oder Steuerzahlkultur in Erscheinung tritt, zeigen die Beiträge von Nerré, Fruchtmann und Pleines in einem eigens dazu angelegten Themenblock. Sie liefern Ergebnisse eines im April 2000 von der Forschungsstelle konzipierten Projektes, welches sich mit der Steuergesetzgebung und Steuerpraxis in der Russländischen Föderation beschäftigt. Hier wird versucht herauszufinden, in welcher Art und Intensität kulturelle Faktoren im russischen Steuersektor wirksam werden.
Mit dem vorliegenden Band bereichern aber auch völlig neue Themen das inhaltliche Spektrum des Forschungsbereichs, beispielsweise die Konfrontation der Gesellschaft mit dem Auftreten neuer Akteure (hier die "neuen Russen") und Wertvorstellungen (z.B. marktwirtschaftliche Konsummuster) sowie damit verbundene Identitätskrisen in Phasen der Transformation. Engel und Schlott untersuchen Bereiche der alltäglichen Kommunikation und Konsumtion, um hinsichtlich Wechselwirkung von Kultur und ökonomischer Realität auf Wahrnehmungsabläufe und Bewältigungsstrategien der Gesellschaft einzugehen.
Neben diesen zahlreichen Beispielen aus der Praxis finden sich leider nur wenige Beiträge zum wissenschaftlichen Diskurs. Mit kritischen Beleuchtungen des Transformationsbegriffs erinnern zum Beispiel Zweynert, Stadelbauer, Lentz und Pezoldt daran, dass es in dem Projekt "Wirtschaftskulturelle Transformationsforschung" nicht nur um die Wirtschaftskultur, sondern eben auch um die Transformationsforschung als solche geht.
Des Weiteren wird der Beitrag, den die Kulturgeographie in diesem Bereich leisten kann, sowohl aus theoretischer Perspektive (Stadelbauer) als auch durch zwei Anwendungsbeispiele zu Prozessen der Stadtentwicklung (Lentz) und agrarbetrieblichen Entwicklung (Lindner) aufgezeigt. Insbesondere mit der Integration dieses Themenblockes zur kulturgeographischen Transformationsforschung wird dem eigenen Anspruch des Forschungsbereichs an eine Erweiterung der interdisziplinären Zusammenarbeit in diesem Band Rechnung getragen.
Insgesamt entsprechen die unterschiedlichen Beiträge in der Vielfalt ihrer Ansätze und Themenstellungen also der Zielstellung übergreifender Forschungsarbeit und verdeutlichen in einer breiten Übersicht die Weite des Horizonts, welcher sich dieser noch jungen Forschungslandschaft bietet. Jedoch stellen sie in Form einzelner Fallbeispiele bisher nicht viel mehr als einzelne Silhouetten an diesem Horizont dar, welche in Zukunft durch weitere Detaillierung und bessere Vernetzung in ein integrativeres Bild gerückt werden müssen. Ansatzpunkte für eine derartige konzeptionelle und wissenschaftstheoretische Infrastruktur der wirtschaftskulturellen Transformationsforschung finden sich in den Beiträgen von Zweynert, Pezoldt, Stadelbauer und Lentz. Eine Intensivierung der Intra- und Interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurse ist sowohl für die weitere Forschungsarbeit als auch deren Anwendung in der Wirtschafts- und Unternehmenspraxis, im Sinne einer positiven Verknüpfung von knowlegde for understanding mit knowledge for action, unumgänglich. Wenn Pezoldt (66) beispielsweise über das Theoriegebäude des internationalen Marketing schreibt, es biete "vor dem Hintergrund der sich widersprüchlich und turbulent vollziehenden Veränderungen der Umfeldbedingungen in den Ländern Osteuropas keine geeigneten Theorieansätze zur Beschreibung, Erklärung sowie Prognose der sich abzeichnenden Prozesse und mach[e] somit die Ableitung von normativen Empfehlungen für unternehmerisches Verhalten in Transformationsmärkten sehr kompliziert", benennt sie ein Defizit, welches auch in den übrigen Disziplinen dieser Forschungskooperation neuer Revision bedarf.
Schließlich ist noch einmal auf den gesellschaftlichen Fokus zurückzukommen, welchen die eingangs angeführte Definition des Forschungsobjektes verlautbart. Dass bei den untersuchten Nationen bisher ein deutlicher Schwerpunkt auf Russland gelegt wurde, ist zwar durchaus im Sinne des Forschungsvorhabens. Jedoch sollte der letzte Beitrag des Bandes mit einem Ländervergleich Polen - Ungarn gewissermaßen als richtungweisender Abschluss verstanden werden, denn er macht zugleich auf zwei raumbezogene Desiderata aufmerksam: Zum einen sind für eine Erforschung des wirtschaftskulturellen Milieus des östlichen Europas vergleichende Länderanalysen unerlässlich. Zum anderen zeigen sich gerade in einem so großen Flächenstaat wie Russland kulturelle Heterogenitäten und, auch in kleineren Nationen bedingt durch regionalwirtschaftliche Koalitionen, Tendenzen regionaler ökonomischer Differenzierung innerhalb der Staaten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es den Herausgebern durchaus gelungen ist, die Arbeit der ersten beiden Bände konstruktiv fortzuführen. Die Dokumentation von Forschungsergebnissen und Zusammenstellung aktueller empirisch-analytischer Beiträge leistet einen substantiellen Beitrag zur Erklärung von Hemmnissen bei der Konsolidierung von Demokratie und Marktwirtschaft im östlichen Europa unter Einbeziehung kultureller Faktoren. Zugleich werfen die Autoren aber auch zahlreiche neue Fragen auf und tragen somit wesentliche von ihrer Forschungsarbeit ausgehende Impulse weiter.
In dem Band enthaltene Rückblicke auf die historische Umgestaltung im Steuer- und Rechtswesen (Nerré, Schramm) machen auf eigene Dynamiken in der Prozesshaftigkeit eines Wandels aufmerksam, für den es kein entsprechendes historisches Äquivalent gibt. Daneben belegen die Studien zu aktuellen Entwicklungen das weitere Andauern dieses Wandels, so dass auch in Zukunft sowohl eine weitere Verdichtung retrospektiver als auch Konzeptionen begleitender Analysen des Umgestaltungsprozesses erforderlich sein werden, um hierfür allgemeine Regelhaftigkeiten ableiten zu können. Hintergrundinformationen:
Die Forschungsstelle Osteuropa wurde an der Universität Bremen eingerichtet und widmet sich zeitgenössischen Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft Ostmittelund Osteuropas. Der dort eingerichtete Themenschwerpunkt Wirtschaftskulturelle Transformationsforschung soll den wirtschaftskulturellen Bereich in der Transformationsforschung behandeln. Im Mittelpunkt des Vorhabens stehen die Beziehungen zwischen der Wirtschaftstransformation und der Wirtschaftskultur der Hauptakteursgruppen der Transformation, d.h. der politisch-administrativen Akteure, der Unternehmer sowie der Bevölkerung in ihrer Eigenschaft als Beschäftigte, Transfereinkommensbezieher und Konsumenten. Dazu werden jährlich internationale Konferenzen durchgeführt, deren Ergebnisse jeweils als Sammelband veröffentlicht werden. Als Vorgänger des oben rezensierten Bandes erschienen bereits: Hans-Hermann Höhmann (Hg.) 1999: Eine unterschätzte Dimension - Zur Rolle wirtschaftskultureller Faktoren in der osteuropäischen Transformation. Bremen. Hans-Hermann Höhmann (Hg.) 2000: Kultur als Bestimmungsfaktor der Transformation im Osten Europas: Konzeptionelle Entwicklungen - empirische Befunde. Bremen.
Autorin: Diana Schmidt

Quelle: geographische revue, 4. Jahrgang, 2002, Heft 1, S. 87-90