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Kategorie: Rezensionen

Andreas Farwick: Segregierte Armut in der Stadt. Ursachen und soziale Folgen der räumlichen Konzentration von Sozialhilfeempfängern. Opladen 2001. 212 S.

In der amerikanischen und europäischen Stadtforschung wird derzeit eine lebhafte Debatte darüber ausgefochten, ob sich - vor dem Hintergrund von Deindustrialisierung und der Fragmentierung der Gesellschaft - eine neue Qualität der Armut entwickelt hat. Die in dieser Debatte geprägten Konzepte der "New Urban Underclass" (Wilson 1987) und der "sozialen Ausgrenzung" (vgl. Kronauer 1997) sind nun auch in Deutschland verwendet worden, um die qualitativ neuen sozialen Folgen der damit verknüpften Armut zu beschreiben. Ein wesentliches Merkmal der Armut ist ihre Konzentration in den Großstädten und dort wiederum in einzelnen Stadtteilen. Die als Dissertation eingereichte Arbeit des Geographen Andreas Farwick nimmt die Diskussion um die Folgen der Armutskonzentration auf und untersucht am Beispiel von Bremen und Bielefeld die Segregation von Sozialhilfeempfängern und die Auswirkungen dieser Segregation auf den Sozialhilfebezug.

Nach Farwick nimmt mit der zunehmenden Dauer von Armut die Gefahr der sozialen Isolation zu, Rückzug und Resignation verhindern dann die Reintegration in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt. Farwick untersucht die Segregation von Armut auf der Basis von Sozialhilfedaten, aus denen demographische Merkmale und die Bezugsdauer als differenzierende Variablen genutzt werden.
Die von Farwick verfolgte Fragestellung ist in jüngerer Zeit von mehreren Forschern untersucht worden, so zum Beispiel von Friedrichs und Blasius 2000 in ihrer Studie "Leben in benachteiligten Gebieten"  Als Faktor, der für die soziale Ausgrenzung verantwortlich ist, wird hier die soziale Umgebung untersucht, das räumliche Milieu, in dem die Betroffenen leben. Der Stadtteil als soziale Umgebung kann dabei entweder als "Ressource der Lebensbewältigung" (Herlyn et al. 1991) wirken oder als zusätzliche Benachteiligung, die die Chance auf Arbeitsmarktzugang und die Nutzung von Ressourcen einschränkt und damit die soziale Ausgrenzung weiter verstärken kann (vgl. u. a. Häußermann/Kapphan 2000). Farwick versucht daher, zwei Fragen zu beantworten: "Kommt es infolge zunehmender Armut in den Städten zu einer Ausweitung und Verfestigung der räumlichen Konzentration von Armut und auf welche Ursachen ist dies zurückzuführen?" Und: "Verringert ein von Armut geprägtes Wohnumfeld die Chance, eine Armutslage zu beenden?" (S. 18)
Farwick kann für seine Studie auf eine einzigartige Datenquelle zugreifen. Ihm stehen die Längsschnittsdaten der Bremer und Bielefelder Langzeituntersuchungen zum Sozialhilfebezug (vgl. Leibfried et al. 1995) zur Verfügung, wodurch die Arbeit besonders interessant ist. Die Auswertung dieser Daten meistert Farwick vorbildlich, auch wenn die Untersuchungsschritte nicht immer ganz einfach zu verstehen sind. Mit mehreren multivariaten Datenanalysen werden die gestellten Fragen untersucht und wird den Hypothesen nachgegangen. Um es vorweg zu sagen: Selten habe ich eine methodisch so saubere Arbeit gesehen, die zudem über gut geschriebene theoretische Teile verfügt. Insgesamt ist es fürwahr eine überaus lesenswerte Arbeit, die immer wieder auf die zentrale Fragestellung Bezug nimmt und zu sehr differenzierten Ergebnissen kommt. Ich möchte dennoch den Versuch unternehmen, nach der Darstellung der Ergebnisse einige Argumentationen und Folgerungen der Studie kritisch zu hinterfragen.
Nach einer knappen Einleitung, in der die Fragestellung erörtert wird, schildert Farwick in Kapitel 2 jene Ansätze, die für die Erklärung der Segregation in Frage kommen. Neben den klassischen Modellen der Chicagoer Schule und der neo-liberalen Ökonomie referiert er auch verhaltenstheoretische, institutionelle und politökonomische Ansätze, die die Verteilung der Bevölkerung im Raum beschreiben und erklären. Letztendlich entscheidet sich Farwick für eine Synthese angebots- und nachfrageorientierter Ansätze, die er in einen handlungstheoretischen Forschungsrahmen integriert. Er beschließt das Kapitel mit einer Auflistung von Wohnungsbeständen, in welche arme Bevölkerungsgruppen Zugang finden können. Dies sind v. a. die öffentlich geförderten Wohnungen, die eine Belegungsbindung aufweisen. Das Kapitel ist knapp gehalten und bietet einen guten Überblick über die theoretischen Erklärungen der Segregation. Allerdings thematisiert es nicht, welchen Einfluss die Zunahme von Armut in der Stadt auf die Segregation hat und wie neue Muster der Segregation theoretisch hergeleitet werden können. Die Erklärungsansätze zur Segregation sind denn auch überwiegend statisch und können die Veränderung von räumlichen Mustern nicht fassen. Der handlungstheoretische Rahmen, der im Theoriekapitel entwickelt wird, wird empirisch nicht umgesetzt. Dominant sind nach Farwick die Angebotsstrukturen im Wohnungsbestand und der Zugang zu Sozialwohnungen. Die handlungsrelevanten Merkmale der Nachfrageseite werden auf die geringen Geldressourcen und beschränkten Informationsquellen armer Haushalte reduziert. Die Reduktion auf die Angebotsseite mag legitim sein bei der Betrachtung von Wohnungsmärkten mit Nachfrageüberhängen und Wohnungsnot. Gleichwohl haben auch hier einkommensstärkere Haushalte mehr Entscheidungsmöglichkeiten und bestimmen durch Fortzug und Verdrängung entscheidend die Segregation der armen Haushalte. Der handlungstheoretische Ansatz entfaltet seine Stärke aber vor allem unter der Bedingung von Wohnungsmärkten mit Angebotsüberhängen.  
Im dritten Kapitel analysiert Farwick die Segregation von Sozialhilfeempfängern in Bremen und Bielefeld. Er stellt fest, dass in beiden Städten der Anteil von Sozialhilfeempfängern in den 1980er und 1990er Jahren angestiegen ist und die Zahl von "Armutsgebieten" zugenommen hat. Während es sich in Bremen vor allem um Neubaugebiete des sozialen Wohnungsbaus handelt, liegen viele der "Armutsgebiete" in Bielefeld in den Altbaubereichen und stellen traditionelle Arbeiterwohngebiete dar. Farwick stellt nun die These auf, dass die räumliche Konzentration von armen Bevölkerungsgruppen in den 1960er und 70er Jahren angelegt wurde und in diesen Gebieten seitdem die Sozialhilfedichten am stärksten gestiegen seien. In den Großsiedlungen ist die hohe Sozialhilfedichte Ergebnis der Zuweisung von Aussiedlern, Ausländern, unvollständigen und ökonomisch schwachen Familien, ehemaligen Obdachlosen und Sozialhilfeempfängern (S. 75).
Anzumerken bleibt, dass Farwick als "Armutsgebiete" jene Stadtteile bezeichnet, die eine weit überdurchschnittliche Sozialhilfedichte aufweisen (durch eine Standardabweichung über dem Durchschnitt gekennzeichnet). Damit ergeben sich für Bielefeld und Bremen unterschiedliche Sozialhilfedichten für die Benennung von "Armutsgebieten". Anders gesagt: Was in Bielefeld ein Armutsgebiet ist, wäre es in Bremen noch lange nicht. Die Frage ist also, ob dies die unterschiedliche Gebietskulisse in den beiden Städten erklärt, weil es vielleicht in Bielefeld gar kein Armutsgebiet gibt. Anscheinend hat die selektive Zuweisung von Problemgruppen in die Großsiedlungen und die massive Vernichtung von günstigen, weil unmodernisierten Altbauwohnungen - wie sie Farwick für seine Erklärung anführt - in Bielefeld nicht in gleicher Weise stattgefunden, so dass der damit verbundene Konzentrationsprozess von Sozialhilfebeziehern nur in Bremen, nicht aber in Bielefeld stattgefunden hat. Dies spricht dafür, dass Quantität von konzentrierter Armut und räumliche Persistenz wahrscheinlich eng zusammenhängen und für jede Stadt getrennt analysiert werden müssten.
Im weiteren fragt der Autor dann, wodurch der überproportionale Anstieg der Sozialhilfedichte in den "Armutsgebieten" zustande kommt. Hierfür lassen sich nach Farwick vier Erklärungen als Hypothesen formulieren: a) durch den Zuzug von Sozialhilfeempfängern; b) durch den überproportionalen Anstieg von Sozialhilfeempfängern unter den ansässigen Bewohnern; c) durch die Zuweisung von Aussiedlern und Asylbewerbern oder d) durch die Kumulation von Armutsbevölkerung durch die überproportionale Dauer des Sozialhilfebezugs. Im Ergebnis formuliert Farwick: "Die verstärkte Verarmung der Bevölkerung in bestimmten Teilgebieten der Städte Bremen und Bielefeld und die daraus erhöhte Konzentration von Armut ist demnach als die Folge einer verschärften, dem Verarmungsprozeß vorgelagerten Segregation von Armut bedrohter sozialer Schichten und Risikogruppen zu werten" (S. 106). Er wendet sich damit gegen die These, dass die zunehmende Verarmung auf den Zuzug armer Bevölkerungsgruppen zurückzuführen ist. Nachweisen kann er allerdings lediglich, dass Sozialhilfebezieher nicht überproportional bzw. "einseitig" in die von ihm konzipierten "Armutsgebiete" zuziehen. Dies hängt allerdings damit zusammen, dass Sozialhilfeempfänger sich einen Umzug oft gar nicht leisten können und sie eine Wohnwertverbesserung nicht vom Sozialamt bezahlt bekommen, wohl aber eine Mieterhöhung in der bestehenden Wohnung. Wesentlich plausibler ist dagegen, dass in die "Armutsgebiete" soziale Gruppen zuziehen, deren Arbeitsmarktsituation prekär ist und die zu einem späteren Zeitpunkt durch eine Verschlechterung ihrer sozialen Lage zu Sozialhilfeempfängern werden. Diese Art des Zuzugs wird bei Farwick durch die eng gefasste Definition von Armut als Sozialhilfebezug allerdings nicht berücksichtigt. Er würde in diesem Fall - und dies ist ja auch seine These - die überproportionale Verarmung der ansässigen Bevölkerung feststellen und von einer Persistenz sozialräumlicher Strukturen ausgehen, wie er sie bereits im theoretischen Teil konzipiert hat. Mit seinem Untersuchungsdesign kann er die Gegenthese also gar nicht widerlegen.
Mit der oben angeführten These hat Farwick die erste seiner beiden Fragen beantwortet: Infolge zunehmender Armut in den Städten kommt es zu einer Ausweitung und Verfestigung der räumlichen Konzentration von Armut. Dies ist darauf zurückzuführen, dass dort bereits eine von Armut bedrohte Bevölkerung ansässig ist (genauer müsste man sagen: ansässig oder zugezogen ist). Die zweite Frage aber widmet sich den Effekten des Quartiers auf die von Armut betroffene Bevölkerung. Dieser geht Farwick im fünften Kapitel nach. Er untersucht hier, ob die Konzentration von Armut einen Einfluß auf die Dauer der Armut, gemessen am Sozialhilfebezug, hat. Tatsächlich kann er beweisen, dass in Gebieten mit einer hohen Sozialhilfedichte die Bezieher auch eine längere Verweildauer in der Sozialhilfe aufweisen. Das Überraschende an diesem Befund ist vor allem, dass dies für alle Altersgruppen, für alle Haushaltstypen, für Männer, Frauen, Ausländer, Deutsche gleichermaßen gilt. Es handelt sich also nicht um einen Befund, der als indirekter Effekt der Konzentration einer bestimmten Armutsgruppe zustande kommt - zumindest kann diese Gruppe nicht auf der Basis der angeführten demographischen Merkmale gefasst werden. "Die höhere Verweildauer (in der Sozialhilfe; Anm. AK) der Haushalte in den Armutsgebieten bzw. Armutsinseln deutet auf eine mehrdimensionale Benachteiligung der Armutsbevölkerung hin, zu der möglicherweise auch ein Effekt des Wohnumfelds zu rechnen ist" (S. 133). Dies ist sicherlich der wichtigste Befund der Studie, der in dieser Form bisher nicht belegt war, auch wenn Farwick in der Formulierung seiner These sehr vorsichtig ist. Er schränkt zudem ein, dass die längere Verweildauer in der Sozialhilfe in Bielefeld nur sehr kleinräumig gegeben ist (S. 141f). Leider geht er an dieser Stelle nicht darauf ein, warum dies so ist und wie die Unterschiede zwischen Bremen und Bielefeld zu erklären sind.
Statt dessen thematisiert Farwick im nächsten Kapitel sehr allgemein, wie der negative Einfluß von Armutskonzentrationen auf die betroffene Bevölkerungsgruppe in den Gebieten erklärt werden kann. Hierfür greift er auf geographische und stadtsoziologische Studien zurück, die den Zusammenhang von Raum und Handeln untersucht haben. Er thematisiert die sozialen Beziehungen im Quartier, die Infrastrukturausstattung wie auch die symbolische Bedeutung des Quartiers und stellt die Einflussfaktoren im Armutsgebiet in einem Diagramm (S. 151) knapp und überzeugend dar. Als Ergebnis formuliert Farwick, dass nicht fehlende Kontakte und unzureichende soziale Ausstattung, sondern Stigmatisierung und die Etablierung abweichender Verhaltensweisen die längere Verweildauer im Sozialhilfebezug erklären (S. 171). Nun überrascht an dieser Stelle, warum die umfangreich dargestellte und gut rezipierte theoretische Literatur zu Armut und den Folgen von Armutskonzentrationen so spät, also nach den umfangreichen und einzigartigen Datenanalysen präsentiert wird, ohne das bis zu diesem Punkt gewonnene empirische Material mit den Ergebnissen der Studien zu kontrastieren und zu diskutieren. Es erstaunt insbesondere, dass - vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Ergebnisse für die Städte Bremen und Bielefeld - die empirischen Studien anderer Forscher nicht auf die Rahmenbedingungen in den von Ihnen untersuchten Städten und die von Ihnen verwendete Methode hin befragt werden. Es stellt sich nämlich die Frage, wie vergleichbar die Ergebnisse verschiedener Studien zum Einfluß von Armutskonzentration auf die Dauer des Sozialhilfebezugs sind, wie ja auch schon die von Farwick selbst durchgeführte Untersuchung für Bielefeld und Bremen ganz unterschiedliche Ergebnisse präsentieren kann.
Dies macht auf ein ganz wesentliches Manko der bisherigen Forschung über die Armutskonzentrationen aufmerksam: Es fehlt an vergleichenden und vergleichbaren Untersuchungen. Je nach Forschungsperspektive und Gewichtung einzelner Elemente kommen die bisher durchgeführten Untersuchungen aber zu unterschiedlichen Ergebnissen, auch wenn sich immer stärker ein gemeinsamer Kanon herausbildet, der nicht mehr hinterfragt wird. Lösbar ist dieses Problem nur durch vergleichende Untersuchungen und die Thematisierung von Unterschieden in den Befunden, nicht nur von Gemeinsamkeiten. Die theoretische Diskussion würde davon profitieren, diese Unterschiede erklären und die daraus entwickelten Thesen dann auch empirisch prüfen zu müssen. Aber dies wird sicherlich eine noch zu schreibende Dissertation bald leisten.
Literatur
Friedrichs, Jürgen, Jörg Blasius 2000: Leben in benachteiligten Wohngebieten. Opladen.
Häußermann, Hartmut und Kapphan, Andreas 2000: Berlin: von der geteilten zur gespaltenen Stadt? Sozialräumlicher Wandel seit 1990. Opladen.
Herlyn, Ulfert, Ulrich Lakemann, Barbara Lettko 1991: Armut und Milieu. Benachteiligte Bewohner in großstädtischen Quartieren. Basel usw.
Kronauer, Martin 1997: "Soziale Ausgrenzung" und "Underclass": Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung. In: Leviathan, Jg. 25, H. 1, S. 28-49.
Leibfried, Stefan et al. 1995: Zeit der Armut. Lebensläufe im Sozialstaat. Frankfurt/M.
Wilson, William J. 1987: The Truly Disadvantaged, the Inner City, the Underclass, and Public Policy. Chicago.
Autor: Andreas Kapphan

Quelle: geographische revue, 4. Jahrgang, 2002, Heft 1, S. 90-97