Michael Dickhardt: Das Räumliche des Kulturellen. Entwurf zu einer kulturanthropologischen Raumtheorie am Beispiel Fiji. Hamburg 2001 (Göttinger Studien zur Ethnologie 7). 309 S.

Ansatzpunkt für diese Dissertation im Fach Völkerkunde ist für Michael Dickhardt ein offensichtliches Unbehagen angesichts der Unklarheit des Raumbegriffs, genauer: der Vielzahl verschiedener Raumbegriffe und -konzepte, mit denen in den Humanwissenschaften gearbeitet wird: "Wie aber kann 'Raum' als einerseits konstitutives Moment und andererseits fragwürdig gewordene Kategorie des Soziokulturellen aus kulturanthropologischer Sicht angemessen thematisiert werden?" (S. 3)
Die zugrunde gelegten ontologischen Annahmen entwickelt der Autor anhand des Begriffes der Praxis (Bourdieu) als Strukturierung (Giddens). Aus seiner kulturanthropologischen Perspektive ist die kulturelle Dimension dieser Konstituierungsprozesse, die die strukturierungstheoretischen Ansätze als Prozesse der Strukturierung begreifen, allerdings "noch weitgehend unbestimmt." (S. 27)

Hier setzt die Arbeit am symboltheoretischen Kulturbegriff an, die im zweiten Kapitel geleistet wird: "Es muß jener grundlegende Prozeß erfaßt werden, vermittels dessen die Akteure und Akteurinnen die Strukturierungen, verstanden als Konstituierungsleistungen, praktisch ins Werk setzen, der dabei als spezifisch kulturell beschreibbar ist und der mithin allererst die Einheit stiftet, die es uns erlaubt, vom Kulturellen als unterscheidbarer Dimension der menschlichen Existenz überhaupt zu sprechen." (S. 29)
Ausgehend von der Kritik an einem Kulturbegriff, der Kultur als Bedeutungsstruktur (Geertz u. a., S. 31 ff.) begreift, dabei aber eher den Produktcharakter des Kulturellen (S. 33) betont als den Vorgang des Produzierens zu thematisieren, argumentiert Dickhardt, "daß der von den strukturierungstheoretischen Ansätzen aufgezeigte Problemzusammenhang der praktisch vermittelten korrelativen Bezogenheit von Subjektivität und Objektivität als Ausweg aus dem dualistischen Denken nur dann kulturanthropologisch gelöst werden kann, wenn man einen Begriff des Symbolischen formuliert, der nicht bloß auf eine allgemein vorhandene symbolische Fähigkeit vertraut, ohne sie zu reflektieren, und der bei der Betrachtung kultureller Systeme nicht bloß auf der Ebene des Produkthaften verbleibt, sondern der sie in ihrer Hervorbringung begreifbar macht, so daß sie einer Reifizierung entzogen werden. Er muß mithin die Dezentrierung des Subjekts in seiner praktischen Konstitutiertheit in der und durch die Objektivität genauso begreifbar machen wie die Subjektivität und den dualen Charakter der Struktur, vermittels derer Praxis allererst hervorgebracht werden kann." (S. 35 f.)
Einen solchen Symbol-Begriff findet Dickhardt in der Philosophie der symbolischen Formen Ernst Cassirers: "Das Symbol bildet nicht nur eine gegebene Welt ab, ist nicht nur 'Träger' einer zuvor in irgendeiner 'reinen' geistigen Form hervorgebrachten Bedeutung. Das Symbol ermöglicht vielmehr allererst den Aufbau sowohl der menschlichen Subjektivität als auch der menschlichen Objektivität." (S. 43) Das, was Cassirer als Prozess der symbolischen Formung konzeptionalisiert hat, sei übertragbar auf die praktischen Strukturierungsleistungen der Akteure (S. 271). Um die Konzeption der symbolischen Formung in die eigene ethnographische Praxis umsetzen zu können, führt Dickhardt zusätzlich die Begriffe ‚Sinnordnung' und ‚Praxisfeld' ein (S. 57 f.).
Was also ist hier ‚das Räumliche', wie kann es in seinem Verhältnis zum Kulturellen angemessen erfasst werden? Dickhardt schlägt vor, "den Begriff der Räumlichkeit ausgehend von der Körperlichkeit der Akteure und Akteurinnen zunächst auf einer rein formalen Ebene zu formulieren als Inbegriff der Ausgedehntheit der Körper, ihrer daraus erwachsenen Nähe und Distanz zu anderen Körpern und deren Positionierung innerhalb einer sie umgebenden Ausgedehntheit (...). Ausdehnung, Distanzierung bzw. Annäherung und Positionierung sind somit die Grundbestimmungen einer räumlichen weil körpervermittelten Praxis, die Praktiken in und durch Ausdehnung hervorbringt, dadurch die Elemente der Strukturen durch Ausdehnung, Distanzierung und Positionierung in der Ausgedehntheit zu einem sinnvollen Gefüge aufbaut und diese Elemente damit allererst eindeutig bestimmt. Die beobachtbaren konkreten materialen Räumlichkeiten sind mithin das Resultat dieser Strukturierung und zugleich deren Medium." (S. 59).
Im Weiteren konzeptionalisiert Dickhardt "das Räumliche im Rahmen der Konzeption der symbolischen Formen als durchgängig und von Grund auf symbolisch konstitutiert" (S. 63). Aus dieser Perspektive der ‚symbolisch konstituierten Räumlichkeit' wird Raum zu einem Objekt der Sinngebung (S. 64). "Räumlichkeit macht symbolische Strukturen nicht nur zugänglich (bzw. nutzbar im Sinne von Ressourcen der Strukturierung) und leiblich erfahrbar, sondern sie ist wesentlich für die symbolischen Formen selbst." (S. 64)
An Giddens Konzept von Lokalität und Regionalisierung vermisst Dickhardt Antworten auf die Frage nach der Hervorbringung des Raumes (S. 68). Harveys Differenzierung von Räumlichkeit (experience, perception und imagination) wird von Dickhardt zwar grundsätzlich geteilt, doch als nicht ausreichend zur Erfassung der Komplexität des Verhältnisses von Räumlichkeit und Soziokulturellem befunden, da der repräsentationale Aspekt von Räumlichkeit hier nicht gebührend berücksichtigt werde: "Zwar erörtert Harvey eingehend auch die kulturellen Dimensionen der Räumlichkeit sozialer Praxis, doch er tut dies von einem materialistischen Standpunkt aus, wobei er die Funktion des Kulturellen lediglich auf der Ebene der Repräsentation von Inhalten erfaßt. Die Totalität, auf die hin alles gedacht wird, ist hierbei die Gesamtheit materieller Praktiken, die den Sinnhorizont in Harveys Deutung abgeben, weshalb er auch von ‚Krisen der Repräsentation' spricht und nicht etwa von Konflikten unterschiedlicher repräsentional konstituierter Räumlichkeiten." (S. 69 f.) Die Dickhardt'sche Kritik an Harveys Perspektive ist gleichzeitig ein Plädoyer für eine mehr kulturtheoretische Konzeptionalisierung von Räumlichkeit: "Weder wird nämlich die Sinnvermitteltheit der materiellen Praktiken beschrieben noch die Enstehung und innere Logik der repräsentationalen Systeme, aus denen sich das Kulturelle zusammensetzt. Und auch eine andere Tendenz der Analysen Harveys wird in diesem Zusammenhang verständlich. Seine Analysen zeigen immer nur eine Wirkrichtung auf, nämlich die von den sich durch die Entwicklung der Produktionsweise verändernden praktischen Erfahrungen zu den Repräsentationen, wobei allerdings letztere mit ersteren in der Entwicklung nie Schritt halten, wodurch es zu Krisen der Repräsentation kommt, aus denen dann den materiellen Praktiken angemessenere Repräsentationen entstehen. Dies ist sicherlich ein häufig zu beobachtendes Phänomen, doch darf nicht vergessen werden, daß neue bzw. sich entwickelnde materielle Praktiken nicht losgelöst zu sehen sind von neuen Formen der Repräsentation, die zu den Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Praxis überhaupt zu zählen sind. Das Hervorbringen und Durchsetzen solcher Repräsentationen nun lediglich utilitaristisch zu deuten, daß sich also neue Raumkonzeptionen zum Beispiel nur deshalb durchsetzten, weil sie kolonialen Interessen dienten, ist somit nur die halbe Wahrheit, da sie zugleich Voraussetzung der Entwicklung ebendieser kolonialen Interessen waren. Die Komplexität historischer Entwicklungen nun verbietet es hier a priori eine alleinige Wirkrichtung der Entwicklung zu postulieren. Erst die Analyse des komplexen Wechselspiels der Sinnordnungen im Rahmen der Gesamtheit der sinnlich-sinnhaften symbolisch vermittelten Praxis läßt die konkrete kulturelle Dynamik dieser Entwicklungsprozesse und der Zusammenhänge zwischen materiellen Praktiken und Systemen der Repräsentation erfaßbar werden."(S. 70)
Anknüpfend bei Cassirer erweitert der Autor die Konzeption Harveys, indem er diesen Aspekt von Räumlichkeit nun nicht mehr allein auf die Repräsentation von Inhalten verstanden wissen möchte: "Ein solches Vorgehen ermöglicht es nämlich, die symbolische Konstitutiertheit der Räumlichkeit sowie ihre konstitutive Funktion für das Symbolische voll zur Geltung zu bringen." (S. 71) In dem im weiteren zugrunde gelegten kulturanthropologischen Konzept hat Räumlichkeit dann fünf verschiedenen Modi, die für die symbolisch vermittelte kulturelle Praxis bedeutsam seien: (1) In der physisch-konkreten Praxis fungiert der physisch-konkrete Raum als Ort, als Objekt und als Medium; (2) als raumkonstituierende symbolische Formen, etwa den post-fordistischen Wirtschaftsraum oder den mystischen Raum; (3) die symbolische Repräsentation von Raum/ Räumen, etwa in Gestalt von Landkarten oder als "vorgestellte Räume im Sinne kultureller Repräsentationen bestimmter Regionen" (S. 72); (4) Raum als Symbol für etwas, also als Bedeutungsträger wie etwa im Falle einer Grenzmarkierung; (5) Raum (oder Teile davon) als konstitutive Symbole für Sinnordnungen, die sowohl verräumlichte Vorstellungen umfassen als auch beispielsweise die Konstruktion von Territorialität als symbolische Form durch räumliche Konzepte (S. 71 f.). Das heißt, kulturelle Räumlichkeit soll "als von Grund auf durchgängig symbolisch konstituiert begriffen werden, was auch den physischkonkreten Raum mit einbezieht." (S. 271 f.)
Ziel der in den ersten beiden Kapiteln angestellten kultur- und raumtheoretischen Betrachtungen war erklärtermaßen nicht die Entwicklung einer erklärenden Theorie, "sondern die Entwicklung eines theoretisch reflektierten begrifflichen Instrumentariums zur Erschließung unserer Erfahrung im Wechselspiel zwischen theoretischer und ethnographischer Praxis." (S. 25)
Das dritte Kapitel ist der "diskursiven Erschließung einer konkreten Räumlichkeit" (S. 77) gewidmet. Das Fallbeispiel Fidschi ist klug gewählt; der für einen Europäer deutliche kulturelle Unterschied im Umgang mit Räumlichkeit (etwa der relationalen Positionierung in Räumen) ist dort in beinahe jeder Alltagssituation auch leiblich erfahrbar, beispielsweise in den stets hierarchischen Sitzordnungen oder beim respektvollen Niedersetzen am Eingang beim Betreten eines fidschianischen Hauses. Prinzipiell dem Ideal der stationären ethnologischen Feldforschung und der holistischen Beschreibung verpflichtet (S. 77), hat sich Dickhardt 1995 und 1996 insgesamt 15 Monate in Fidschi aufgehalten, davon zehn Monate im Dorf Levuka auf der Insel Kadavu (S. 26, 78). Die ethnographische Beschreibung beginnt mit einem einführenden Kapitel zu Fidschi und den melanesischen Fidschianern, gefolgt von einer Darstellung des Dorfes Levuka, der Lebensgrundlagen und der vielfältigen Einbindungen des Dorfes in überörtliche Strukturen und Zusammenhänge. Bei der dann folgenden Bearbeitung des Themenfeldes 'Räume und Räumlichkeiten Levukas' konzentriert sich der Autor vor allem auf drei Bereiche kultureller Räumlichkeit in Levuka: das Dorf (S. 162-198), das Land (genauer: das so zentrale wie umfassende fidschianische Konzept von vanua; S. 198-237) sowie die in vielen Bereichen der Praxis von den Akteuren so überaus genau beachtete relationale Positionierung in Räumen (S. 238-270). Damit werden jeweils physisch-konkrete Räume als Bezugspunkt der Beschreibung gewählt, und nicht einzelne Elemente von Räumlichkeit (wie beispielsweise 'Grenze').
Von den fünf oben genannten Modi der symbolisch vermittelten Bezugnahme auf Räumlichkeit erweisen sich im ethnographischen Teil drei als dominant: auf der Ebene des Dorfes "die spezifisch geformte Lokalität als physischer Ort der Vermittlung von Sinnordnungen", "die Territorialität als spezifische konzeptionell vermittelte Bezogenheit auf Raum, die zum Ausgangspunkt von Sinnordnungen wird" im Falle des Landes/vanua sowie "die räumliche Artikulation sozialer Strukturen durch die Symbolisation" (S. 275) im Falle der relationalen Positionierungen im physisch-konkreten Raum.
Neben einer vorzüglichen Ethnographie des Dorfes Levuka hat Michael Dickhardt damit interessante und ambitionierte Ansätze erarbeitet, wie 'das Räumliche' in der Kulturtheorie konzeptionalisiert werden kann. Zugleich zeigt er auf - und das dürfte für die Kultur- und Sozialgeographie folgenreicher sein -, dass der Frage der Hervorbringung des Raumes in raumtheoretischen Diskursen bisher vielleicht tatsächlich nicht ausreichende Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Das Buch sei damit all jenen empfohlen, die sich für ‚das Räumliche' auch auf hohem Reflexionsniveau interessieren und nicht vor dem aufschlußreichen Blick durch eine kulturanthropologisch gefärbte Brille zurückschrecken - denn durch diese Brille betrachtet ist der Mensch nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein kulturelles Wesen, dessen Sein und dessen Produkte mit nur einem - dafür umso komplexeren - Begriff zu erklären sind, dem der Kultur.
Autor: Carsten Felgentreff

Quelle: geographische revue, 4. Jahrgang, 2002, Heft 2, S. 59-63