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Kategorie: Rezensionen

Harald Bathelt und Johannes Glückler: Wirtschaftsgeographie. Ökonomische Beziehungen in räumlicher Perspektive. Stuttgart 2002. 320 S.

Harald Bathelt und Johannes Glückler verfolgen mit ihrem neuen Lehrbuch ein ehrgeiziges Ziel. Die Autoren "möchten den Übergang von einem raumwissenschaftlichen zu einem relationalen Denken kritisch und konzeptionell erarbeiten." (S. 11). Das Buch zielt darauf, "aus einer umfassenden Kritik des Paradigmas raumwirtschaftlichen Denkens neue Positionen zu verhandeln und Argumente für eine veränderte Grundperspektive anzubieten." Die Autoren plädieren für eine stärke "sozialwissenschaftlich informierte Rahmenkonzeption" (S. 18). Sie legen mit ihrem Lehrbuch eine umfassende und längst überfällige Kritik der Raumwirtschaftslehre vor. Die Autoren wagen den Versuch, auf die Schieflagen des raumwirtschaftlichen Ansatzes in der Wirtschaftsgeographie mit einem alternativen Entwurf zu antworten.
Im ersten Kapitel begründen die Autoren ihre relationale Perspektive und argumentieren für eine zweite Transition. Nachdem in den sechziger und siebziger Jahren die Länder- und Landschaftskunde von der Raumwirtschaftslehre abgelöst wurde, unternehmen die Autoren den Versuch, den konzeptionellen Rahmen einer sich abzeichnenden zweiten Transition hin zu einer relationalen Wirtschaftsgeographie zu formulieren. Der in der deutschsprachigen Wirtschaftsgeographie stark vertretene raumwirtschaftliche Ansatz habe "Räume quasi personifiziert und zu Akteuren hochstilisiert, indem sie zu Objekten der Untersuchung gemacht werden". (S. 27). Bathelt und Glückler betonen demgegenüber, "dass Regionen eben keine Akteure sind, sondern eine soziale Konstruktion, ..." (S. 28). Bathelt und Glückler situieren ihren Ansatz in der new economic geography (nicht zu verwechseln mit der geographical economics von Paul Krugman), die sich seit den späten achtziger Jahren in der angelsächsischen Literatur etabliert hat und eine Gegenposition zum raumwirtschaftlichen Ansatz einnimmt, aber noch kein geschlossenes Theoriegebäude darstellt. Wichtiger Ausgangspunkt des Konzeptes Bathelt und Glückler ist die von Storper (1997) vorgeschlagene holy trinity von Organisationen, Technologien und Territorien. Allerdings kritisieren sie Storpers Aufwertung der Raumdimension und lehnen es ab, räumliche Prozesse auf dieselbe Ebene wie soziale und ökonomische Prozesse zu stellen. "Der Konzeption von Territorium als konstituierender Säule möchten wir ein Verständnis von Raum als Perspektive gegenüberstellen, mit der soziale und ökonomische Prozesse in der Wirtschaftsgeographie analysiert werden." (S. 33). Daraus folgern Bathelt und Glückler: "Wir begreifen Wirtschaftsgeographie als ein Forschungsfeld, das nicht durch den Forschungsgegenstand, sondern durch die Forschungsperspektive spezifisch ist" (S. 33).
Bathelt und Glückler unterscheiden ihre relationale Perspektive auf fünf Ebenen gegenüber dem raumwirtschaftlichen Ansatz (S. 34): Ihr Raumkonzept sieht den Raum weder als Gegenstand noch als Ursache, sondern vielmehr als Betrachtungsperspektive. Demzufolge "bildet ökonomisches Handeln als situierter Prozess in Strukturen von Beziehungen" den Forschungsgegenstand in der relationalen Wirtschaftsgeographie. Gegenüber dem homo oeconomicus wird im relationalen Handlungskonzept das Handeln von Menschen in den konkreten sozialen Kontext ihrer ökonomischen Beziehungen integriert. Daher kann menschliches Handeln nicht universell auf der Grundlage gesetzesartiger Erklärungen beschrieben werden. Die zu Grunde gelegte wissenschaftstheoretische Perspektive des kritischen Realismus wertet die Bedeutung des Kontexts im Prinzip der Kontingenz auf. Im Gegensatz dazu betont die klassische Raumwirtschaftslehre unter dem Einfluss gesetzesartiger Erklärungen durch das Überprüfen von Hypothesen die Rolle des Universellen. Demzufolge richtet sich das Forschungsziel nicht mehr auf die Formulierung von Raumgesetzen, "sondern auf die sachtheoretische Aufklärung sozio-ökonomischen Handelns sowie seiner Beziehungen in räumlicher Perspektive" (S. 35 f.). Die beiden Autoren benennen Kontextualität, Pfadabhängigkeit und Kontingenz als sozialwissenschaftliche Grundprinzipien der dargelegten relationalen Perspektive. Darauf aufbauend entwikkeln die Autoren die Storper'sche holy trinity weiter und schlagen vier Kernkonzepte als sogenannte Ionen einer relationalen Wirtschaftsgeographie vor. Diese vier Grundkonzepte sind Organisation, Evolution, Innovation und Interaktion. Allerdings begründen die Autoren nicht, warum sie ausgerechnet diese vier Konzepte als grundlegend erachten und in welchem Verhältnis diese Konzepte zu einander und zu anderen ökonomischen Prinzipien stehen. Die oben erwähnte Kritik an der Raumwirtschaftslehre ist aus ihrem Ansatz nachvollziehbar und einsichtig. Allerdings wird das vorgeschlagene konzeptionelle Gerüst der relationalen Wirtschaftsgeographie trotz der Verweise auf den kritischen Realismus nur mangelhaft begründet. Die vier Ionen sind eher ein Gliederungsschema für das Buch als eine überzeugende theoretische Fundierung dieser Perspektive.
Die in jüngerer Zeit präsentierten Ansätze der relationalen Wirtschaftsgeographie haben drei wesentliche Verdienste: Erstens haben sie dazu beigetragen, den analytischen Fokus auf die Beziehungen zwischen Akteuren und Strukturen in ihren räumlichen Differenzierungen zu legen. Zweitens verstehen sie die Prozesse des ökonomischen Wandels auf unterschiedlichen geographischen Maßstabsebenen im evolutionären Sinne als pfadabhängig. Drittens überwinden sie das Behälter-Raumverständnis und das Konzept der Region als Objekt. Dennoch vermögen Bathelt und Glückler ihren Anspruch, ein neues Paradigma konsistent darzustellen und erweiterte Perspektiven anzubieten nicht einzulösen. Ihre relationale Wirtschaftsgeographie weist drei entscheidende Defizite auf. Trotz Betonung der Pfadabhängigkeit ist das Projekt der relationalen Wirtschaftsgeographie bislang nicht in ein Verständnis über die historische Entwicklung des Kapitalismus eingebunden. Das ist insofern erstaunlich, als Bathelt vor einigen Jahren mit seiner Beschäftigung mit der Regulationstheorie und dem Konzept der dynamischen Flexibilität von Coriat (1990) selbst Annäherungen an derartige Fragestellungen unternommen hat und danach offensichtlich wieder abgebrochen hat (Bathelt 1994, 1995). Auch die Protagonisten der relationalen Wirtschaftsgeographie haben es bislang versäumt, die ungleichen ökonomischen und sozialen "relations" im Rahmen der Dynamik kapitalistischer Entwicklung als Gesamtheit und in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten zu konzipieren. Obwohl Bathelt und Glückler den "Raumfetischismus" der Raumwirtschaftslehre überwinden wollen, stützen sie ihr Argument der zweiten Transition ausschließlich auf die Notwendigkeit eines relationalen Raumverständnisses. Paradoxerweise bleibt ihre Kritik an der neoklassischen Ökonomie aber verhalten. Obwohl sie der neoklassischen Ökonomie eine mangelnde soziale Verankerung vorwerfen, stützen sie sich weiterhin auf ihren begrifflichen Apparat. Sie schlagen in keiner Weise eine Überwindung der Neoklassik vor, die den weitreichenden Begriff des Paradigmas rechtfertigen würde. Politisch-ökonomische Ansätze, die in den achtziger Jahren in unterschiedlichen Spielarten u.a. von Schoenberger (1989), Walker (1989) sowie in einem Sammelband von Peet/Thrift (1989) vorgetragen wurden, und ausgiebig mit dem Phänomen der ungleichen Entwicklung, einem zentralen Kennzeichen des Kapitalismus, auseinandergesetzt haben, sind in dieser Hinsicht bereits weitergegangen. Es ist nicht einsichtig, warum diese Versuche von Bathelt und Glückler nicht berücksichtigt werden. Letztlich listen Bathelt und Glückler auch in anderen Lehrbüchern vorgestellten neoklassischen Ansätze, Polaristationstheorien und das sicherlich wertvolle Konzept der geographical industrialization von Storper und Walker (1989) auf. Richtig weisen sie darauf hin, dass diese Ansätze in der Regel eklektische Mischformen sind. Aber auch sie bleiben eine weitergehende Begründung und Erklärung der ungleichen räumlichen Entwicklung und der Disparitäten schuldig. Dieses Defizit lässt sich anhand einiger Beispiele illustrieren:
- Bathelt und Glückler gehen an keiner Stelle darauf ein, was die Triebkräfte des unternehmerischen Handelns, letztlich also des Investierens sind. Auf S. 133 kritisieren sie etwas unscharf das Primat der Gewinnmaximierung in der herkömmlichen Ökonomie. Daraus folgt aber ein unklares Verständnis über die Motivation zu investieren. Sicherlich ist es nicht ausreichend, Unternehmen nur als gewinnmaximierende Institutionen anzusehen. Umgekehrt fliegt aber jedes Unternehmen, das keine Gewinne einfährt, längerfristig aus dem Rennen.
- Konkurrenz und Wettbewerbsfähigkeit thematisieren sie nirgendwo. Letztlich werden diese als äussere Zwänge für die Unternehmen und insofern kontextunspezifisch angenommen.
- Dieses Problem ist Ausdruck der Fokussierung auf das Unternehmen als Untersuchungseinheit. Makroökonomische Zusammenhänge - seien es konjunkturelle Zyklen oder strukturelle Gegebenheiten - sind schlicht kein Thema.
- Mit dem Fokus auf das Unternehmen wird die Arbeitsteilung nur als Problem der Internalisierung / Externalisierung von Unternehmensfunktionen thematisiert. Das Problem der sozialen (hierarchischen) Arbeitsteilung bleibt somit ausgeblendet.
- Trotz der Fokussierung auf das Unternehmen werden strukturelle und institutionelle Gegebenheiten und Entwicklungen, die für die unternehmerischen Strategien entscheidend sind, nur ansatzweise diskutiert. Wir denken in erster Linie an die Formen des Marktes. So legt zum Beispiel eine oligopolistische Rivalität den multinationalen Unternehmen ein spezifisches strategisches Verhalten nahe, das sich in der Spezifität ihrer Standortsysteme und der unternehmerischen Verflechtungen niederschlägt.
- Aus der Unterbelichtung der makroökonomischen Reproduktionsbedingungen folgt auch eine Unterschätzung des Finanzbereichs. Die Steuerungsmacht des Finanzkapitals und der internationalen Finanzmärkte bleibt ausgeblendet. Auf S. 144 wird zwar der Kapitalmarkt erwähnt, aber nur im Rahmen der Behandlung des Risikokapitals, was vielleicht paradoxerweise sogar Ausdruck einer versteckten "regionalen Brille" ist. Denn räumlich differenzierte Bedeutungszunahme der Akkumulierung und Verteilung von Risikokapital lässt sich nur im Kontext der kapitalistischen Entwicklungsdynamik verstehen.
Bathelt und Glückler betonen mit ihrer relationalen Geographie zu Recht die soziale Konstruktion ökonomischer Beziehungen. Dennoch erscheint in ihrer Darstellung das Soziale den ökonomischen Prozessen irgendwie äußerlich. Die Autoren leisten keine wirkliche theoretische Verschränkung ökonomischer und sozialer Prozesse. Sie unternehmen den Versuch, auf das der neoklassischen Tradition entstammende ökonomische Fundament ein sozialprogrammiertes Gebäude aufzusetzen. Die vier herausgegriffenen Ionen: Organisation, Evolution, Innovation und Interaktion bieten keine einsehbare Grundlage, sozioökonomische Prozesse zu entschlüsseln. Es ist auch nicht einsichtig, weshalb gerade diese vier Ionen als sozialwissenschaftlich begründete Phänomene in einer räumlichen Perspektive das künftige Feld der Wirtschaftsgeographie definieren sollen. Die Konsistenz dieser vier Ionen ist dadurch in Frage gestellt, dass Interaktionen in den drei anderen vorausgesetzt werden. Es wird leider nicht klar, wie die "geographische Linse" zum relationalen Verständnis sozioökonomischer Prozesse beitragen soll. So kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die ausgewählten Ionen, vor allem dazu dienen sollen, beispielhaft und pointiert die relationalen sozialen Aspekte sozioökonomischer Prozesse herauszuheben. Dies führt notwendigerweise zu einer Unterbelichtung ökonomischer Strukturen und Prozesse, bei deren Betrachtung man nicht von grundsätzlichen Verhältnissen wie zwischen Kapital und Arbeit oder dem Prozess der Werterzeugung abstrahieren kann. Es ist ja nicht ganz zufällig, dass diese vier Ionen eine so prominente Position im Buch einnehmen. Würde man die wirtschaftsgeographischen Publikationen der letzten zwanzig Jahre häufigkeitsstatistisch analysieren, so würde man leicht feststellen können, dass die meisten in diese vier Themenschwerpunkte fallen. So liegt denn der Schluss auf der Hand, dass diese vier Ionen deshalb gewählt wurden, weil sie sich einerseits im hier gewählten sozialwissenschaftlichen Fundament verankern lassen und zugleich ermöglichen, in eher pragmatischer Weise die am häufigsten bearbeiteten wirtschaftsgeographischen Themenfelder zu ordnen und zu strukturieren.
Damit wird aber die Reichweite des ganzen Konzeptes begrenzt, weil es keine grundsätzlich neue Strukturierung des wirtschaftsgeographischen Forschungsfeldes ermöglicht. Die räumliche Perspektive bleibt ein angehängtes Attribut wirtschaftsgeographischer Forschung. Die räumliche Linse wird so nicht zum forschungsleitenden Element. Insbesondere wird die Beziehung zwischen relationalem Ansatz und räumlicher Linse nicht geklärt. Trotz dieser Einwände ist den Autoren hoch anzurechnen, dass sie nach Jahren der konzeptionellen Auffächerung zu einer fokussierten Diskussion anregen. Ihr relationaler Ansatz bietet die Chance, sofern er die "relations" der einzelnen Akteure (z.B. Unternehmen, Personen, Institutionen) mit den "relations" oder "relationships" der gesamtgesellschaftlichen Realität verknüpft, eine Entwicklung in der Wirtschaftsgeographie zu befördern, die nicht nur soziale Beziehungen sondern auch soziale Verhältnisse in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. Letztlich ist das Buch Ausdruck der Debatten über die gesellschaftliche und ökonomische Situation in den 90er Jahren. Die wieder eingekehrte Krisenhaftigkeit und Instabilität der ökonomischen Verhältnisse legt uns nahe, die kapitalistischen Verhältnisse in ihrer Gesamtheit (sozial, ökonomisch, räumlich) zu konzipieren.
Ungeachtet dieser Kritik der theoretischen und konzeptionellen Fundierung ist die große didaktische Qualität des Buches hervorzuheben. Wesentliche Aspekte der jüngeren Debatten in der Wirtschaftsgeographie sind gut verständlich aufbereitet. Das Buch stößt aufgrund der klaren Strukturierung, den guten Erklärungen älterer und neuerer Konzepte sowie der kritischen Aufbereitung des Stoffes bereits auf ein reges Interesse bei den Studierenden. Das zeigt, dass die Autoren in dieser Hinsicht wirklich ein vorzügliches Werk vorgelegt haben.
Literatur
Bathelt, H. (1994): Die Bedeutung der Regulationstheorie in der wirtschaftsgeographischen Forschung. Geographische Zeitschrift 82, S. 63-90.
Bathelt, H. (1995): Der Einfluss von Flexibilisierungsprozessen auf industrielle Produktionsstrukturen am Beispiel der Chemischen Industrie. Erdkunde 49, S. 176-96.
Coriat, B. (1990): L'Atelier et le robot : essay sur le fordisme et la production de masse à l'âge de l'électronique. Paris.
Peet, R. and Thrift, N. (eds.). (1989): New models in Geography. The political-economy perspective. London.
Schoenberger, E. (1989): New models of regional change. In: R. Peet and N. Thrift (eds.): New models in Geography. The political-economy perspective. London, S. 115-41.
Storper, M. (1997): The Regional World. New York.
Storper, M. and Walker, R. (1989): The Capitalist Imperative. Territory, Technology, and Industrial Growth. NewYork.
Walker, R. (1989): A Requiem for Corporate Geography: New directions in industrial organization, the production of place and the uneven development. Geografisker Annaler 71B, S. 43-68
Autoren: Christian Zeller, Paul Messerli

Quelle: Geographische Zeitschrift, 91. Jahrgang, 2003, Heft 1, Seite 57-60