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Kategorie: Rezensionen

Eugen Wirth: Die orientalische Stadt im islamischen Vorderasien und Nordafrika. Städtische Bausubstanz und räumliche Ordnung, Wirtschaftsleben und soziale Organisation. Mainz 2001. Band I: XXIV, 584 S.; Band II: VIII, 248 S.

Wirth hat mit dieser, in kürzester Zeit bereits in zweiter Auflage erschienenen zweibändigen Monographie zur Orientalischen Stadt ein gewichtiges Werk vorgelegt: im physischen wie im inhaltlichen Sinne. Der erste Band ist mit über 600 Seiten und 248 Abbildungen als Textteil konzipiert. Der zweite, illustrierte Band umfaßt 112 farbige und 56 schwarz-weiß Tafeln, die Karten, Pläne, Planskizzen, Stahlstiche und Zeichnungen sowie ca. 60 Fotografien enthalten, wobei letztere größten Teils vom Autor selbst stammen und zwischen 1953 und 1999 aufgenommen wurden.

Nach jahrzehntelangen intensiven Forschungsarbeiten und ausgiebiger Publikationstätigkeit zu zahlreichen Städten in Nordafrika und in Vorderasien - besonders hervorzuheben sind etwa die Monographien zu Aleppo (Gaube/Wirth 1984) und zu Fes (Escher/Wirth 1992) - beabsichtigt Wirth mit diesem Spätwerk das "Einfahren der Ernte" (S. XIX). Grundlegende Zielsetzung des Buches ist es, zu untersuchen, ob es gemeinsame Merkmale der Städte Nordafrikas und Vorderasiens gibt, die nur hier zu finden sind und "damit auf eine unverwechselbare, charakteristische Identität" der orientalischen Stadt hindeuten (S. 515). Die Studie soll dabei "möglichst vielen Aspekten des ungemein faszinierenden Themas ‚Orientalische Stadt' gerecht" werden (S. XIX). Sie geht von der Annahme aus, daß "die Menschen in der islamischen Welt ihr Miteinander zwar in mancher Hinsicht anders regeln als wir im Abendland, daß diese anderen Grundregeln der sozialen Interaktion aber ebenso vernünftig, mindestens ebenso tolerant, ebenso ethisch fundiert und damit ebenso menschlich sind wie die unseren"(S. 3).
Zur Aufarbeitung dieser Fragestellung gliedert sich die Arbeit in zehn Kapitel und eine Einleitung. In der Einleitung erfolgt die wissenschaftliche Positionierung der Monographie. Dabei geht es um die Debatte zur Bedeutung von 'Abendland' und 'Morgenland', die handlungstheoretische Grundlegung der Analyseperspektive, das konzeptionelle Verständnis von Stadt sowie um die Klassifikation des Typs 'Orientalische Stadt'. Hiernach folgt das erste Kapitel zu den Ursprüngen und Wandlungen der orientalischen Stadt. Das zweite Kapitel thematisiert dann die städtischen Funktionen. Im dritten und mit Abstand umfangreichsten Kapitel beschäftigt sich der Autor auf über 100 Seiten mit der städtischen Wirtschaft. Das vierte Kapitel widmet sich den wichtigsten Gebäudetypen. Das anschließende fünfte Kapitel fokussiert auf 'Privatheit' als Dominante des städtischen Lebens im Orient. Kapitel sechs nimmt vor diesem Hintergrund die städtischen Wohnviertel genauer in den Blick und Kapitel sieben beschäftigt sich mit städtischen Räumen unter 'freiem Himmel'. Im achten Kapitel widmet sich der Autor der Stadtplanung und Stadtgestaltung, bevor im vorletzten Kapitel die regionalen Varianten der orientalischen Stadt besprochen werden. Abschließend folgt eine Zusammenfassung. Die Monographie zeichnet sich - soviel ist vorwegzunehmen - dadurch aus, daß sie die bisherigen Arbeiten des Autors systematisch zusammenführt, konsequent positioniert und die Vielfalt der Informationen zudem ungemein umfangreich dokumentiert. Das Werk ist eingängig geschrieben und hervorragend illustriert. Es bietet in bisher nicht existierender Form einen komprimierten Überblick über Lagepläne, Stadtgrundrisse und thematische Karten von Städten, die oft nur - wenn überhaupt - schwer zugänglich sind. Es ist eine reiche Fundgrube für jeden, der sich professionell mit Stadtentwicklungen in Nordafrika und Vorderasien auseinandersetzen will. Gleichzeitig zeigt sich der Autor immer wieder auch kritisch gegenüber Grundannahmen früherer Untersuchungen: Er problematisiert beispielsweise die Theorie des Rentenkapitalismus (S. 223 ff.) sowie die Benennung der Autorschaft im Kontext der Textpräsentation: das so genannte Ich-Tabu (XVIII). Wirth kommt dabei insbesondere der Verdienst zu, empirische Befunde zur Bausubstanz von Städten mit den Ergebnissen von Kartierungen, die vielfach aus eigener Arbeit vor Ort hervorgegangen sind, zu verknüpfen und einen besonderen Typ von Stadt - eben die 'Orientalische Stadt' - hieraus abzuleiten.
Das Werk ordnet sich damit ein in den Korpus der Arbeiten zur Stadt im islamischen Orient, die - wie Ehlers herausstellt (1993) - zu den bevorzugten Themen der deutschsprachigen geographischen Orientforschung der Nachkriegszeit zählt. Gleichzeitig wird durch das vorgelegte Kompendium auch ein bestimmtes Modell geographischer Stadtforschung fortgeschrieben; und zwar eines, das davon ausgeht, daß analog zu 'Kulturerdteilen' unterschiedliche Stadttypen (die orientalische, die lateinamerikanische Stadt, etc.) unterscheidbar seien (Hofmeister 1996, Heineberg 2001). Vor diesem Hintergrund sind zwei Fragen aufzuwerfen: (1) Wie und wo existiert die orientalische Stadt? Ist die orientalische Stadt wie hier grundlegender Gegenstand der Analyse - etwa in der Frage ausgedrückt: "Gibt es überhaupt so etwas wie einen orientalischen Typ von Stadt" (S. 7) - so schließt sich die Frage nach dem ontologischen Status der 'orientalischen Stadt' an: Existiert sie lediglich als Begriff (also als Teil eines Textes) oder in der alltäglichen Praxis (etwa als - historischer - Teil von Aleppo oder Kairo) oder ist sie als 'Idealtyp' (als analytisches Hilfsmittel) zu verstehen? Weber führt aus: "Je schärfer und eindeutiger konstruiert die Idealtypen sind: je weltfremder sie also, in diesem Sinne, sind, desto besser leisten sie ihren Dienst, terminologisch und klassifikatorisch sowohl wie heuristisch" (Weber [1921] 1972, S. 10). Wäre die 'orientalische Stadt' ein Idealtyp im Weberschen Sinne, würde sie allerdings kaum in der 'Realität' auftreten. Gerade Letzteres scheint jedoch möglich zu sein, wenn mit Wirth davon ausgegangen wird, daß es einen "kulturraumspezifischen Spezialtyp" (S. 7) bzw. den "Sondertyp der orientalischen Stadt" (S. 10) "gibt" und daß nach einer entsprechenden (empirischen) Einzelfallprüfung und einem anschließenden Vergleich der Merkmale mit denen anderer Städte ein "typisches Beispiel für eine orientalischislamische Stadt vorliegt" (S. 11). (2) Zeichnet sich die orientalische Stadt durch eine grundlegende Andersartigkeit aus? Mit der Übernahme des Konzepts der Kulturkreise (S. 11) erfährt der Kulturbegriff in der vorliegenden Monographie eine bestimmte inhaltliche Prägung: Kultur wird dadurch an territoriale Gegebenheiten - an ein räumlich eindeutig identifizierbares 'dort' bzw. 'hier' gekoppelt und bekommt damit eine eigene Essenz zugemessen. Entsprechend gäbe es dann 'den Orient' und 'den Okzident' nicht nur als Begriff, sondern auch in der Praxis, die der Begriff abbilden soll (vgl. Saids Kritik 1981 sowie Abu Lughod 1987, die die europäisch-orientalistische Wissenskonstruktion bei der Erstellung des Konzeptes der 'islamischen Stadt' problematisiert). Dieser Kulturbegriff findet seinen Ausdruck in der Monographie auch darin, daß so genannte "kulturspezifisch geprägte soziale Interaktionen" (S. 5), "kulturraumspezifische Charakteristika" (S. 193) oder eine "kulturraumspezifische Eigenart" (S. 195) als kleinste Analyseeinheiten verwendet werden, die nicht weiter hinterfragbar sind. Dies widerspricht der Absicht des Autors, gegen das grundsätzlich und unüberbrückbare 'Andere' der Menschen in islamischen Ländern anzuschreiben. Diese Überlegungen berühren die Vielfalt und Dichte der vorgelegten Informationen, die wissenschaftliche Disziplingrenzen immer wieder sinnvoll überschreiten, nur am Rande. Die 'Orientalische Stadt im islamischen Vorderasien und Nordafrika' ist als ein wichtiges Standardwerk der deutschsprachigen stadtgeographischen Forschung zu werten; sie wird für viele Jahre als zentraler Referenztext wirken. Diese auch visuell sehr ansprechende Monographie ist für ein breites Publikum geschrieben und nicht nur Wissenschaftlern und Experten, sondern allen an Stadtentwicklungsprozessen Interessierten nachdrücklich zur Lektüre und als vorzügliches Nachschlagewerk zu empfehlen.
Literatur
Abu Lughod, J. (1987): The Islamic City - Historical Myth, Islamic Essence and Contemporary Relevance, Journal of Middle East Studies 19, S. 155-176.
Ehlers, E (1993): Die Stadt des Islamischen Orients. Modell und Wirklichkeit, Geographische Rundschau 45 (1), S. 32-39.
Escher, A. und Wirth, E.(1992): Die Medina von Fes. Geografische Beiträge zu Persistenz und Dynamik, Verfall und Erneuerung einer traditionellen islamischen Stadt in handlungstheoretischer Sicht. - Erlanger Geografische Arbeiten 53, Erlangen.
Gaube, H. und Wirth, E.(1984): Aleppo. Historische und geographische Beiträge zur baulichen Gestaltung, zur sozialen Organisationen und zur wirtschaftlichen Dynamik einer vorderasiatischen Fernhandelsmetropole. - Beihefte zum TAVO, B. 58, 2 Bde., Wiesbaden.
Heineberg, H. (20012): Grundriß Allgemeine Geographie: Stadtgeographie. UTB 2166, Paderborn
Hofmeister, B. ([1980] 19963): Die Stadtstruktur. Ihre Ausprägung in den verschiedenen Kulturräumen der Erde, Darmstadt.
Said, E. (1981): Orientalismus, Frankfurt/Main.
Weber, Max ([1921] 19725): Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen.  
Autor: Jörg Gertel

Quelle: Geographische Zeitschrift, 91. Jahrgang, 2003, Heft 3 u. 4, Seite 243-245