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Kategorie: Rezensionen

Joachim Becker: Akkumulation, Regulation, Territorium: Zur kritischen Rekonstruktion der französischen Regulationstheorie. Marburg 2002. 326 S.

Die französische Regulationstheorie befaßt sich in der Tradition institutionalistischer und marxistischer Ansätze mit den institutionellen und strukturellen Bedingungen von Stabilität und Krisenhaftigkeit der Entwicklungspfade kapitalistischer Marktwirtschaften. Das Konzept der Regulation wird dabei in Abgrenzung zum abstrakten Gleichgewichtsbegriff der neoklassischen Wirtschaftstheorie verwendet, es richtet sich zugleich gegen marxistische Vorstellungen zur strukturell determinierten Reproduktionsfähigkeit des Kapitalismus. In diesem Sinne läßt sich der Begriff der Regulation mit Fragestellungen zu Selbstorganisation und Selbststeuerung in Beziehung setzen. Tatsächlich ist die in Frankreich von heterodoxen Ökonomen ausgearbeitete Regulationstheorie im deutschsprachigen Raum zunächst in soziologischen und politikwissenschaftlichen Zusammenhängen rezipiert worden, um dann Zugang zu benachbarten Disziplinen wie der Wirtschafts- und Sozialgeographie zu finden. In diesem Kontext bemüht sich Joachim Beckers Buch - programmatisch "Akkumulation, Regulation, Territorium" betitelt - speziell um die Aufarbeitung regulationstheoretischer Argumente zum Zusammenhang von Kapitalakkumulation, Staatlichkeit und räumlicher Dynamik. Staat und Raum werden als zentrale analytische Kategorien wahrgenommen, deren Interdependenzen im Sinne der Regulationstheorie zu erfassen sind.
Gegenstand von Beckers Untersuchung ist die französische Diskussion zur Regulationstheorie - eine Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes, die methodisch sinnvoll erschienen mag, dabei jedoch in thematischer Hinsicht maßgebliche Aspekte der internationalen Diskussion vernachlässigen muß. Damit geht eine Unterscheidung von zwei Hauptströmungen der französischen Regulationstheorie einher. Die Grenobler Schule um Destanne de Bernis ist in der Nachfolge von François Perroux am Konzept der Produktionssysteme orientiert und weist damit eine strukturalistische Fundierung auf. Dagegen ist die Pariser Schule sowohl mit ihrem werttheoretischen Strang um Michel Aglietta und Alain Lipietz, als auch mit ihrem preistheoretischen Strang um Robert Boyer stärker von der Marxschen Theorie inspiriert, was sich insbesondere anhand ihrer analytischen Betonung des Lohnverhältnisses nachvollziehen läßt. Um eine Rekonstruktion dieser Positionen vorzubereiten, greift Becker zunächst auf die Dogmengeschichte ökonomischer Theoriebildung zurück. Von Adam Smiths marktliberaler Theorie wirtschaftlicher Entwicklung und deren neomerkantilistischen Kritik bei Friedrich List ausgehend, werden die post-historistischen Kapitalismusanalysen Max Webers und Werner Sombarts dargestellt, was in eine Betrachtung der raum- und staatstheoretischen Perspektiven der Marxschen Theorie und ihrer diversen marxistischen Variationen überleitet. Diese dogmenhistorische Galerie bildet den Bezugspunkt für die nachfolgende Aufarbeitung unterschiedlicher Konzepte von Akkumulation und Regulation in den regulationstheoretischen Ansätzen. Für die Grenobler Schule ist die Konzeptionalisierung von Akkumulationsprozessen als Ausdruck von Kapitalkreisläufen eng mit dem Begriff des Produktionssystems verbunden, der im Sinne von kohärenten Arbeits- und Produktionsprozessen aufgefaßt wird. Da zur Definition der Produktionssysteme jeweils Kapital- und Warenflüsse heranzogen werden, stimmen sie räumlich nicht unbedingt mit nationalstaatlichen Begrenzungen überein. Wirtschaftlicher Raum und staatliches Territorium fallen dann regelmäßig auseinander. Die Pariser Schule bezieht sich dagegen in ihrer werttheoretischen Variante auf makroökonomische Zusammenhänge von Akkumulation und Konsum im Sinne eines Reproduktionsschemas, das mit vorkapitalistischen Sektoren und dem erweiterten ökonomischen Umfeld einer Gesellschaftsformation gekoppelt ist. Preistheoretische Positionen konkretisieren diese deduktiv hergeleiteten Zusammenhänge in empirischer Hinsicht, indem Regelmäßigkeiten von Produktions- und Verteilungsmustern behandelt werden. Hierbei ist es primär der Nationalstaat, der aufgrund seiner Rolle als institutionelles Terrain für die Vermittlung sozialer Kompromisse die räumliche Dimension der Akkumulationsdynamik abdeckt. Grundlage aller regulationstheoretischen Überlegungen ist dabei die These, daß die Stabilität solcher Akkumulationsregime von den strukturellen und institutionellen Formen der Regulation abhängt, was wiederum auf die prägende Rolle sozialer Beziehungen verweist. Zu diesen Formen der Regulation zählen neben Lohnverhältnis, Konkurrenzform und Geldsphäre auch die Staatsform sowie die internationale Positionierung.
Allerdings moniert Becker in diesem Zusammenhang ein staatstheoretisches Defizit bei der Analyse politischer Konfliktregulierung. Die im deutschsprachigen Raum kaum rezipierten staatstheoretischen Arbeiten Bruno Thérets werden daher als notwendige Ergänzung der Regulationstheorie gewertet. Thérets Ausarbeitung konfligierender Handlungslogiken in den Ordnungssystemen von Ökonomie und Politik verweist auf handlungstheoretische Argumente, die auch jüngere regulationstheoretische Arbeiten von Billaudot und Aglietta prägen, deren Bezüge zu Max Weber und Simmel einen theoriegeschichtlichen Rückgriff auf nichtmarxistische Positionen unterstreichen. Vor diesem Hintergrund soll Beckers analytischer Eigenbeitrag in einer Rekonzeptionalisierung der für die Regulation des modernen Kapitalismus charakteristischen sozialen Beziehungen bestehen. Becker führt hierbei den Foucault entlehnten Begriff des Regulationsdispositivs in die Diskussion ein, um die immanente Instabilität der Regulation zu erfassen. Warenform und Staatsförmigkeit stehen im Vordergrund seiner neo-gramscianischen Argumentation, die auf gesellschaftliche Konflikte und Kompromisse abstellt. Die strukturellen Formen der Regulation werden dann nicht mehr nur über Lohnverhältnis, Konkurrenzverhältnis und die Geldbeschränkung wirtschaftlicher Prozesse behandelt, sondern auch über deren ökologische Beschränkung. Diese Formen definieren das Feld gesellschaftlicher Konfliktlinien. Auf diesem Schema aufbauend untersucht Bekker den Zusammengang von ökonomischem Raum und politischer Territorialität in der Regulationstheorie, wobei Lefebrves Konzept von der sozialen Produktion des Raums als Ausgangspunkt dient. Für Perroux als Vordenker der Grenobler Schule bezeichnen wirtschaftliche Räume spezifische Verflechtungszusammenhänge, die durch Planungsstrategien wirtschaftlicher Akteure sowie durch machtbezogene Kräfteverhältnisse und die relative Homogenität ökonomischer Ensembles definiert sind. Diese Raumdimension von Produktionssystemen ist nicht an den Containercharakter politisch verfasster Territorien gebunden. Dabei wird von der Grenobler Schule die Rolle des Staates bei der Konstituierung wirtschaftlicher Räume über den Aspekt einer institutionellen Grenzziehung herausgearbeitet. Die Pariser Schule verfolgt diese institutionelle Argumentation noch deutlicher, indem sie ihren Raumbegriff über den Regulationsmodus entwikkelt, was mit einer konzeptionellen Orientierung am Nationalstaat einhergeht. Insbesondere in Lipietz' frühen Arbeiten werden Räume als Ausdruck sozialer Verhältnisse aufgefaßt. Das heißt, sie sie sind Teil eines aus sozialen Konflikten hervorgehenden Musters von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen, wie es sich etwa in der Regionalentwicklung manifestiert. Dabei ist die exponierte Rolle des Nationalstaats seiner Funktion als Terrain sozialer Konflikte und politisch vermittelter Kompromisse geschuldet, die sich in spezifisch nationalen Regulationsmodi und Akkumulationsregimen verdichten können. Becker moniert an diesem Punkt eine analytische Überbetonung der nationalstaatlichen Ebene. Demgegenüber fordert er eine Thematisierung der Verschränkung von staatlicher und räumlicher Ebene in jenen gesellschaftlichen Konflikten, aus denen sich die Regulation speist. In diesem Sinne schließt Becker mit programmatischen Thesen zur raum- und staatstheoretischen Weiterentwicklung der Regulationstheorie. Wie ist Beckers Buch zur Rekonstruktion der französischen Regulationstheorie im Fazit zu bewerten? Zunächst einmal bietet Becker eine hervorragende Literaturstudie zum Diskussionsstand innerhalb der französischen Regulationstheorie. Schon im Ansatz originell ist auch der systematische theoriegeschichtliche Bezug auf den Einfluß der deutschen historischen Schule, der in der gängigen regulationstheoretischen Literatur eher zurückhaltend behandelt wird (vgl. Boyer/Saillard 2002). Ebenso pointiert ist Beckers konzeptionelle Erweiterung des Theoriegefüges um den Begriff des Regulationsdispositivs, der auf die Offenheit von Konflikten sowie auf die Krisenanfälligkeit der Regulation verweisen soll. Somit vermittelt Becker neben der kritischen Theorierezeption auch eigene konstruktive Ansätze zur Weiterentwicklung des regulationstheoretischen Forschungsprogramms. Daß dabei manche Aspekte all zu fragmentarisch abgehandelt werden, verweist auf punktuelle Schwächen in Beckers Beitrag. So ist etwa die weitgehende Vernachlässigung der englischen Debatte problematisch, insbesondere der Arbeiten Bob Jessops zu Staat, Raum und Regulation. Dies mag einer selbstgewählten thematischen Einengung geschuldet sein, die aber zumindest in der Diskussion ausgiebige Bezüge zu Jessops strategisch-relationalem Ansatz zugelassen hätte (Jessop 2002). An diesem Punkt wären auch weitergehende Verweise auf die handlungstheoretische Orientierung einer relationalen Wirtschafts- und Sozialgeographie sinnvoll gewesen (Bathelt/Glückler 2003). Ebenso mangelt es an Bezügen zu neo-schumpeterianischen und evolutionsökonomischen Themen, wie sie tatsächlich auch im Rahmen der Sombart-Rezeption diskutiert werden (Ebner 2002.) Diese im internationalen Zusammenhang anhaltende Öffnung der regulationstheoretischen Diskussion wird von Becker vernachlässigt. Abschließend ist noch auf das formale Problem der mangelhaften editorischen Sorgfalt hinzuweisen, etwa wenn Lipietz' herausragender Beitrag "Le Capital et son espace" aus dem Jahre 1983 ausführlich diskutiert wird, aber dann nicht im Literaturverzeichnis erscheint. Von diesen inhaltlichen und formalen Kritikpunkten abgesehen, überzeugt Joachim Beckers Buch als stimulierender Beitrag zur raum- und staatstheoretischen Präzisierung der Regulationstheorie.
Literatur
Bathelt, H. und Glückler, J. (2003): Toward a Relational Economic Geography. Journal of Economic Geography 3 (2), S. 117-144.
Boyer, R. und Saillard, Y. (eds.) (2002): Régulation Theory: The State of the Art, London und New York: Routlegde.
Ebner, A. (2002): Nationalökonomie als Kapitalismustheorie: Sombarts Theorie kapitalistischer Entwicklung. A. Ebner und H. Peukert (Hg.): W. Sombart, Nationalökonomie als Kapitalismustheorie. Ausgewählte Schriften. Marburg: Metropolis, S. 7-23.
Jessop, B. (2002): The Future of the Capitalist State, Cambridge.  
Autor: Alexander Ebner

Quelle: Geographische Zeitschrift, 91. Jahrgang, 2003, Heft 3 u. 4, Seite 252-254