Anselm Franke and Ariella Azoulay (eds.): Territories: Islands, Camps and other States of Utopia. KW - Institute for Contemporary Art, Berlin June 1 - August 25, 2003. Köln 2003. 300 S.

Vom 6. Juni bis zum 25. August 2003 fand in Berlin die Ausstellung "Territories" am KW - Institute for Contemporary Art statt. Die Kuratoren hatten sie als Ausstellung über "Raum, Politik und Macht" konzipiert. Der Katalog ist ein Meilenstein kritischer Raumwissenschaft, voll von ungemein anregenden theoretischen Artikeln und praktischen Beispielen für die Organisation von Räumen und Orten als Teil der gegenwärtigen Weltentwicklung.

Das Hauptstück des Katalogs, der Beitrag der israelischen Architekten EYAL WEIZMAN und RAFI SEGAL über die "Civilian Occupation der Westbank durch die Israelis" (S. 63-151), ist in den Feuilletons der deutschen und internationalen Presse geradezu euphorisch kommentiert worden. Das ist nur allzu verständlich. An großformatigen Bildern und präzisen Karten und Plänen zeigen SEGAL und WEIZMAN die subtilen Raumstrategien israelischer Siedlungspolitik auf. EYAL WEIZMAN entschlüsselt sie als eine "Politik der Vertikalität" (Text auch in http://www.opendemocracy.net). Dabei belegt er die analytische Schärfe des Konzepts Vertikalität sehr überzeugend durch eine Analyse von Raumstrukturen im Untergrund ("Subterrain", Archäologie und Grundwasserreserven), an der Landoberfläche ("Terrain") und im Luftraum ("Air", Kontrolle palästinensischer Infrastrukturen). Theoretisch und empirisch ein Fort-Schritt, wie man ihn nicht alle Tage erlebt!
Im Jahr 2002 war diese fulminante Studie als Sieger aus einem Wettbewerb hervorgegangen, den die Israelische Association of United Architects (IAUA) ausgeschrieben hatte, um den offiziellen Beitrag Israels zum Internationalen Architektur-Kongress 2002 in Berlin zu finden. 5.000 Kataloge waren bereits gedruckt. Sie wurden eingelagert, nachdem die IAUA den Beitrag wenige Tage vor Kongressbeginn zurückgezogen hatte; er wäre "pro-politisch, antijüdisch und antizionistisch". Ein drastisches Beispiel für das gegenwärtig so aktuelle und spannungsreiche Thema "Staatsmacht und Wissenschaft"!
Der für die Ausstellung gefertigte, englischsprachige Katalog versammelt nun weitere kritische Beiträge zum Thema "Macht und Raum". Insgesamt haben mehr als 30 Gruppen und Einzelautoren Beiträge geliefert. Hervorgehoben sei der Text von DAVID CAMPBELL über die "Apartheid Cartography" in Bosnien (S. 213-229). Er enthält eine empirisch sehr reiche Analyse ethno-geographischer Karten (Konstruktionen) und ihrer Funktionalisierungen durch Politiker und schließt mit einer fundierten Kritik an solchen Praktiken. Mitglieder der Architekten- und Planergruppe "An Architektur" steuerten zur Ausstellung eine Analyse von "Extra-Territorial Spaces and Camps" bei (S. 23-29). Unter anderem interpretieren sie darin die räumliche Anordnung von Einrichtungen in der Bucht von Guantanamo (Kuba) als "Ergebnis einer Zeitreihe verschiedenartiger Raumlogiken". Sodann der Beitrag von STEFANO BOERI. Während die tonangebende Richtung der Globalisierungsforschung dazu neigt, die zunehmende Durchlässigkeit (fluidity) von Räumen und die ansteigende Zahl und Dichte von Verbindungen und Strömen (flows) aller Art, liefert BOERI in einem methodisch sehr anregenden Projekt (Schaubild auf S. 54-55!) eine differenzierte Analyse von aktuellen Praktiken und Instrumenten territorialer Grenzziehung. Auch andere Beiträge verweisen auf innovative Forschungsansätze der kritischen Raumforschung, z.B. das Programm Multiplicity. Durchweg werden dabei gängige Grenzen zwischen Sozialwissenschaft und Kunst(-wissenschaft) mutig durchlöchert (z.B. durch den "Stalker" mit dem Projekt "Actual Landscapes", das sich den unbemerkten, unstrukturierten Orten an städtischen Peripherien widmet).
Man scheut als Rezensent solche Floskeln, aber dieser bahnbrechende Band gehört wirklich in die Hände, seine reichhaltigen Inhalte in die Köpfe und Herzen jedes Geographen, der Forschungsfronten kritischer interdisziplinärer Raum-, Regional- und Ortsforschung im Mikro- und Mesomaßstab kennen lernen will. Diese Empfehlung ist um so dringlicher, als es sich bei diesem Band wieder einmal um "Geographien (fast) ohne Geographen" handelt. Mehrfach sprechen die Autoren von einem "spatial turn" in Politik und Forschung; ihn darf das Fach Geographie keinesfalls verpassen. Sofort sollte jede(r) Institutsbibliothekar(in) einen Katalog bestellen; er dürfte schnell zu einer gesuchten Rarität werden. Und für dreißig Euro wird es so bald nicht wieder so viele Anregungen für gute Raumwissenschaft geben.
Autor: Heiner Dürr

Quelle: Erdkunde, 57. Jahrgang, 2003, Heft 4, S. 342-343