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Kategorie: Rezensionen

 "Aber, Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt."

"Gemäss der Natur" wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht - wie könntet ihr gemäss dieser Indifferenz leben? Leben - ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ "gemäss der Natur leben", bedeute im Grunde so viel als "gemäss dem Leben leben" - wie könntet ihr's denn nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein müsst? - In Wahrheit steht es ganz anders: indem ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und Selbst-Betrüger! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, dass sie "der Stoa gemäss" Natur sei und möchtet alles Dasein nur nach eurem eignen Bilde dasein machen - als eine ungeheure ewige Verherrlichung und Verallgemeinerung des Stoicismus. ..." (F.N.: Jenseits von Gut und Böse, 9. Aphorismus; Herv. i. O.).

Der Perspektivismus allen menschlichen Erkennens (und die Fragmentiertheit allen Handelns) ist von niemandem so gut zu lernen wie von Friedrich Nietzsche. Selbstredend gilt dieser seiner eigenen Person, seinem eigenen Werk ebenso wie der Person des Rezensenten und seiner Besprechung. Die Einsicht in den durchgehend geltenden Perspektivismus durchzieht wie ein wissender roter Faden, kurviger und linearer, aus- und aufgerollter die Ringvorlesung des Wintersemesters 1999/2000 an der Humboldt-Universität. Deren gedrucktes Ergebnis stellt das hier angezeigte Buch dar: Ute Luig und Hans-Dietrich Schultz (Hg.) 2002: Natur in der Moderne. Interdisziplinäre Ansichten (Berliner Geographische Arbeiten 93) Berlin. Dessen Qualität in all seinen Beiträgen besteht nicht zuletzt darin, dass keine Autorin und kein Autor in Gefahr ist, der von Nietzsche pointierten herrschaftsbewussten Naivität der Stoiker zu frönen. Dieses bewusst unbewusste Missverständnis ist nach wie vor weit verbreitet, seit vor ca. einer Generation die "ökologische Frage" oder das "Umwelt-Problem" in all seinen seither schraffierten katastrophischen Facetten breit 'entdeckt' worden ist. Wer rhetorisch schwer beschuht mit ganzer Sohle auf dem auftritt, was "Menschheitsfragen" genannt wird, dessen Wort wird man sich, ähnlich der allumfassenden "Klimakatastrophe", schwer entziehen können. In solchem existentialistischen Zusammenhang des Kollektiv- und Dauersubjekts "Menschheit", das au fond selbstverschuldet gefährdet ist, tritt selbstredend das all umfassende Subjekt "Natur" auf. Dieses sagt dann, was den Menschen, ihrer Politik, ihrer Ökonomie und ihrem individuellen Verhalten not tut.
Nicht so die durchgehend kompetenten Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes ohne vereinheitlichende Komposition, ohne weiter treibende, zusammensehende, wenn nicht synthetisierende Summe. Darum eben nur "interdisziplinäre Ansichten"! Indes mit dem alle Aufsätze durchatmenden Geist reflexiven Vorbehalts, perspektivischen Konstruktivismus. Dieser macht alle Substanzbegriffe und alle projizierten Großsubjekte vermeiden.
Schon darum ist dieser von Ethnologinnen, Historikern, Geographen und Literaturwissenschaftlerinnen bestrittene Band, dessen Interdisziplinarität also keine allzu riesige Spanne umfasst, zur Lektüre sehr empfehlenswert. Man könnte, wenn man sich nach 13 anregenden intellektuellen Sektfrühstücken dem also wohl vorbereiteten Mittagessen eines Themas und eines verallgemeinerbaren Exempels zukehren möchte, eher einwenden, es wehe zuweilen zu viel postmoderner Odem, nachdem mit guten Gründen alle Arten von mehr oder minder sublimiertem "Blubo" (= "Blut und Boden"), vornazistisch und nachnazistisch variantenreich allzu reichlich vorhanden, aufgelöst oder, modisch gesprochen, dekonstruiert worden sind.
Weil alle Aufsätze, in verschiedenem Maße und mit - je nach Perspektive - verschiedenem Gewinn lesenswert sind, will ich diese Rezension in drei knappen Takten schlagen. Zunächst will ich alle Aufsätze mit wenigen Schlagsätzen ohne kritische Absicht vorstellen. Damit die Lesenden wissen, was sie an diesem Band haben, sie kauften oder läsen ihn denn. Im zweiten Takt will ich auf durchgehende Vorzüge dieses Aufsätzestraußes aufmerksam machen. Hierbei verfahre ich nicht nur, wie sich versteht, ausgesprochen wählerisch, indem ich viele Aufsätze zu Unrecht nicht weiter erwähne. Ich pointiere Merkmale, die meinem "politikwissenschaftlichen" Verstand am meisten auffielen, so wenig ich mich auf denselben, beschränkt wie er ist, meinerseits beschränken mag. Indes, wahrscheinlich kommt sich auch noch der bornierteste von uns in seinem Selbstbewusstsein wie ein wenigstens fernes Echo des Leibniz'schen Universalgenies vor. Im dritten Part will ich Einiges von dem anmerken, was mir in diesem Band fehlt. Nicht um den mir meist nur nominell bekannten Kolleginnen und Kollegen am Zeug zu flicken. Ein Aufsatz ist ein Aufsatz ist ein Aufsatz und ebenso eine Aufsatzsammlung. Sie ist kein ohnehin in der Prätention törichtes "umfassendes Buch" zum Thema "Natur in der Moderne". Das ist nämlich so gut wie alles, was wir, wie fallexpansiv auch immer, unter Moderne oder Modernen deklinieren. Wohl aber gibt es im Sammelband Lücken, auch Lücken in der sonst trefflichen Reflexion, die mir nicht untypisch erscheinen. Wenn Sammelbandbeiträgerinnen, ich selbst und andere denn lernen wollten, könnten wir vielleicht, gemeinsam und getrennt, manche Lücke ausbessern, füllen, vermeiden.
13 Aufsätze
Ute Luig leitet ein. Weil kein universaler Naturbegriff möglich ist, sei es, wie schon des öfteren vorgeschlagen, angemessen, wenn auch im Deutschen sprachlich nicht vorgegeben, "den Kollektivsingular Natur durch die Pluralform zu ersetzen". Außerdem sei es geboten, darauf machen nicht zuletzt "ethnologische Relativierungen" aufmerksam, unbeschadet aller Analogie zwischen Natur- und Moderne-Begriffen die jeweilige historische Spezifik möglichst feinnetzig zu fassen. Die bekannte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gilt in Richtung Vor- wie in Richtung Postmoderne. Es gibt nur verschiedene Schichttorten.
Gerd Hoppe ortet im riesenhaften Zusammenhang unter der Überschrift "An den Rand gedrängt?" "(d)ie wechselhafte Rolle des Menschen im astronomischen Weltbild der Moderne". Aristoteles und vor allem Kepler werden zu Schlüsselfiguren mit Schlüsselkonzeptionen. Die Stellung des Menschen ist relativiert worden, nicht schlechterdings beseitigt. Die Säkularisierung ist mit starken Grenzen versehen. "So gesehen ist nicht die Welt an sich säkularisiert. Vielmehr haben sich Astronomie und Physik auf eine säkulare, entzauberte Insel zurückgezogen, mit der Forderung, dort allein zu regieren." Der Giordano Bruno- und Galileo-Streit scheint endgültig behoben: "Da wir nun wissen, wie sehr unser Blick auf das Universum durch unsere Existenz etwas Besonderes hat, werden wir die Sonderstellung im Weltall, in unserer Welt, nicht mehr verlieren können. Die Frage nach der Rolle Gottes ist zur persönlichen Frage geworden, aber es ist möglich geblieben, sie zu stellen" - so lauten die Schlusssätze.
Reimer Hansen vertritt die schon im Titel seines Beitrags steckende These einer geradezu restlosen "Historisierung der Natur und der Naturwissenschaften" (der Titel ist anfänglich noch mit dem bestimmten Artikel "Die" ausgestattet). Aus der restlosen Historisierung, die breit gebildet wie ein Geschichte, Dimensionen der Wirklichkeit und der Fächer durchdringendes thema con variatione vorgetragen wird - und wie alle anderen Beiträge gleicherweise mit einer weiterführenden Literaturliste versehen ist -, wird eine weitere These heraus entwickelt: nämlich dass eine Einheit der Wissenschaften und ihrer Wirklichkeiten vorhanden sei - im Unterschied zu vielen Annahmen seit C.P. Snow und seinen Beobachtungen zur schwer-, wenn nicht unüberbrückbaren Spaltung in Wissenschafts- und Wirklichkeitskulturen.
Kurt Jax schlägt zum ersten Mal explizit das schon von Ute Luig einleitend berührte Thema problematischer, ja erweisbarermaßen falscher normativer Naturbegriffe an, die kuckucksgleich ihre Werteier, als seien sie neutral, in fremde Nester legen. "Misstönende Harmonien: Naturvorstellungen und Theorieentwicklung in der Ökologie und ihre Folgen für den Naturschutz" lautet konsequent der Titel seines Beitrages. Der Naturschutz und seine Ideologeme samt ihrer politisch nazistisch verhängnisvollen Funktionalisierungen werden an späterer Stelle von Götz Frömming und Georg Menting/Gerhard Hard noch zwei Mal explizit aufgegriffen. Der Naturschutz kehrt als ambivalent changierende Farbe auch in anderen Beiträgen etwa zur Entwicklungspolitik (Shalini Randeria) und zum ökologisch einseitig rettendzerstörenden Tourismus (Ute Luigs Schlussbeitrag) wieder. "Das Kernproblem bleibt jedoch das Gleiche", so Jax gegen Ende seines Beitrags. "Die Bestimmung dessen, was im Naturschutz erhalten werden soll, unter welchen Umständen welche Objekte geschützt werden sollen, ist von der wissenschaftlichen Ökologie nicht zu beantworten, obwohl dies immer wieder gefordert und propagiert wird." "Die Festlegung der Ziele ist eine gesellschaftliche Aufgabe."
Gerhard Hards "Die 'Natur' der Geographen" führt ins Herz der Geographie als Wissenschaft, insbesondere der Geographie als "deutscher Wissenschaft". Konträr zu Hansen, allerdings in einem bestenfalls impliziten, keinem ausdrücklich geführten Dialog, beobachtet Hard wissenschafts- und wirklichkeitsgeschichtlich zwei nicht mit einander kommunikable Wissenschaftssprachen im gleichen Fach, zwei Fächer also in einem. Diese zwei Sprachen, die eine, die der "Illusion" anhängt, "es sei unproblematisch, sozial- und kulturwissenschaftlich über Naturphänomene zu sprechen", die andere, der "jedes Interesse" "am Naturbegriff" abgeht, für die entsprechend die "heutigen Naturwissenschaften" zuständig sind, haben die Geographie in Form der "klassischen Geographie" mit Herder'schem Ursprung und Carl Ritter'scher Dominanz und in Form naturwissenschaftlicher Geographieprägung in zwei weithin konsekutiven Paradigmata angeleitet. Freilich gilt auch, schon im allgemeinen Sprachgebrauch und geographischen Verständnis, die Gleichzeitigkeit beider Paradigmata. Demgemäß stellt Hard fest: "Der Riß, der durch das ganze moderne Wissenschaftssystem hindurchgeht, geht nun auch durch die Geographie." Mit Bachelard spricht er an anderer Stelle von einer "rupture épistémologique". Am schimmernden und schummrigen Begriffsbild "der Landschaft" macht er schließlich einsichtig, warum außerhalb und überschwappend innerhalb der Geographie als Wissenschaft der weite, kulturell ausufernde Naturbegriff den engen, nahezu gänzlich enteigneten Naturbegriff - Unbegriffe im begrifflich präziseren Sinne beide - immer erneut an den Rand drängt.
Hans-Dietrich Schultz hat schon im Umfang mit über 50 Seiten einen im Material zuweilen fast überquellenden Kernbeitrag des Bandes geleistet. Sein von Volz (1925) geborgter Titel korrespondiert auffällig mit dem seinerzeit fast gleichzeitig publizierten Romantitel Hans Grimms, der dann in der nationalsozialistischen "Großraumpolitik" massenmörderische Karriere machte: "Volk ohne Raum". Im Untertitel von Schultz' Beitrag wird das Politikum im Zitat entsprechend deutlich: "Nationalstaatsbildung und industrielle Moderne in der deutschsprachigen Geographie." Natur, Klima, geographische Vorfindlichkeiten werden wie bekannte kausale Größen behandelt, die die habituelle Prägung sozialer Kollektive "natürlich" erklären lassen. Ein- und Ausgrenzungen werden naturwüchsig gewalttätig. Entsprechend liegt, Schultz zufolge, dem "Paradigma der klassischen Geographie" die Annahme einer "Wahlverwandtschaft von Land und Volk" zugrunde. Proben solcher Annahmen zur Wahlverwandtschaft, zum naturgegebenen Nationalcharakter, zur "Volks- und Völkerkunde" werden von Geographen und Nichtgeographen reich, quer durch das 19. und 20. Jahrhundert bis in unsere Tage versammelt. Da bleibt dann kein Natur, Gesellschaft und Politik ersehendes Auge mehr ideologisch trocken. Nur eine Illustration. "Ein anderer Autor stellte (am Beispiel Böhmens) klar: 'So sehen wir die anthropogeographische Forderung kühn hervortreten: auf Einheitsboden wird geschichtliche Einheitsmacht' (Herneck 1904/1995)." Dem dauernden Ebenenwechsel von Normen zu Beobachtungen, von Annahmen zu Aussagen, von historischen Gegebenheiten zu Naturannahmen und so weiter und so fort sind dokumentenkundig keine Grenzen gesetzt. Schultz präsentiert seine engzeilig ausgezogenen Quellen nicht einseitig. Er zitiert auch gewichtige Gegenstimmen. So beispielsweise die klugen Bemerkungen des Soziologen (und Max-Weber-Freundes) Robert Michels, der 1913 konstatiert: "Natürliche Grenzen stehen also, wenn wir von anomalen Verhältnissen absehen, in unauflösbarem Widerspruch zu dem Nationalitätenprinzip". Schultz resümiert in seinen "Schlussbemerkungen" einleuchtend: "Die Erdoberfläche mit ihren Flüssen, Bergen, Ebenen, Küstenlinien etc. fungierte lediglich als räumliche Sinndeponie für soziale Prozesse."
Ute Degner gibt in ihrem eher knappen Beitrag "Literarische Natur: Vom Text der Natur zur Natur des Textes" an den Exempeln Joseph von Eichendorff, Hugo von Hofmannstahl und Robert Walser literaturtheoretisch ambitionierte Hinweise darauf, dass moderne Literatur, grob Literatur nach 1800, nicht in der "Negation des althergebrachten Naturbegriffs" aufgehe. "Vielmehr", so fasst sie ihre Ausführungen zusammen, "bedienen sich die Poetiken ganz nach Gutdünken in je verschiedenen Weisen der pluralistisch gewordenen Natur." "Die moderne Entdeckung der natürlichen Kontingenz der Welt gestattet es dem künstlerischen Bewusstsein, in die Differenz von Natur und Kunst gemeinsame Merkmale einzutragen."
Urte Undine Frömming zeigt am Exempel der "Naturaneignung auf Flores (Indonesien)" unter dem Haupttitel "Vulkane und Gesellschaften", wie borniert westliche Modernitätsenthusiasten anzuschauen und zu begreifen tendieren. Schon ihr treffliches, von Empedokles geborgtes Motto, dem Friedrich Hölderlin ein in der Sache Natur und Moderne einschlägiges herrlich utopisches Fragment gebliebenes Stück in drei Varianten gewidmet hat, mahnt allzu rasche Grenzzieher zur Vorsicht. "Natur ist in keinem der Dinge, sondern Mischung allein und Trennung allein des Gemischten gibt es; den Namen der Natur für dieses erfanden die Menschen." Wie Natur im Plural zu fassen ist, so lautet die 'Moral' ihrer indonesischen, mit einem theoretischen Überhang begonnenen 'Geschichte', so auch Moderne. "Was innerhalb des philosophischen Diskurses der Moderne verklärt als das Andere der Vernunft oder als 'Zauber', oder aber als 'vormodern' tituliert wird, zeigt sich bei empirischer Untersuchung in nicht-westlichen Gesellschaften nicht nur als hochkarätiger Logos, sondern auch als komplexes soziales Wesen und Ordnungssystem." Logoi also, nicht logos.
Almut Weiler setzt die ethnologischen Inkurse anders mit Gewinn fort. Sie zeigt wie beim "Naturverständnis nomadischer Viehzüchter in der Mongolei: alte Traditionen mit neuen Werten" sich verbinden oder doch verbinden könnten ( Der Titel hebt mit "Zum" an und endet mit einem Fragezeichen). Das 'Schicksal' der jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendealten nomadischen Viehzüchterei in der Mongolei wird neuerdings durch zwei sich ablösende revolutionierende Wellen enteignend bestimmt. Seit 1924 von der "Kollektivierung der Landwirtschaft" und seit 1989 von der dieser nur teilweise konträren "Privatisierung". Mongolische Viehzüchter werden zitiert, die den Anschein erwecken, als könnten sie allgemein "Tradition" und "Innovation" produktiv selbst bestimmen. Den eher optimistischen Ausblick der lokal ungleich kenntnisreicheren Autorin mag der Rezensent nicht zu teilen.
Von Exkursen "weit hinten" in der Mongolei und in Indonesien springt man im aufregenden Wechselbad Moderne/Vormoderne/Postmoderne mit Götz Frömming wieder in die offenkundig mehrschneidige und alles andere als eindeutige Moderne (diese Bemerkung gilt nicht nur für das Deutschland vor 1945 und seinem "langen Weg nach Westen"; sie gilt auch für "den" "zivilisierten" Westen" hic et nunc allgemein). Geht oder ging der Weg notwendig "Vom Heimatschutz zum Rassenwahn?", so fragt Frömming in seinem Beitrag "Zur Entstehung der bürgerlichen Naturschutzbewegung". Protagonisten dieser "Bewegung" bis hinein ins "Dritte Reich" werden vorgestellt. Dass dasselbe dann für die gläubigen "Blubo"-Vertreter in einer einzigen Enttäuschung endete, hätte sich schon vorweg verstehen können, wenn die Augen nicht durch die "zweite Natur" herrschaftsgläubig verklebt gewesen wären: "... zeigte sich schon lange vor Kriegsbeginn die im Konfliktfall 'bedingungslose Unterordnung' des Naturschutzes unter die Wirtschafts- und Aufrüstungsinteressen des nationalsozialistischen Staates." Eine von Himmlers berüchtigten Äußerungen besitzt, wenn man ihren zweiten und dritten Anschein wahrnimmt, mehr als nationalsozialistische Bedeutung: "Ich bitte dafür zu sorgen", so Himmler 1937, "dass auf allen Grundstücken, die der SS und Polizei gehören - Unterkünfte, Konzentrationslager und sonstige Grundstücke - (...) überall an den Bäumen und Sträuchern zahllose Nistgelegenheiten für Singvögel angebracht werden und dafür gesorgt wird, dass die Vögel ungestört von Katzen und Menschen hier unterkommen können. Ich wünsche, dass die SS und Polizei auch auf diesem Gebiet in der Liebe zur Natur ein Beispiel gibt."
Georg Menting und Gerhard Hard setzen Frömmings Beitrag anders fort: "Trauer um Dodo", einen großen, fetten, nicht flugfähigen Vogel, den es bis zum 17. Jahrhundert auf Mauritius gegeben hat, lautet der Titel. Am Dodo als Symbol wird "Eine frühbarocke Tragödie als modernes Naturschutzsymbol" aufgeführt. Eine der ausblickenden Bemerkungen angesichts des symbolisch übermäßig befiederten Dodo und seines darob bis in die Gegenwart gleitenden Flugs leuchtet, fast unmittelbar, ein: "Der Soziologe Luhmann hat den offenbar mental verankerten Mangel an Reflexion sogar als charakteristisches Merkmal der ökologischen Literatur, der grünen Bewegungen und grünen Professionen hervorgehoben und Zweifel daran geäußert, ob 'die Sorge um die Umwelt die Sorglosigkeit der Rede darüber rechtfertigen könne'".
Shalini Randeria. Bei ihr werden wir in ganz andere Zusammenhänge verrückt. Und bleiben doch beim Thema: der Sorge und der Sorglosigkeit, die sich nicht wechselseitig aufheben. "Globalisierung, rechtlicher Pluralismus und umweltbezogene Gerechtigkeit: Weltbank, NROs und Staat in Gujarat (West-Indien)" lautet der Titel. Er macht darauf aufmerksam, dass es hier um globale Probleme und Akteure geht, Probleme, die lokal aufgenötigt, umgesetzt und erfahren werden. Lokale Akteure oder lokal orientierte Akteure à la NGOs treten globalisierungskritisch auf und suchen lokal-regionale Zusammenhänge eigenbestimmt zu schützen. Alle Konflikte, alles Handeln findet inmitten verschieden verstandener und verfolgter "umweltbezogener Gerechtigkeit" statt. "Gerechtigkeiten" im Plural also auch hier. Rechtliche Regelungen und Instrumente nehmen hierbei qualitativ verschiedene Formen und Wirkungen an. Freilich: die globalen Interessen dominieren. Nationales und internationales Recht erscheinen durchgehend, selbst wenn es sich lokal erfolgreich benutzen lässt, zweischneidig. Als Exempel dienen pastorale Gemeinschaften in Gujarat, deren eigene, selbstbestimmte 'Modernisierung' durch ganz anders interessierte 'Modernitäten' überlagert und marginalisiert wird. Ute Luigs Beitrag "Die Victoriafälle: Touristische Eroberung, Vermarktung und Inszenierung von Natur" schließt den Band ab. Auch in diesem balgen sich die Ambivalenzen. "In dieser Hinsicht hat sich in ihnen (den Victoria-Fällen, WDN) ebenso eine Sozialgeschichte des Tourismus wie eine Geschichte kolonialer Appropriation von Natur eingeschrieben, die das Aufeinandertreffen afrikanischer und europäischer Wertvorstellungen und Machtkonstellationen ebenso widerspiegelt wie die ihnen zugrunde liegenden Transformationsprozesse." Eine schier unendliche, letztlich freilich dann doch entfremdend ausbeuterisch eindeutige Geschichte. "Der gegenwärtige Tourismus in den Victoria Falls unterscheidet sich in fundamentaler Weise vom Luxus-Tourismus vergangener Jahrzehnte: er wurde durch die Transformation zum Massentourismus demokratisiert und durch eine veränderte Haltung gegenüber den Tieren und der Natur 'zivilisiert'. Der Schutz der Natur, in der Einrichtung der Nationalparks versinnbildlicht, hat zumindest ideologisch Vorrang vor ihrer Zerstörung. Die Voraussetzungen für diese grundlegende Transformation lagen indes nicht nur in der Entwicklung der kolonialen Gesellschaften, die der autochthonen Bevölkerung ihr Verständnis von Natur durch strukturelle Gewalt aufzwangen, sondern basierten auch auf parallel laufenden Entwicklungen in Europa."
Diverse Perlen mit manchen Kettengliedern
Einem aus einer Ringvorlesung 'gewachsenen' Sammelband ist nicht vorzuwerfen, dass ihm eine orchestrale Komposition und Direktion fehlt. Darum täuscht der Untertitel. Es handelt sich nicht um "interdisziplinäre Ansichten". Vielmehr haben sich verschiedene, kompetente und gegenwärtig aufgeklärte Fachvertreterinnen und Fachvertreter, deren Gebiete nicht allzu sehr auseinander verstreut liegen, zusammengetan und eine lose Kette von Vorlesungen von ihrem Ansatz aus zum Hauptthema vorgelegt. Das macht die (begrenzte) Buntheit, das macht auch das verbleibende Missbehagen am mäßig verwirrenden Blumenduft des Straußes aus.
Dennoch lassen sich, wenn schon keine kelternde Zusammenfassung, so doch einige Kettenglieder entdecken. Sie geben der Aufsatzreihe, wenn man sie in einem Zug durchliest, einen eigenen Reiz.
Davon, dass alle Beiträgerinnen und Beiträger Substanzbegriffe à la "die" "Natur" und "die" "Moderne" vermeiden und sich des jeweils perspektivischen Konstruktivismus der damit bezeichneten Phänomene bewusst sind, war schon die Rede. In diesem Sinne haben sie Nietzsches Stoa alle den Rücken zugekehrt. Dort, wo es um die eigenen Bezüge und Bauelemente der Konstruktion geht, verfahren die im Band "Natur in der Moderne" Versammelten freilich zu wortkarg. Allerdings ist einzuräumen, dass Aufsätze ihre quantitativen und gerade hierin ihre qualitativen Grenzen haben. Mehr ist zu bedauern, dass nirgendwo die in und zwischen den Beiträgen erkenntlichen Spannungen aufgegriffen werden. Wäre, wie R. Hansen anzunehmen scheint, die Einheit der Wissenschaften noch prinzipiell gegeben, dann wären die Folgerungen auch in Sachen Natur und Moderne nicht zuletzt in ihrer begrifflichen Fassung erheblich. Wenn diese Einheit jedoch, Hard und anderen zufolge, selbst im Fach der Geographie mitnichten gegeben ist, dann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der diversen Wirklichkeits-, in diesem Falle der diversen Naturkonstruktionen. Welche der Konstruktionen dominiert, warum, welche Interessen sind im Spiel, welche Folgen zeitigt die nachbegriffliche Dominanz der "Natur"-Wissenschaften? Schade, dass Hard diesen Problemfaden liegen gelassen hat. Indes: er wird nirgendwo, selbst nicht in Schultz' materialreichem Artikel herausgeholt. Dort hätte die merkwürdige "Naturtiefe" der singularen "Volkstiefe" gut an die herrschaftsflache Oberfläche befördert werden können. Dementsprechend ist in etlichen Beiträgen von Macht und von Herrschaft die Rede. Letzterer haben sich gerade diejenigen, intellektuell nicht zu entschuldigen, unterworfen, die all ihre Gesellschaftsvorstellungen wie unvermittelt aus der Natur entnommen haben. Nur: diese Macht- und Herrschaftsspuren bleiben in den Beiträgen zu punktuell. Sie werden nicht aufgenommen. Das, was Moderne ist, ihr durchgehender Herrschaftscharakter, die Vernichtung innerhalb dessen, was da Zivilisation heißt - das und anderes bleiben wohlgefällig dunkel. In diesem Sinne eckt der Band mit all seinen klugen Beiträgen insgesamt zu wenig an.
Fehlfarben
Eine alter, guter Rat an diejenigen, die Rezensionen verfertigen, besteht im Postulat, man solle sich auf das konzentrieren, was ein Buch will und tut und nicht auf das, was fehlt. Bekanntlich kann keine Abhandlung, zumal keine Ringvorlesung in ihrem Semester- und Vortragstakt ein Thema einigermaßen ausholen. Ich will also nicht unvermeidliche, wenngleich schmerzliche Lücken markieren, die auffallen müssen, wenn man das Thema ernst nimmt. Dass der Streit unter den "Naturbegriffen", gerade dort, wo nur naturwissenschaftlich-technologisch-kapitalistisch verfahren wird - und die Anstrengung des Begriffs gar nicht mehr versucht wird -, nicht weiter aufgegriffen und fortgeführt worden ist. Dass die heute weltweit dominierende Geopolitik und Geoökonomie nicht weiter traktiert worden sind. Dass "harte" 'natürliche' Gegebenheiten wie die Ressourcenverteilung in der Welt nicht einmal erwähnt worden sind. Wie viel riecht in globaler Herrschaftskonkurrenz, die immer zugleich eine des Wohlstands, eine um Reichtum ist, nach Öl, nach anderen gesellschaftlich vorgegebenen natürlichen Vorkommen und mehr und mehr nach Wasser?! Da reichen postmoderne begriffliche Konstruktions- und Dekonstruktionskünste nicht mehr aus. Allein eine Schwierigkeit will ich hervorheben, die all wir modernen Pfarrerstöchter und -söhne des Perspektivismus, des Konstruktivismus und seiner Schwester, des Dekonstruktivismus bedacht unbedacht umschleichen. Nicht nur bleibt erkenntnistheoretisch-methodologisch die dauernde Frage zu stellen, von welcher wie immer prekären "Basis" wir selbst ausgehen, wenn wir "Wirklichkeit" und sei es mit noch so viel Anführungszeichen, und sei es nur hinsichtlich der Fehlmeinungen anderer, bauen oder auf ihr Interessengeflecht hin zertrümmern. Kommen wir ganz ohne "Natur" aus? Sumus, ergo cogitamus. Sie bildet doch wohl nach wie vor selbst im Zeitalter hybriden Klonens die Bedingung der Möglichkeit all unser Kunst. Es sei denn, wir hätten Tod und alle materiellen Abhängigkeiten ausgeschaltet. Kurzum: welche materiellen Bedingungen in einem weiteren Sinne, indes angefangen von der "oseo-muskulären Ausstattung des Menschen", von der Andre Léroi Gourhan in seinem aufregend bleibenden Buch spricht, ist, wie immer sie im einzelnen gesellschaftlich zu fassen sind, als gesellschaftlich anverwandelter Kern, als "Natur" in der Gesellschaft notwendig? Und wie unterscheiden sich die gesellschaftlichen "Naturklassen" und die Gesellschaften in ihren nie restlos trennbaren Mischungsgraden. "Es bleibt ein Erdenrest zu tragen peinlich und wär' er von Asbest, er ist nicht reinlich." Dieser Frage folgt die nächste auf dem Fuß. Viele Beiträge dieses Bandes zeigen, wohlbegründet, dass alle natürlichen Umständen, gar "der Natur" zugeschriebenen kausalen Wirklungen nicht anderes als interessierte Projektionen darstellen. Heißt das aber, dass natürliche Vorfindlichkeiten à la Klima und dergleichen mehr beliebig 'gehandelt' werden könnten? Stellen ökologische Faktoren im weiten Sinne nicht immer erneut wichtige Bedingungen unterschiedlichen menschlichen Lebens dar, die zusammen mit anderen Bedingungen ernst genommen werden müssen, ohne dass man ihren genauen kausalen Effekt ausmachen könnte? Letzteres geht jedenfalls in den Sozial- und Geisteswissenschaften in aller Regel durchgehend nicht. Langum: die erkenntnistheoretischen, die methodologischen, die begrifflichen und die praktischen Verlegenheiten (Aporien), in denen wir alle mitten drin stecken, analytisch wie praktisch, werden mir zu wenig kund getan. Geschähe dies, würden auch eher Wege gefunden werden können, mehrere Naturen und mehrere Gesellschaftsformen nebeneinander existieren zu lassen. "Die (als kapitalistische nicht thematisierte) Moderne" heute vernichtet täglich nicht nur Pflanzen- und Tierarten. Sie droht vielmehr die Lebensbedingungen anderer "Menschentypen" (Max Weber) als die des homo globalis flexibilis in zunehmendem Tempo unmöglich zu machen. Das Thema "Natur in der Moderne" bleibt demgemäß aufregend, erregend, als das politische Thema auf der Tagesordnung. Der kritische Ansatz des Bandes verharrt darum einseitig und zu sehr vergangenheitsgewendet.
Das Titel-Zitat dieser Besprechung gibt eine Äußerung Woyzecks wieder. Recht verstanden zeigt sie die ganze Komplexität des Banalen. Der Doktor erwidert Woyzeck darauf seinerzeit naturwissenschaftlich gewiss: "Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab ich nicht nachgewiesen, dass der Musculus constrictor vesicae dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen erklärt sich die Individualität zur Freiheit. - Den Harn nicht halten können!"
Autor: Wolf-Dieter Narr

Quelle: geographische revue, 5. Jahrgang, 2003, Heft 1, S. 39-48